Gritli Letters (Gritli Briefe) 1921

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Januar 1921

1.1.21.

Liebes Gritli, es geht zu wie in einem Shakespearetragödienschluss: als ich von der Nacht mit Louis – bis 5 waren wir wirklich beide auf, nachher schlief Louis und ich arbeitete etwas – als ich nachhause kam, war Mutter eben zu Alsbergs: Tante Lieses Mutter war in Meiningen plötzlich gestorben! Ich hatte am Vormittag, ehe ich nachhause ging, noch ein Gespräch mit Trudchen. Mit Louis war es auch eine gute Nacht. Heut Abend haben wir die Leiche auf den Bahnhof gebracht, ich hätte sprechen sollen, aber wie immer konnte ichs nicht. Sepp Katzenstein sprach dann ein paar Worte.

Edith schreibt mir betrübt über die Leerheit meiner Briefe. Die Jahreswiederkehr macht mich eben stumm.

Ich bin müde von zwei durchwachten Nächten und von dem Grauen vor dem Tod. Der Tod des andern kann einem doch nie vertraut werden; nur wenn man sich selber hineindenkt, geht es. (Im * muss irgendwo das grade Gegenteil davon stehn!).

Dein Franz.

2.1.21.

Liebes Gritli,  heut Abend war der letzte Vortrag, ich wusste ja im voraus, dass es trotz ganz anderem Inhalt wieder eine Stunde werden würde wie die letzte in Frankfurt die du gehört hattest. Deshalb, um ganz unbeengt sprechen zu können, bat ich Onkel Viktor, der heut herkam, nicht zu kommen. Er sagte auch gleich ja. Aber er meinte es nicht ernst und so war er Abends da. Ich war so verzweifelt, weil ich wusste, dass ich dann nicht über die Lippen bringen konnte was ich zu sagen hatte, dass ich ihn bat fortzugehen; er tat es auch, dann hatte ich ein entsetzlich schlechtes Gewissen und merkte nachher im Sprechen doch, dass mein Gefühl mich nicht betrogen hatte: so wie ich sprach hätte ich an ihm vorbei nicht sprechen können. Erst nachher war mir wieder übel vor schlechtem Gewissen, dass ich ihm wehgetan hatte, ich ging mit Mutter noch zu Ehrenbergs, er hatte es nicht so schwer genommen. Aber die ganze Geschichte hat mich doch gelehrt, wie unmöglich auf die Dauer diese öffentlichen Selbstpreisgaben sind. Und dabei giebt es Pfarrer, die jedes Jahr 52 mal predigen, 40 oder 50 Jahre lang! Ich kann mir freilich nicht denken, dass nicht für einen oder den andern der Leute heut eine Epoche in seinem Leben angefangen hätte. —–

Rudi Hallo war vormittags kurz da (seiner Mutter geht es ja recht schlecht); er brachte mir als Antwort auf meinen Brief einen Brief den er an jemand anders geschrieben hatte, ein ganz herrliches Zeugnis für gar nicht mehr Jünger=, sondern ganz und nur Brüderschaft. Nicht meine Worte, aber lauter Worte die ich zu meinen hätte machen können. Ich war sehr froh. Er schreibt ihn mir ab.

Dein Franz.

Ich habe deine Erlaubnis benutzt und eben Mutter von dir erzählt, damit sie doch nach diesen Tagen wieder was zum Freuen hat.

3.1.21.

Liebes Gritli,  also wieder in Frankfurt in der Wohnung. Mein Zimmer sieht mit Teppich u.s.w. schon ganz richtig aus. Ich habe unterwegs noch viel an dem zweiten Gurlittheft gearbeitet.

Ich schrieb dir, dass ich Mutter gestern Abend noch von dir erzählte. Ich fand, dass sie einfach etwas brauchte, was noch als Zukunft vor ihr steht. Ich glaube ja, dass sie nach ihrer überwundenen seelischen Krise nun in einer Gesundheitskrise steht, in der es sich entscheiden wird, ob sie in den nächsten 2 Jahren sterben wird oder 80 Jahre alt werden. Wenn man sie jetzt in eine wirklich gründliche Kur hineintreiben könnte, so wäre das zweite sicher. Dass sie jetzt krank, gefährlich krank ist, das nicht zu sehen, muss man schon Arzt sein.

Onkel Adolf ist ein vollkommener Trottel geworden, der nur noch so viel Verstand hat, seine Kinder taufen zu lassen. Seine Schwestern lässt er untätig krepieren. Tante Rosette hat sich einfach zu Tode gewüstet. Auf all ihre Klagen habe die Ärzte erklärt, sie wäre ganz gesund. Es ist ein Malheur, früher hatte der Mensch einen Arzt, der ihn alle 4 Wochen mal ansah, da war eine Verbindung da zwischen Arzt und Patient. Heute sitzen für jeden zwanzig Spezialisten da, jeder in einer anderen Folterkammer. Und dazwischen steht auf der Strasse der Mensch und krepiert.

Dein Franz.

4.I.21.

Liebes Gritli,  die Einrichtung geht weiter, ich ordne die Bücher, es wird wunderschön. Vom Donnerstag ab werden wir hier essen, morgen kommt das Mädchen.

Heut Abend war ich in der Loge zu meinem Propagandavortrag. Es war persönlich ein grosser Erfolg, sachlich gar keiner. Ich hatte es genannt: das jüdische Bildungsproblem und machte es in Form einer – Autobiographie, von Kind an bis zum Programm dieses Trimesters! Am Schluss mit einer Warnung vor Nr. 14 des Programms!

Leider gehts mit den Einreichungen wieder so schlecht wie voriges Mal, und ich bin nicht sicher, dass es sich nachher doch ebensogut machen wird wie da.

Dein Franz.

5.1.21.

Liebes Gritli,  heut vor einem Jahr war Hans Hess bei mir und ich brachte den Brief an Edith zur Post. Edith selber schwelgt nicht in Erinnerungen und das ist gut; für morgen habe ich ein schönes Stück zur Hauseinrichtung. Dabei fällt mir ein: was du hierher schicken wolltest, ist nicht gekommen; hast du es denn abgeschickt? Und sind die Goethebriefe noch rechtzeitig gekommen?

Wir waren bei Hedi eben. Sie kriegt wieder ein Kind. Wir haben unser Silber geholt; morgen oder übermorgen wirds ernst.

Im Lehrhaus wieder erst 90 Anmeldungen (= 1350 M). Ich gebe aber die Hoffnung nicht auf.

Eugens Brief kam von Kassel nach. Aber (du hast ihn ja gelesen) – ich bin nicht zu bekehren. Für mich hat ja die “Tochter” nie etwas bedeutet. Ich habe dies “Pfand” nie angenommen, habe es nie auf mich bezogen, es war mir immer eine private Auseinandersetzung zwischen Eugen und Rudi oder vielmehr von Eugen zu Rudi. Bei der es gar nicht um dich ging, sondern um ein Gespenst. Ich erkannte dich einfach nicht wieder. Apotheosen sind nichts für mich. Und deshalb bin ich so froh, dass der liebe Gott jetzt mit seinem unnachahmlichen Humor dir das metaphysische Theaterpostament deiner Göttlichkeit, auf das dich Eugen partout stellen wollte, unter den Füssen weggezogen hat und dich auf eine eben auch für Eugen schliesslich nicht widerlegbare Weise wieder ins Menschliche, ins Nurmenschliche, und deswegen aber auch Ganzmenschliche zurückgeführt hat. Auf seine sehr göttliche Weise: indem er dir etwas Menschliches, Nurmenschliches, aber Ganzmenschliches passieren liess. Und weil mir alles an dir immer nur menschlich sehr menschlich geschienen ist und ich dich nur in dieser Nurmenschlichkeit geliebt habe, in deiner Gnadebedürftigkeit, nicht in irgend einer erdogmatisierten Zurrechtendesvaterssitzendheit (oder meinetwegen auch zur Linken), so freue ich mich nun, dass die Gnade gekommen ist und weiss, dass sich da nichts “umzustellen” brauchte in dir, denn  —  Psalm 103, 3 und 4.

Dein Franz.

6.1.21.

Lieber Eugen,  so wenig ich deinen Brief, den ich gestern bekam, annehmen könnte, so ganz nehme ich jedes Wort des Briefs von heute auf und an. Ich hatte ja selber das Wort, das dich aufgetrieben hat, schon mit dem Bewusstsein, dass etwas daran nicht stimmte, dass es eben, so drückte es sich mir aus – ein Selbstmord wäre der keine Sünde wäre. Aber anfühlen tut sichs freilich gleich, und so gebrauchte ich doch das Wort.  Auch die wunde Stelle meines Verhältnisses zu Edith bezeichnest du absolut richtig. Ob es “Stolz” ist, weiss ich nicht, glaube es kaum. Es ist wohl nur die Angst, ins Leere zu reden. Spüren tut sies wohl, aber ihr es sagen – ich fürchte mich vor dem Sagen, und zwar nicht vor den Folgen, sondern grade vor der  —- Folgenlosigkeit!

Zu Trudchen hatte ich am Morgen des 1.Januar ähnlich gesprochen, heut bekam ich von ihr einen Brief (zu Morgensterns Stufen, die sie uns zum 6.I. schickte), worin sie mir ähnlich schrieb wie du. Ich bin etwas in Versuchung euch den Brief mitzuschicken, aber es ist ja unnötig.

Von Gritli kam heute das Geschenk. Liebes, ich danke dir sehr. Aber Programme des Lehrhauses wird es wohl nicht mehr so viele geben, ich werde wohl den Kreis der Dokumente erweitern müssen über den von dir gezogenen Durchmesser hinaus. Es ist übrigens wunderschön und Edith hatte dich sogar im Verdacht, du hättest es selbst gebuchbindert, was ich aber gleich zerstreute.

Die Zahlen sind 150 (=2250 M).

Ich habe schändlichen Ärger. Wenns so weitergeht, werde ich einestags wieder “stiller Gelehrter”; es passt jetzt ohnehin besser zu mir, zu dem “stillen Mann”, der ich nun doch einmal werde.

Dein Franz.

7.1.21.

Liebes Gritli,  die Wohnung wird jeden Tag fertiger, aber fertig nicht vor 14 Tagen; durch das sehr allmähliche Entstehen der Bücherreihen ist selbst mein Zimmer noch etwas chaotisch. Aber wir haben doch heute angefangen, zu essen; das Mädchen ist gekommen, und es gab einen Freitag Abend mit schönen Dehors; meine Bitten für mich und sie laufen freilich auf schmalen Stegen über einem Abgrund von Unglauben (meinem Unglauben). ————-

190 Einzeichnungen (=3500 M)

Ich habe auch Kopfweh, ich hatte einen schlaflosen Morgen vor lauter Geschäftsärger und einen vertelefonierten Vormittag, bis alles wieder stimmte. An die Vorlesungen habe ich noch nicht wieder denken können. Hämisch ist hier wegen der Ak. d. Arb., aber das wisst ihr wohl.

Ich habe in Morgensterns “Stufen” viel gelesen. Zu uns verhält es sich so:

[Zeichnung]              (Zwei Wege die sich ein breites Stück einfach decken und die trotzdem auch in diesem grossen gemeinsamen Stück von uns und von ihm in jedem Punkt in andrer Richtung begangen werden. Aber zum ersten Mal wird mir, an diesem Jünger, der Meister Steiner glaubwürdig, wenn ich ihn auch nicht verstehe.

Dein Franz.

8.1.21.

Liebe,  heut ist mir eingefallen, was ich in der Mappe sammeln kann: Sonderdrucke und Rezensionen. Man hat sie doch nie beisammen, wenn man sie braucht.

Vormittags waren wir bei Nobel, er ist sehr erholt, von der einen Woche draussen in Königstein. Er hatte schön gesprohen. Nachmittags war Ernst Simon bei uns. Und abends waren wir endlich mal im Theater, in Iphigenie auf Tauris von Gluck. Aber ich habe mich sehr gelangweilt obwohl es eine schöne Oper ist und die Aufführung ausgezeichnet war; ich vertrage es aber nicht mehr so lange still zu sitzen und andre Leute singen zu lassen. Es ist gut, dass ich mal eine ästhetische Periode gehabt habe, sodass mir das alles doch nicht entgangen ist; heute verstehe ich kaum, wozu es das geben muss; aber ich habe es ja mal gewusst.

Unsre Wohnung wird sehr hübsch; am Schabbes hatte sie direkt ihren beau jour.

Dein Franz.

9.1.21.

Liebes Gritli,  ich bin schon seit Mittag im Bett, mit einer tüchtigen Magenverstimmung, und habe brav gearbeitet. Vormittags war Nobels letzte Stunde im Lehrhaus, sehr maniergeworden, und doch glaubwürdig. So schlicht heruntergesagt wie lauter Selbstverständlichkeit, das äusserste Gegenteil von allem Kanzelton. Trotzdem Manier, in der Art zu denken. Und trotzdem Glaubwürdigkeit. Wann sind wir jüngeren wirklich glaubwürdig? (für den, der uns nicht glauben will). In Kassel hat neulich meinen letzten Vortrag, den grossen, der Kapellmeister Hallwachs gehört, der Kassler Georgianer, Germane mit Buberscher Judenneigung. Er war ganz entsetzt, in jeder Beziehung. Wäre es nun schlimm gewesen, wenn er nicht entsetzt gewesen wäre? Dürfen wir von Georgianern überhaupt gesehen werden können??

240 Anmeldungen. –

Dein Franz.

[Edith an Gritli:]

d.9.I.21.

Liebes Gritli,

ich kann nichts andres mehr denken; was ich tue – und das ist so einiges – immer sehe ich Dich und freue mich. Was Mitleid ist, wusste ich, aber Mitfreude erlebe ich jetzt richtig zum ersten Mal, und wunderschön ist es. Es ist mir noch so ganz neu, ich kann es mir noch garnicht richtig vorstellen, so wunderbar kommt es mir vor und wie muss dir zu Mute sein! Nur eins tut mir leid, dass Du so weit fort bist, ich möchte Dich gern küssen.

Es wird schön bei uns, wann wirst Du es Dir ansehen? Ich habe noch viel zu tun, aber ich habe jetzt ein Mädchen, da wird es etwas leichter für mich.

Es war schön, wieder mal bei den Eltern zu sein. Meine Schwester ist auch in Hoffnung – ein schönes Wort, finde ich – . Als ich es erfuhr, weinte ich. Es war kein Neid, ich war nur traurig. Aber als Franz mir von Dir sagte am Freitagabend, unserem ersten hier, da jubelte es in mir. Und meine Zuversicht wächst, dass auch mein Hannah – Gebet erfüllt wird.

Ich umarme Dich.

Deine Edith.

10.1.20.[=21.]

Liebes Gritli,  ich werde nun endlich wohnhaft, heut habe ich es recht gespürt. Strauss war zum Kaffe bei mir, Edith musste bald fort, und es gab, wirklich ermöglicht durch die eigene Wohnung, das erste wirkliche Wort zwischen mir und ihm seit ich hier bin. Ich habe ihm alles gesagt, zuletzt so namentlich auf Alice, dass ich nicht anders konnte und ihm, auch summarisch in wenig Worten, (schon damit er nicht das Gefühl hätte, ich spräche als beatus possidens zu ihm) von mir und Edith zu sprechen. Er sagte, er habe es doch natürlich gewusst. Aber es war uns durch die liebevollste Offenheit beiden endlich einmal wohl miteinander.

Auch sonst wars ein voller Tag mit allerlei Auflösungen (auch des Ärgers, nach dem du fragst). Mittags hatten wir den Rothschildschen “Neffen”, den Erich Marx, zu Gast. Ich habe dir wohl mal von ihm geschrieben: der furchtbar dicke Mensch, den ich deswegen erst so hasste und der sich als ein ganz reines Gold entpuppte.

Und dann stand dein Brief über dem Tag. Gar nicht so sehr was drin stand, einfach ein Brief von dir.

Ich denke, du wirst doch bald einmal kommen müssen, wenn gestern was mit Eugen hier geschehen ist, (aus der Zeitung ging nichst hervor). Du wirst auch sicher bald können, diese Zustände gehen selten tief in das zweite Drittel hinein. Wir über Sonntag nach Säckingen? Dies nächste Mal sind wir noch zu sehr im Einrichten, das nächste Mal hat Edith Geburtstag, danach, um den 30., ginge es, aber bist du da noch da? aber du gehst wohl nun gar nicht mehr nach Stuttgart? das beste wäre es eigentlich.

Ich habe Troilus und Cressida gestern im Bett angefangen, 2 Akte, aber es ist nichts für mich.

300 Anmeldungen. Aber es hat mich unverhältnismässige Mühe gekostet, ohne die wärens keine 100. Auf die Dauer geht das nicht so. Auch die Verkoppelung vom Wirklichen mit dem ganz Durchschnittlich = Schlechten ist auf die Dauer unmöglich, “jedem etwas” ist ein guter Grundsatz für den “Theaterdirektor”, aber man verdirbt sein Publikum, indem man ihm das Gute und Schlechte auf denselben Schüsseln reicht.

Dein Franz.

  1. und 12.1.21.

Liebes Gritli,  es ist ganz spät geworden. Die erste Vorlesung heut war zu gut vorbereitet, sodass ich unfrei sprach; inhaltlich wars sehr gut. Aber das eigentliche heut war ein Brief von Rudi, den ich  euch schicken soll. Für mich freilich nicht, was er sein wollte, sondern doch nur eine Bestätigung des Todesurteils; denn was heisst hier “Judewerden” (und “Christwerden”) für unssonst anders. Wir leben doch nicht mehr vor 5 Jahren. Damals wäre es Leben gewesen. Aber es ist genug davon geredet. Es geht alles seinen Gang, und wenn überall das Sterben sich so greifbar in neues Leben verwandelte wie nun bei dir, so wollten wir alle zufrieden sein. Nur vom Tode aus dass wirkliche gelebte Leben, bloss weil es vorbei ist, zu lästern – das bringe ich nicht fertig und will es nie. Die “geschwätzige” Zeit – o nein, der Stumme darf nicht den der spricht einen Schwätzer nenn, das ist zu durchsichtig.

Gute Nacht.              Dein Franz.

12.1.20.[=21.]

Ist Eugen von Kauffmann wegen der Kritik des * angefragt??

Schick mir den Brief von Rudi immerhin zurück. Ich sah ihn eben nochmal durch. Es graut mich doch beim Lesen. Es ist auch nur noch Stimme von jenseits des Grabes. Mit dieser Sorte Christentum setzten sich also früher die Leute für den Rest ihres Lebens in ein Kloster. Das kann man eigentlich ganz gut verstehen.

12.1.21.

Liebes Gritli.  Ich hätte dir also Rudis Brief gar nicht zu schicken brauchen, da er dir dieselben schrecklichen Sachen auch direkt geschrieben hat. Und ich habe nun “Jude zu werden”, – schon als Folie für die neue Christenliebe. Das Leben ist tot, hoch die Gespenster!

Die beiden hebräischen Kurse haben sehr gut begonnen. Im Anfängerkurs habe ich Richard Koch und Frau und Edingers. Mit den “Fortgeschrittenen” heute las ich 2 M 12, 11-13. Die erste Stunde gestern war schlecht, weil ich zu viel (und zu gut) aufgeschrieben hatte – und weil zu wenig Menschen da waren, keine 50.

Was ist denn mit der Arb.akad.? “Vorläufig nichts” – schreibst du? Edinger möchte Eugen gern kennen lernen (er “kennt” ihn von Norderney bei beiderseitiger 14 = jährigkeit) und er möchte auch etwas mit der Ak. zu tun haben. – Ist denn für Eugens Stelle “vorläufig” ein andrer vorgesehen? oder die ganze Stelle vorläufig noch nicht geschaffen? in der Zeitung stand doch von einem “Leiter”.

Straussens Rede damals war mündlich herrlich. Im (verkürzten) Stenogramm ist sie verwelkt. Ich habe die ersten Seiten seines Buchs (mehr ist noch nicht fertig) gelesen, das ist wolkig, aber gross.

Ich hatte ein paar gute Worte von dem armen Rudi Hallo. Es geht doch seiner Mutter sehr schlecht.

Hans hat sich beklagt, ich hätte ihm auf seinen letzten Brief so nichtssagend geantwortet; er hatte offenbar nachträglich geglaubt, es wäre ein antwortfordernder Brief gewesen, es war aber nur ein Nachrichtenbrief.

Ich habe eine schwere Nacht mit Edith gehabt, weil ich ihr gestern Mittag Rudis Brief und meine Antwort zu lesen gegeben hatte. Ich weiss nicht, ob es zum Guten führt. Unser Nebeneinanderleben wird ja immer besser, aber wieviel davon auch dem Miteinander zugute kommt, das wage ich nicht zu messen.

Dein dein Franz.

13.1.21.

Liebes Gritli,  heut die Stunde war viel besser, sie wäre gut geworden, aber ich wurde in der ersten Hälfte so furchtbar gestört, weil Mayer da war und statt zuzuhören die Teilnehmerliste las. Du kannst dir denken, wie mich das bei meiner Art zu sprechen – nicht aus dem Konzept bringt, sondern ins Konzept hinein zwingt. Nachher brachte ich eine Säule zwischen mich und ihn und dann hörte er zu, aber zur richtigen Sprechfreude kam ich nicht.

Die Hebräer sind herrlich diesmal, ich glaube dies Dutzend bring ich durch. Koch ist so jungenshaft begeistert. Heut waren sie gar nicht nachhausezukriegen, sie lasen einfach alle durcheinander weiter!

Ich schicke dir das Manuskript von der Einleitungsstunde. Von Ernst Simon schicke ich dir morgen einen schönen älteren Ausatz aus dem du ihn kennen lernst.

Wir wollen vielleicht am 28. kommen und am 1.II., wenn es mit den Zügen geht, zurückfahren. Verlass dich aber nicht zu fest darauf, es ist nur eine vage Idee, vorläufig.

Edinger wusste, dass im Ministerium nur von Eugen für Frankfurt die Rede war. Was mag nun geschehen sein? Fehlt die “zweite Taufe” Radbruchs?

Ich lasse Edith – nach Eugens Diagnose – den dritten Teil * binden, in ein wunderbares gelb = changeant Velour = Chiffon. Und den Tischdank in hell Olivgrün. Der * soll übrigens bei Kauffmann schon liegen, broschürt. Ich habe ihn noch nicht gesehen.

Bitte schick mir das Manuskript wieder, ich will es auch Mutter schicken; ich habe heut so einen famosen Brief von ihr. Hedi (die auch im 3. Monat ist) fährt auf 3 Wochen oder länger zu ihr.

Gute Nacht –

Dein Franz.

[14.? 1.21]

Liebes Gritli, nur ein paar Worte (eigentlich will ich ja am Schabbes auch nicht mehr schreiben; ich habe gemerkt dass ist auch nötig – nämlich kein Mensch resprektiert den “Sabbat”, aber jeder respektiert wenn einer nicht telefoniert nicht schreibt u.s.w. und so ist “Nichttelefonieren” “Nichtschreiben” u.s.w. die einzige Möglichkeit wie man sich seinen Sabbat gegen die Leute und ihre geschäftlichen Ansprüche schützen kann. Sie achten eben nur den Paragraphen, und so muss man ihnen Paragraphen entgegenstellen.

Ich war bei Kauffmann, da liegt schon der *. Ich habe drin geblättert, da hat er mir doch imponiert. Ob Eugen schon die Anfrage gekriegt hat? Sonst würde ich nochmal Dampf dahinter machen.

Ich habe schon die Dienstagstunde vorbereitet; sie wird glaube ich sehr schön. Ich wundre mich selbst, wie ohne Selbstplagiate ich das machen kann.

Aber freilich – für wen mache ichs? heut Abend hatten wir eine Hörerin zu Gast, ein gutes enflammables Mädchen, – aber im Grunde dient ihr jeder, der ihr ein paar grobe handgreifliche “Ideen” giebt, besser als ich.

Dies langsame Fortschreiten der Einrichtung von Tag zu Tag hat etwas sehr Lustiges. Aber ich bezweifle dass wir zum 23ten wirklich fertig sind.

Dein Franz.

15.1.21.

Liebes Gritli,  nachmittags war Ernst Simon da und Ruth Nobel mit ihm. Abends waren wir im “Wintermärchen”, es war nur eine mittelmässige Aufführung, übrigens in dem Theater in dem wir damals den G.[?] Kaiser sahen. Aber die tragische erste Hälfte ist ja nicht umzubringen, die zweite schon eher.

Die Wohnung ist noch ein täglich neues Glück. Wie hab ich nur das Leben dieser 5 Monate ausgehalten? Jetzt sind auch die Sachen aus Berlin da.

Mittwoch halte ich mein philosophisches Studentenseminar, diesmal über etwas von Fichte. Darauf muss ich mich richtig vorbereiten!

Dein Franz.

16.1.21.

Liebes Gritli,  wir sind den ganzen Tag in der Wohnung geblieben, ich habe gearbeitet – was ja nach diesen 5 Monaten ein ganz neuer Genuss ist -, und Bücher eingeräumt; (2 Wände sind jetzt fast fertig, nur die dritte sieht noch toll aus).

Also nun wirds doch mit Frankfurt? Oder geht es auf Berlin? ich bin ja gar nicht im Bilde über dies letzte Hin und Her. Hoffentlich werde ich an die Bahn können, wenn Eugen durchfährt. Kann er nicht bei uns übernachten?

Vom “Kloster” schrieb ich doch neulich auch? an Rudi? oder an dich? ich weiss nicht. Du schreibst ja nun auch das Gleiche, – von dem Akt um deswillen das Stück geschrieben ist. Denkst du noch an die Bilder …[Zeichnung] die wir uns vor ein paar Monaten schrieben. Das war ja auch das.

Mit dem “durch hindurch lieben” – das ist mir ja kaum bei Rudi und dir glaublich – wenigstens weiss ich nicht warum man das noch Liebe nennt. Auf mich habe ich es nicht bezogen. Hinter mir steht das Nichts, da ist nichts “hindurch” zu lieben. Das bischen Lebens= und Liebeskraft was noch da ist wird dir wohl gehören, – aber es ist nicht mehr viel. Dagegen hilft alles Wehren nichts. Aber auch das Reden davon ist unnötig. Aber das Hallelujasingen, weil jetzt endlich das Schweigen des Todes das “geschwätzige” Leben ablöst, – da mach ich nicht mit. Ich will das Vergangene ehren, und das Gegenwärtige bei seinem rechten Namen nennen.

Du kommst hier einfach in ein Bett. Das Schlafsofa probiere ich dann selber.

An euer 1916 habe ich wohl gedacht; aber es hat nichts vergleichbares damit.

Strauss – du wirst ihn sicher sehen. Er kann dir ja nicht fremder sein, als er es auch mir ist.

Auch die Notwendigkeit meines Hierseins ist mir doch schon jetzt zweifelhaft. Ich würde, wenn ich irgendwo anders hin könnte, hier schmerzlos weggehn. Die Leute brauchen mich nicht, – nicht mich. Was sie von mir wollen, geben ihnen ihre Pfaffen viel besser. Was ich gebe, merken sie überhaupt nicht. Ausser der technischen Glanzleistung meines “Hebräisch in 17 Stunden” ist alles, was ich hier tue, in den Wind gestreut. Von dem Publikum des vorigen Lehrgangs, das du sahst, ist fast niemand wieder gekommen!!

Dein Franz.

17.1.21.

Liebes Gritli,  ich räume Bücher ein, es ist sogut als wenn ich einen Katalog machte, ich weiss ja von so vielem gar nicht dass ich es habe. Dazwischen lese ich Fichte für meine Studenten, – und bin erstaunt was für gute Sachen eigentlich auch bei so einem stehen. Ich werde gar nicht so richtig schimpfen können, wie ichs angesagt hatte.

Es war eine schöne Bibelstunde. Edith war nicht mit, – u. – ich merkte als es eintrat dass ich mir diesmal eingeredet hatte,  ——

Ob wir am 28. kommen? ich glaube es eigentlich nicht; erst in der Woche nach dem 23. wird Ediths Zimmer fertig. Im Februar wohnen wir dann richtig. – Von Eugen noch keine Nachricht.

Dein Franz.

18.1.21.

Liebes Gritli,  die Vorlesung war z.T. schlecht, im ganzen doch ein so richtiger “F.R.”, dass es mir sehr recht war, dass Nobel sie gehört hat. Es scheint ihm wenig gefallen zu haben, aber das schadet nichts, da wenigstens ich selber es war, was ihm dann missfallen hat und nicht irgend ein Zufallsprodukt. Übrigens war es auch formell gut, weil teilweis in Gesprächsform. Morgen ist nun die erste Übung und die erste Aussprache.

Das Manuskript kannst du ruhig für Eugen behalten, es ist ja aber nichts Neues für ihn. Vergiss doch nicht: hat Kauffmann bei ihm wegen Rezension des * anfragen lassen? ich muss es wissen, weil ich eventuell sonst nochmal mahnen will.

Am Donnerstag kommt Ediths Freundin Lilli, und wird   Gott behüte   ein paar Tage bei uns wohnen.

Dein Franz.

19.1.21.

Liebes Gritli,  Eugen ist da, ich geriet – aufgereizt durch seine Zufriedenheit – in ein grosses Lamento über den zu frühen Niedergang den ich hier mit meiner Sache erlebe. Er wird dir ja davon erzählen.

Heut morgen die Studenten waren zufrieden, ich sprach eben ihre Sprache. Aber jeder verlangt, dass ich seine Sprache spreche, es giebt keine Sprache für alle – weil sie ja die allgemeine Sprache nicht hören wollen. Man ist eben nur Arzt, und der Arzt muss auch jeden Kranken für sich behandeln. Die Prophylaxe, die freilich für alle gleich sein könnte, wäre ja nur bei Gesunden am Platz, also bei noch nicht Kranken, bei Jungen. Das heisst praktisch: entweder Kinderlehrer – oder auf jede Wirkung ausser der in 50 Jahren verzichten. Und die in 50 Jahren ist mir, weil blosse [doppelt unterstr.] Wirkung -, natürlich unsympatisch – man will doch selber noch etwas Gegenwirkung spüren, wenn man wirkt.

Es ist spät. Eugen war etwas vor den Kopf gestossen, er kam so vergnügt an – und er hatte ja das gute Recht dazu. Aber mir war es, durch die vielen Parallelen zwischen seiner und meiner Anstellungsgeschichte etwas wie an der Stelle im olympischen Frühling die ich damals in Kassel Februar 1918 vorlas, – weisst du noch?

Dein Franz.

20.1.21.

Liebes Gritli,  es wurde noch ein ganz schöner Tag. Ich war ja des Morgens sehr deprimiert, dass Eugen wegfuhr, obwohl ichs nicht sein wollte. Aber die Vorlesung ging besser als ich vorher dachte und nachher sprach mich Elkan, der Bildhauer an, der dagewesen war, er möchte mich heut Abend mal sprechen; ich war mit Edith zum Essen da und es gab ein wirklich famoses Gespräch, er wollte einen Rat oder eine Bestätigung seines Plans für ein jüdisches Gefallenendenkmal, das ihm die Gemeinde Dortmund in Auftrag geben wollte. Er ist ja nur zweiten Ranges, aber ein netter, aufgefalteter Mensch und so war es ein wunderhübscher Abend.

Leider zieht nun das Wohnungsgewitter herauf. Wahrscheinlich wird man mir zumuten, 10000 M zu zahlen für die Gnade in Frankfurt wohnen zu dürfen. Ist das nicht eine grosse Blamage? Morgen werde ich näheres hören. Aber die Hoffnung auf Ruhe zum Arbeiten ist nun wieder hin; einige Wochen werde ich nun wieder mit Laufen und Gesuche schreiben zubringen. Wäre es nur nicht gar so unmöglich, in Kassel zu sein. In Frankfurt zu wohnen habe ich ja schon heute keinen Grund mehr, den einzigen ausgenommen dass es nicht Kassel ist.

Dein Franz.

[21.? 1.21]

Liebes Gritli,  Eugen ist meine Unkerei nun doch auf die Nerven gegangen. Er schafft es sich – “oh Eugen! ” – vom Leibe, indem er es in ziemlich abenteuerlicher Weise auf den Gegensatz Jud. = Chr. ablädt. Damit hat es natürlich nicht das mindeste zu tun, sondern bloss mit der Tatsache, dass ich amEnde er am Anfang seines ersten Jahres steht. Vor einem Jahr war ich (in kleinerem Massstab, wie meine ganze Sache) ebenso hoffnungssicher wie er, – und ja unter lächerlich gleichen Auspizien wie jetzt er. Das einzige Unterscheidende, dass er den Staat im Rücken als Stüze hat, ich nicht, ist zwar ein grosser sachlicher Unterschied, aber für sein eigenes Gefühl bedeutet das gar nichts. Mein persönliches Fiasko empfinde ich schon jetzt, obwohl es vorläufig noch nicht die mindesten sachlichen Folgen für meine Position hat; ich habe noch genügend “Rückhalt”, aber das “Werk meiner Hände” zerrinnt mir. Und wir lebennicht [doppelt unterstr.] von “Rückhalt”, sondern vom Gefördertwerden des Werks unsrer Hände.

Trotzdem wars Unrecht, dass ichs nicht gehen liess, aber ich war zu voll von mir selber, habe doch übrigens nur diesen schliesslich doch nur sehr nebensächlichen Teil meiner Schmerzen ausgeschüttet. Eugen fragte einmal Edith, was sie dazu sagte. Es ist doch ein Glück, dass ich über etwas zu lamentieren habe, was Edith verstehen kann. Vielleicht empfinde ich es sogar deshalb stärker als ich sonst würde. Denn was ist im Grunde an Erfolg oder Missrfolg gelegen. Aber es ist doch meine gemeinsame Platform mit ihr. Das andre kann ich sagen, kann sie traurig damit machen, aber verstehn kann sie es doch nicht; sie ist einfach zu jung dazu.

Das Zusammensein in Frankfurt erschreckt mich nicht mehr. Merkst du denn nicht dass wir darüber hinaus sind? dass wir schon in Einer Stadt leben?! Ich spüre es täglich.

Dein Franz.

Tante Julies Bild sieht herrlich aus.

22.1.21.

Liebes Gritli,  Eugen schreibt mir einen Brief worin er zu viel und  zu wenig fordert. Zu wenig, denn was er fordert, dass ich für ihn da sein soll versteht sich doch von selbst. Zu viel, denn ich kann für ihn nur soviel da sein, wie ich ebenüberhaupt noch da bin. Und das ist freilich weniger als er brauchen wird. Um diese Einsamkeit wird er sowenig herumkommen wie einer von uns. Die Zeit des Sich wirklich helfen könnens ist eben wohl vorbei. Jeder muss eben sehen, wie er allein fertig wird. Es handelt sich ja wirklich nur noch ums “Fertig“werden.

Den Essay über Student und Philosophie kann ich (selbst schlecht und recht) doch erst schreiben, wenn ich ein bischen Erfahrung gemacht habe. Also nicht vor März.

Des “Juden” wegen braucht sich Eugen wirklich nicht aufzuregen. Das spielt doch, trotz Rudis u.s.w. Dekreten, keine grosse Rolle mehr bei mir. Im Grunde zähle ich meinen Frankfurter Aufenthalt nicht mehr länger wie diesen Sommer höchstens. Was dann folgt weiss ich nicht. Jedenfalls wird es mich weder äusserlich noch innerlich hindern, Eugen irgendwas zu leisten, was – er selber haben will (und was ich selber kann, denn z.B. zu christlichen Arbeitern könnte ich nicht reden, weil ich eben ihre Sprache nicht spreche, im Krieg war es anders  da gab der Krieg eine gemeinsame Sprache). Also jedenfalls an dem “hinter den Kulissen” wird mich das Jüdische wirklich nicht hindern, bloss das “Nichtvorhandensein”.

Wir waren bei Eduards heut Abend. Es war nett, und durch Alice dochunerträglich.

Nachmittags waren wieder Ernst Simon und Ruth Nobel da.

Morgen ist Ediths Geburtstag. Ich stehe äusserlich mit fast so leeren Händen da wie innerlich.

Dein Franz.`

23.1.21.

Liebes Gritli,  Eugen nimmt ja alles viel zu hoch. Ich habe weiter nichts gesehen als die ganz einfache, gar nicht “konstruktions”fähige aber um so genauere Gleichheit zwischen seiner jetzigen, meiner damaligen Berufung. Meine “Sitzung” war glaube ich am 23.IV. Eugen nannte es die Eroberung Frankfurts. Jetzt kam er von der Eroberung Deutschlands. Ich vergesse nicht, dass alles bei ihm andre Dimensionen hat als bei mir. Aber kleines mit grossem verglichen ist die Gleichheit nun mal da und ich habe ihm vorweg die Erfahrung gemacht, dass eine Anstellung, bei der wir selbst angestellt sind und nicht irgend eine Leistung von uns, eine Unmöglichkeit ist. Deshalb muss er durchausanfangen – das Weitere wird sich schon ergeben; irgendwas wird mit mir nach diesem Sommer ja auch werden, ob grade in Frankfurt oder sonst wo, weiss ich nicht. Ich bereue ja nicht, dass ich angefangen habe. Ich habe ja auch (bei mir) gleich auf Enttäuschung gerechnet, nur nicht so rasch und so gründlich.

Biographische Gleichungen wollte ich gar nicht aufstellen. Ich verglich (und vergleiche) nur das Technische: Anstellung eines Menschen wegen seiner Menschlichkeit (Interparteilichkeit) an einer Stelle, wo schliesslich als Kunden lauter Leute hinkommen, die nur Unmenschliches haben wollen und von allen andern Seiten darauf gedrängt und dazu erzogen sind, Unmenschliches zu verlangen.

Ich bin zu realistisch, um über solche sichtbaren Ähnlichkeiten zugunsten irgendwelcher biographischer Konstruktionen hinwegsehn zu können. Deshalb habe ich es nicht bei mir behalten können. Eugen war eben hier ganz besonders auf sich selber konzentriert – was ja sehr verständlich ist, nach den Berliner Tagen -, die komisch einseitige Art, wie er an der Bahn mir sein Bleiben zusagen wollte für den Fall, dass ich etwas von ihm brauchte (hie Arzt hie Patient) war ja bezeichnend dafür.

Er darf doch nicht vergessen, dass mir diese ganzen Berufsenttäuschungen doch herzlich nebensächlich sind, ja dass sie mir im Grunde sogar willkommen sind, weil ich sie wenigstens Edith mitteilen kann. Grade weil sie eben nur das Werk meiner Hände betreffen und nicht mich selbst. Ein grosser Berufserfolg wäre mir noch viel peinlicher, denn dann hätte ich überhaupt nichts mehr mit Edith gemein; ich könnte ihr dann gar nicht mehr begreiflich machen, wie mir zumute ist. Es ist also schon besser so, dass nicht bloss ich, sondern auch das Werk meiner Hände kaputt geht.

Wie sonderbar, dass Eugen erst heute merkt, dass ich nicht gut zu Edith bin. Ich bin es noch nie gewesen. Tage wie heute sind furchtbar für sie wie für mich.

Liturgiereformen? u.s.w.u.s.w. Ich muss doch die Zeit (und meine Gedanken) irgendwie totschlagen. Wichtig ist mir das alles nicht mehr. Aber soll ich überhaupt kein Wort mehr mit Edith zu sprechen haben? Über diese Dinge kann ich mit ihr sprechen. Und es macht uns sogar einen gewissen Spass. Ich bin freilich weit weg davon.

Also jedenfalls: Eugens Existenzmöglichkeit in Frankfurt bin nicht ich. Denn ich weiss gar nicht, ob ich noch so lange in Frankfurt existiere. Eugens Existenzmöglichkeit ist zunächst er selbst, und wenn dies Kapital aufgezehrt ist, dann der preussische Staat (und “die Gewerkschaften” und “die Stadt Frankfurt”). Eugen weiss noch nicht wie starr, dumm, fett und langweilig dies “ganze, ungeteilt und unumschränkt herrschende Leben” ist dem wir nun verfallen sind. Sowie er einmal merkt, dass jeder andre das was er macht besser machen würde (mehr im Sinne der Auftraggeber und der Empfänger), dann wird ers auch wissen.

Dein Franz.

24.1.21.

Liebes Gritli,  Eugen nimmt seinen Einsatz einen Ton zu hoch. Der Vergleich ist mir gar nicht so wichtig, – weil mir die ganze Sache nicht so wichtig ist. Es waren äusserlich so überraschene Ähnlichkeiten – Eugens Berliner Sitzung so genau wie meine Frankfurter vorigen April – dass mir der Vergleich nahe lag. An sich kann ja trotzdem alles bei ihm anders gehen. Der wirkliche Unterschied, der der Dimension, wird sich da vielleicht zu seinen Gunsten geltend machen. Im übrigen war er schon voriges Jahr über mein Sitzunglein so ausser sich vor Entzücken (“Eroberung Frankfurts”), dass michs nicht wundert, dass ihn die Eroberung Preussens = Deuschlands = der Welt ganz aus dem Häuschen gebracht hat. Das schadet nichts. – Meine “Hülfe” hat er, solange ich eben selber hier bin. Weil das ein unsicherer Faktor ist (mein Hiersein), so soll er auch in Gedanken lieber nichts darauf bauen. Über seine Zeitrechnung mit Jahrzehnten kann ich nur lachen. Ein solches Vieh ist er nicht, dass ihn eine Institution so lange ertrüge. Die Arbeiterakademie mag länger als 2 oder 3 Jahre bestehen, aber nicht mit ihman der Spitze. Aber auf so lange hinaus brauchen wir gar nicht zu sorgen.

Viel 1000 mal leibhaftiger als alle Akademien Lehrhäuser etc. ist mir das, was Eugen also erst jetzt entdeckt hat (obwohl ich ihm seit einem Jahr nichts andres schreibe): dass ich schlecht zu Edith bin. Erfolge und Misserfolge haben dagegegen wirklich wenig zu bedeuten. Er hätte nicht so unmenschlich rasch davon gehen dürfen und noch verlangen, ich sollte ihm erklären: ich brauchte ihn. Wenn man das erklären muss, braucht man einen sicher nicht mehr, oder wenigstens: dann kann man ihn nicht gebrauchen.

Ich möchte etwas für sie tun. Und da weiss ich nur das eine: sie hat auf der Welt nur zwei Menschen, mit denen sie sich aussprechen kann, ausser mit mir (und ich bin als Selbstbeteiligter nicht weise genug, sie braucht aber Weisheit): das seid ihr. Deshalb möchte ich, dass sie ein paar Tage zu euch fährt. Ohnemich. Mit mir hat gar keinen Wert. Das müsst ihr verstehen. (Das gäbe Krampf und Ansichhalten, also grade nicht was wir brauchen). Ich selber fahre während der Tage zu Hans, damit wir die Bude zumachen können. (Denn wenn das Mädchen allein bleibt – sie fährt so auch nachhause -, so macht sie die Wirtschaft wieder “trefe”). Ich will auch mal wieder was lernen.

Ich hatte den Gedanken. Vielleicht geht es schon dieses Week = End. Sonst nächstes.

Es war gestern ein sehr schwerer Tag —-

Das herrliche Stück von Koch soll Eugen erinnern, dass er für seine Biologie etwas viel Besseres hier hat als Strauss, nämlich Koch.

Strauss war eben ein paar schöne Stunden bei uns.

Ich lese eben den Brief nochmal, den ich gestern Vormittag gleich nach Empfang eures Eilbriefs schrieb und dann nicht abschickte, weil er so ganz aus dem ungelösten Krampf geschrieben war. Ich kann ihn ja ruhig beilegen. Es ist wie in allem Krampf ein Stück Unwahrheit. Vor allem ist eigentlich nicht wahr, dass ich wirklich über Frankfurt hinaussehe. Jenseits läge nur  – die Habilitation, also etwas Unmögliche. Ich bin also gebundener, als ich mir selbst einreden möchte. Und unwahr ist auch die Verzweiflung an meiner Ehe. Es bindet uns aneinander freilich immer noch nichts andres als – eben die Verzweiflung. Alles andre ist noch unwirklich. Aber die Verzweiflung darüber – die ist uns wirklich gemein. Wir sind nie so verheiratet als in den Augenblicken wo wir merken, dass wir es nicht sind. In solchen Augenblicken hänge ich an ihrem Leben.

Euer Franz.

25.1.21.

Liebes Gritli,  es ist sehr spät, ich war vom Lehrhaus aus noch in der Loge. Es war eine Subskription auf den * da, 25 sind darauf hereingefallen. Mit Eduard ists jetzt immer nett, – dies Nähersein ist wohl auch kein Zufall, vielleicht lasse ich mir einfach mit weniger genügen.

Dass noch etwas geschieht – warum nicht? Vielleicht sogar sehr “viel”. Aber es könnte nun alles auch nicht geschehen. Ich erzähle den Leuten, wenn ich ihnen, wie heut Nachmittag, vom “Anfang” erzähle, ein Märchen, bei dem ich selber nicht mehr dabei bin. Es wird schon wahr sein. Aber für mich ists ein Märchen. Neues Leben sprosst eben nur aus den Ruinen. Deshalb müssen wir “alle ruiniert werden”, eben wirklich zu Ruinen.

Wahrscheinlich wird es doch nun also dies Week = End werden. Nichtwahr, ihr sorgt dafür, dass nicht “H.U.” gleichzeitig mit Edith da ist; für ihn ists doch ein Katzensprung, für Edith immerhin eine weite Reise. Ich will ganz gern ein paar Tage zu Hans.

Sag Eugen, dass ich Schleich lese (Das Ich und die Dämonien). Und dass ich ihn wegen Edinger bedaure, dass aber Edinger noch “der beste” ist, von dieser Art. Und diese Art füllt die Welt. Die anderen sind stumm. Er soll aber an Koch denken (er braucht nichts zu tun, es kommt schon von selbst).

Dein Franz.

26.1.21.

Liebes Gritli,  der Mittwoch ist immer ein besonders arbeitsamer Tag, Vormittags hatte ich die Studenten, es war wieder sehr nett. Aber für Eugens Gedanken “…. und Philosophie” habe ich jetzt ein viel besseres Material: er soll sich mal den beiliegenden Prospekt ansehn, ob das nicht genau das ist, was er braucht.

Die fortgeschrittenen Hebräer haben heute die 10 Gebote gelesen; die beiden für die ich die volle Verantwortung trage, Frau Warenbrunn [Warmbrunn?] und Frau Auerbach, sind mindestens so weit wie irgend eine der andern, die schon jahrelang gelernt haben.

Das Mädchen wird in unsrer Abwesenheit hier sein, sie wollte nicht nachhause; es ist Edith sehr unangenehm, weil man ja nicht wissen kann, ob sie da das Geschirr auseinanderhält.

Ernst Simon blieb mittags zum Essen, er ist wirklich was ganz Prachtvolles.

Dein Franz.

29.1.21.

Liebes Gritli,  Hans und Else sind eingeladen, so habe ich einen Abend für mich gehabt und gelesen, gelesen. Ich kann ja jetzt wieder mit Leidenschaft lesen – fast wie als kleiner Junge ehe ich zum Leben aufwachte (ich habe auch, wie damals, das Gefühl alles in acht zu behalten, was ich lese). – Else hat grade wieder eine böse Zeit. Hansenes Vorlesungen – ich mag es wohl mit allen etwas ungünstig getroffen haben, ganz gut war nichts, am wenigsten das Hauptkolleg, das ich früher so bewunderte; im Gegenteil es war alles ein bischen unwirklich, unerfahren gesagt. (Er sprach von Glaube Liebe Hoffnung), es war als ob er zitierte oder nachspräche. Er muss sicher heraus aus dieser Luftleere hier. Denn das ists ja schliesslich, wenn ihn ganze 3 Männekens noch hören; da fehlt einfach der nötige Widerstand. Persönlich ist er übrigens grade besonders reizend, so klar und heiter.

Edith wird sich sicher wohlfühlen bei euch. Es war mir ja an dem Sonntagabend als der einzige Ort wo sie sich einmal ein bischen erleichtern könnte eingefallen.

Wir haben einen Klavierspieler gehört heut Abend. Es war wohl schön, aber für mich ist ja Musik jetzt höchstens Hintergrund für Gedanken, wenn sie mir nicht, wie meist einfach unerträglich ist. Und Gedanken haben wiederum ist mir jetzt kein Vergnügen. Wohl deshalb macht mir das Lesen so Spass. Heut las ich Bernoullis[?] Nietzsche = Overbeck, Öser = Schlatter, und die herrlichen Mereschkowski = Essays im “Gang nach Emmaus” (so schreibt doch keiner von uns, was wären wir, wenn wir Russen wären statt Deutsche!)  Grüss Edith.

Dein Franz.

31.1.21.

Liebes Gritli,  ich bin auf der Rückreise nach Frankfurt. Gestern vormittag waren wir mit Weizsäckers am Neckar herunter, nachmittags war ich bei ihnen. Sie ist eine ganz prachtvolle Frau, er kann sich wirklich gratulieren. Beim Thee lernte ich auch den alten Curtius kennen, der hat mir aber gründlich missfallen. Abends war ich mit Hans zu einer Volkskirchen = Werbeversammlung in Seckenheim, einem kleinen Ort bei Mannheim. Da hat er, weniger im Referat als nachher in der Diskussion, so vollendet schön gesprochen wie ichs diesmal sonst nicht von ihm gehört hatte. Es lag allerdings daran, dass er den Diskussionsredner, den ich böserer Psychologe gleich als das verlogenen Maul erkannte, als das er uns nachher von einem Kenner geschildert wurde, ganz ernst genommen hatte und ihn wirklich liebte. Nachher wurden wir in einem Lastwägelchen über die kalte sternklare Ebene nach Friedrichsfeld expediert und fuhren zurück.

Heut hat er gearbeitet, ich wie überhaupt in diesen Tagen, gelesen. Ich glaube, es wird jetzt eine lange Lesezeit für mich beginnen, wie ich überhaupt das Gefühl habe wieder in mein Ich, wie es vor dem 16.VI.1900 war, zurückzutreten. Damals war ich vom Kinderschlaf aufgewacht, mit dem Wagnerschen Tristan, und habe von da ab mindestens 5 Jahre kein Buch von über Dramen = Länge mehr gelesen.

Dein Brief – du musst immer erst sehen, um zu glauben. Es war doch nur genau das, was ich dir grade in der letzten Zeit immer wieder geschrieben hatte. Dass dies Leben für Edith eine Hölle ist. Ich hatte nur die Möglichkeit, dassich mich irrte und dass mit ein paar Tropfen “Weisheit” vielleicht alles ein andres Gesicht hätte, nicht ausschliessen [sic], obwohl ich selber wahrhaftig nicht daran glaubte. Da du mir bestätigst, dass ich nicht übertrieben habe, so ist eben alles hoffnungslos. Denn dein Rezept ist natürlich unanwendbar. Wie soll aus meiner Ausgelöschtheit noch Liebe kommen. Mit mir ist es zu Ende. Man kann auch sagen: Ich bin ein Mann geworden. Oder “ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft”. Es kommt auf eins heraus.

Dein Franz.

Februar 1921

  1. und 3.2.21.

Liebes Gritli,  ich bin schon wieder im Betrieb drin. Heut Abend war eine recht interessante Gesellschaft bei mässig interessanten Leuten, lauter Ärzte, der wertvollste ein Dr Riese, alle in einer gewissen Kochnähe, Koch wird mir durch diese andern allmählich immer sichtbarer (obwohl das Relief, das ich selber von ihm sehe, mir doch das wichtigste bleibt).

Hat Eugen den * gekriegt? (Ich ja noch nicht.) Weizsäcker wird ihn für den Logos besprechen. Kann Eugen mir ein korrigiertes Exemplar der Wegbereiter schicken; das gäbe ich dann Kaufmann zum Abschreiben.

Es ist eins in der Nacht; ich bin auch körperlich müde.

Dein Franz.

3.2.21.

Den Brief von Rudi hat Eugen mir zu schicken vergessen. Oder vielleicht doch über Hans. Dieses Hin und Her macht ja alles noch schwerer und zwingt einen zur Verhärtung und Dickhäutigkeit. Die Dinge sind ja viel zu einfach um so viel Gerede zu vertragen. Viel einfacher wohl auch als Eugen schreibt. Was ist denn geschehen? Ich habe Edith geheiratet, ohne sie zu lieben. Dadurch sind die Liebeskräfte überhaupt in mir erloschen, ich bin wieder wie als 12 oder 10jähriges Kind. Ich lebe aber in einer Atmosphäre (der jüdischen) wo meine Existenzberechtigung darauf beruht, dass in mir Liebeskräfte sind. Also ist alles was ich tue, Lüge. Ich markiere den Schein das Lebens, ich rede vom Lebenund bin eine Leiche. Das ist alles. Und daran ändert sich nichts. Wenn Edith “aus sich herausgeht”, ist sie mir am allerschrecklichsten; ich vertrage dann weder ihre Worte noch ihre Stimme noch ihre Bewegungen. Es ist nicht nötig, diesen Satz sofort telegrafisch nach Heidelberg und Göttingen zu übermitteln (und von Göttingen telefonisch nach Kassel). Aber wahr ist er doch, auch wenn ich nicht weiter davon rede. Versteht ihr wohl: ich wünschte mir doch z.B. ein Kind, oder eigentlich Kinder. Aber das ist ein ganz objektiver Wunsch. An sich graut es mir vor – ihren Kindern. Die “Stimme der Natur” schweigt eben in mir, heute noch genau so wie vor einem Jahr. Ich muss mir oft klar machen (wozu ja in Frankfurt reichlich Gelegenheit ist), dass mir andre Frauen noch unangenehmer wären als sie.

Ich muss das alles mal so nackt und hart sagen, um die Wirklichkeit gegen alle Konstruktionen mit Kalenderdaten, Lebensparallelen und ähnlichem Schnickschnack zu sichern. Die mögen stimmen oder nicht. Für ein bischen Sichliebenkönnen gäbe ich alle solche Meinetwegenrichtigkeiten.

Ich habe die Pflicht, ihr das Leben, soweit es an mir liegt, erträglich zu machen. Weiter weiss ich nichts. Deswegen hab ich ihr den Brief z.B. heut Morgen nicht gegeben. Jetzt, nachdem ich die Antwort aus mir heraus habe und nicht mehr in Gefahr bin, ihr diese Sachen ins Gesicht zu sagen (es genügt wirklich, dass sie sie weiss; die tägliche Wiederholung ist wirklich nicht nötig; höchstens für mich, als eine Restfunktion des Lebens; vielleicht werde ich auch dies Nein eines Tages nicht mehr fühlen, weil ich eben überhaupt nichts mehr fühlen werde), – also jetzt mag sie ihn ruhig lesen. Übrigens verstehe ich den Brief selber nur zum Teil. Ist das Haus der Toten in dem ich seit einem Jahr lebe und das mir nun zerbricht, nachdem ich ein Jahr lang getan habe als ob es lebe, meine Ehe? oder mein Beruf? Du siehst, ich bin gar nicht ganz richtig [ß] bei all diesen Gedanken. Ich weiss nur eins: meine Ehe war nur möglich, solange ich einen Überschuss an Lebenskraft hineinzugeben hatte. Sie hat ihn aufgezehrt, nun habe ich nichts mehr hineinzugeben und sehe nur noch das Nicht. Es ist nur das Trägheitsgesetz, nach dem ich noch das Leben so weiterlebe, als lebte ich noch. In Wirklichkeit müsste ich mich heute habilitieren und alles verleugnen, was ich bisher gelebt hatte.

Deswegen kam heut Morgen eine Aufforderung von Vigener

(= Meinecke), an Stelle von Frischeisen = Köhler den ständigen Mitarbeiterposten für “Allgemeines” bei der Hist. Zeitschr. zu übernehmen. Dem Gesetz der Trägheit zufolge habe ich abgelehnt, vielleicht auch aus der dummen abergläubischen Hoffnung, es könnte doch nochmal bergauf mit mir gehen. (Und ausserdem aus Grauen vor der masslosen Langeweile dieser “gelehrten Beschäftigung”). Überhaupt weiss ich ja einfach nicht, was andres ich tun sollte. Und deshalb wurstle ich fort. Und lasse mich vorübergehend anwärmen von dem Hauch lebendiger Menschen mit denen ich zusammengerate und die mich nicht als tot erkennen. Das ist vielleicht jetzt das Beste an meiner Existenz hier.

Euer Franz.

3.II.21.

Lieber Eugen,  euer Vorschlag ist wirklich nur “Revolver”. Um alles in der Welt: wozu denn? Wen interessiert denn “jüdische Geschichte im 19.scl.”? (Mich sicher nicht). (Dazu kommt, dass ich sie mir nur mit ungeheurer Arbeit – und bei meiner völligen Gleichgültigkeit dagegen noch dazu mit schrecklichem Widerwillen – aneignen könnte; serbische Geschichte im 14.scl. würde ich etwa mit dem gleichen Arbeitsaufwand vortragen können. Und wozu? für wen??).

Nein: habilitierbar bin ich nur auf Hegel und den Staat hin (also: Die Staatsanschauung der deutschen Klassiker, 2 stündig, privatim. Oder: Die Einwirkungen der idealist. Philosophie auf die Männer der preussischen Erhebungszeit, 1 stündig, publice. – Kannst du dir das wirklich vorstellen? Vor 10 Jahren hätte ich das gekonnt, wollte es aber nicht, aus einem guten Instinkt heraus. Und heute? vor diesem Pack!? Und als der, der ich bin. Der Hegel war doch schon ein Schlag ins Wasser, viel mehr als ich selber dachte. Es kräht kein Hahn danach).

Auf den * hin habe ich mich habilitiert, zu deutsch: niedergelassen. Nämlich hier in Frankfurt. Das muss nun erst seinen Weg gehen. Dass ich weiss, dass es nichts ist, bedeutet gar nichts. Erst muss es auch in der Wirklichkeit zu Ende gegangen sein. Das kann ein oder zwei Jahre dauern. Halte ich das solange nicht aus, so bleibt mir nur — gar nichts bleibt mir, also muss ich schon aushalten. Ob ich dabei lüge ist doch nicht meine Sache. Ich lüge doch nur damit, dass ich eine Wahrheit sage, die für mich gestorben, nein der ich weggestorben bin. Aber sie bleibt doch Wahrheit. Ich verleugne doch nichts. Ich nenne doch die Vergangenheit nicht Geschwätz. Ich nenne sie Leben. Und die Gegenwart nenne ich Tod. Warum soll ich Gespenst nicht vom Leben reden dürfen. Solange es sich das Leben gefallen lässt, dass ein Gespenst von ihm redet. Das andre: dass ich mich für die erkannte und durchschaute Unwahrheit (ob sie nun die Unwahrheit über den deutschen Idealismus oder die Unwahrheit über das Judentum ist – auf der Universität ist alles unwahr) habilitieren würde, das wäre allerdings die Lüge und nur entschuldbar, wenn sie sehr gut bezahlt würde.

Vergiss auch das nicht: ich bin nicht freizügig. Ich wohne hier. Ehe ich nicht muss, gehe ich nicht aus der Schumannstr. 10 heraus. Ehe ich nicht muss, gehe ich nicht aus dem Lehrhaus heraus. Ehe ich nicht muss gehe ich nicht aus Frankfurt heraus. Ich habe mich nicht selbst gemacht. Auch nicht zu dem, was ich jetzt bin. Ich bin noch nie im Leben so in einer Situation gewesen, wo es nur den Selbstmord, den richtigen physischen mit piffpaffpuff, als Ausweg gäbe. Und wo es also keinen Ausweg giebt. Ich muss hier bleiben. Hier stehe ich, hier verfaule ich. Es giebt kein abgekürztes Verfahren.

Habilitation käme nur in einer Form in Frage: hier, für “Philosophie”, als Studentendependance fürs Lehrhaus. Das könnte ich mal für richtig halten. Vorläufig hoffe ich es wird auch so gehen. Denn es ist eine ziemliche Mehrbelastung.

Ich muss meine Stellung hier ansehen als das was sie ist (heute ist): als vorläufig äusserlich unerschüttert, im Gegenteil. Ich werde noch “gebraucht”. Ich werde noch bezahlt. Ich gehe nur fort, wenn ich anderswo besser bezahlt = mehrgebraucht werde. Daran habe ich mich zu halten.

Zu Gewaltakten wie mir einen Meinecke durch den Kopf zu schiessen habe ich aber – von aussen gesehen – überhaupt keinen Grund. Nur für mich bin ich ja hoffnungslos. Aber dass ich verfaulend einen Boden dünge, dass ich grade durch dieses Seelenloswerden, durch diese Erstarrung, Verholzung, grade durch all das erst zum Werkzeug werde, ist mir ja sehr klar. (Lass dir doch von Gritli von jener Schlussstunde erzählen, die sie hier gehört hat). Nicht bloss du treibst in das neue Gesetz hinein. Ich erstrecht. Ich rede seit einem Jahr ganz offen davon. Der Zionismus ist das, was dir der Sozialismus ist. In 100 Jahren hat die Welt wieder eine Form und wir wieder ein Gesetz. Ich selber werde noch eine der Grundschriften schreiben, aus denen es dann kodifiziert werden wird. Denn es wird wirklich wieder ein geschriebenes und doch wirklich gehaltenes Gesetz sein (- ein Wunder, ohne das die Welt nicht leben kann). Dass die Zionisten diesem neuen Gesetz zuleben können nur indem sie sich selbst, ihre eigene europäisch verflochtene Seele opfern, das wissen sie selbst. Ich hatte mir bisher eingeredet, ich dürfte Werkzeug für das neue Werk sein und doch meine Seele auf der Erde retten und behalten. Jetzt sehe ich, es geht mir genau wie jenen. Ich gehe genau so vor die Hunde wie die ganze lebende Generation der Zionisten (ich rede immer nur von den wirklichen). Aber das neue Gesetz wird daraus entstehen. Der * ist irgendwie das Bindeglied zwischen dem alten und dem neuen. Ich hatte schon recht, wenn ich es für ein jüdisches Jahrtausendbuch hielt. Und recht auch, wenn ich es eigentlich nur posthum drucken lassen wollte. Seine eigentliche Wirkung – nicht sein Erfolg – wird erst in 50 oder 100 Jahren anfangen.

Das (das alles) habe ich mit der Schlusszeile des * gemeint. Das einzige, was ich dabei nicht wusste, war: dass ich mit dem darin geschehenden Zurückstossen des Buchs in die Vergangenheit mich selber mit zurückstiess. Ich meinte, mich selber nach vorwärts  – “INS LEBEN” – zu retten. In Wirklichkeit hat sich nur das Leben selber “ins Leben” gerettet, und ich treibe mit dem Buchauf dem Buch, auf dem Vierwaldstädter See der Vergangenheit. Aber das Lebenhat sich auf die Felsplatte geschwungen und agiert weiter.

Ich muss nun nur das Grauen vor meiner eigenen Gespenstischkeit verlieren. Und ich darf mich nicht mehr wundern und sträuben, wenn das was die Menschen von mir hier verlangen, immer gar nicht die “Liebe” ist, sondern – dasneue Gesetz. Denn darauf kommt alles, was ich hier an Erfolg und Misserfolg erlebe, heraus. Und darin hast du also recht.

Dein Franz.

  1. und 4.II.21.

Liebes Gritli,  ich habe mich heut den ganzen Tag mit der Vorlesung gequält, schliesslich wieder eine Kassler genommen; die Einteilung in langweilige (oder vielmehr “interessante”) Donnerstage und schöne Dienstage war mir widerwärtig geworden. Mit der Kassler Stunde habe ich mir dann freilich selber das Gericht geredet; es war die über die Ehe; schon im Sommer war es so gemeint, aber erst jetzt fühle ich mich von dem damals aufgestellten Gesetz selber richtig verurteilt. So habe ich dann wohl auch gesprochen, nicht sprechend, sondern wie vorlesend. Manches schien mir auch gar nicht mehr wahr. Ich wollte, dies Semester wäre herum. Diese Vorlesung wird zu einer Strafe. Ich kann sie genau so wenig halten wie im Sommer die Geschichtsvorlesung. Ich bin nicht mehr bei mir selbst.

Hier haben die Leute schon den *,

4.II.21.

soweit sie ihn ungebunden bestellt haben, z.B. Kochs, bei denen wir gestern waren. Die Frau hat mit gutem Instinkt gleich die 2te Einleitung angefangen; er selbst kann das Buch erst lesen, wenn er sein eigenes, das er jetzt schreibt (Ein Weg zum Judentum) fertig hat; er ist jetzt ungefähr in der Hälfte. Es war sehr nett bei ihnen, und die Frau hat mir doch gut gefallen. Er selber ist etwas ganz Besonderes, immer wieder. Das Gespräch ging über – na eben über das, was man hier (mit Recht) von mir erwartet. Ich bin da ja nur eine weiche Masse, die die Form kriegt von dem, der sie anfasst. Wollte ich das nicht, so bliebe mir nichts übrig als zuhause zu sitzen und mit niemandem zu sprechen. Das Ehrlichste wäre das. Aber das geht doch nicht. Welche Gnade ist es, die Wahrheit sagen zu können. Aber wenn man wahrhaftigerweise überhaupt nichts mehr sagen könnte, sondern nur schweigen und schlafen, so muss man eben – lügen. Ist das die Verwesung? Muss man die auch bei lebendigem Leibe erleben?

Dein Franz.

6.II.21.

Liebes Gritli,  vielleicht an nichts hätte ich so deutlich merken können, dass es wirklich in mir tot geworden ist als an der völligen Gleichgültigkeit, in der es mich lässt, ob du mit Greda bist. Ich spüre gar nichts mehr dabei. Ich begreife kaum, dass ich mich vor einem Vierteljahr noch so aufregen konnte. Es ist wie auf einem entfernten Planeten.

Nur dass du mich nicht mit ihr beredest, würde ich dich bitten, grade jetzt nicht. Nicht weil sie es ist. Es ist mir genau so peinlich zwischen Göttingen Säckingen Heidelberg beredet zu werden, und es ist mir im Grunde sehr recht, dass man mir Rudis Brief lieber nicht geschickt hat. Lasst mich in meinem Gebüsch.

Der Grund ist nicht der “einfache”. Der war ja von Anfang an und ist heut nicht schlimmer als damals. Aber damals war ich nicht hoffnungslos, denn ich spürte, ich hatte noch Lebens= und Liebeskräfte zuzusetzen. Das Verzweifelte heute ist, dass ich mich selbst erloschen fühle und von keinem Menschen auf der Erde mir Hülfe erwarten kann. Soweit ich noch schreien kann, schreie ich zum Himmel. Aber meist kann ich noch nicht einmal mehr schreien.

Ich wundre mich sehr über das, was du von Marg. Susmann schreibst. Alles was ich je von ihr zu Gesicht bekommen habe, war fadester Kitsch in Vers und Prosa, gefühlvoller Schwafel. Ich kann ja zufrieden sein, wenn ich mich da geirrt habe.

Gestern Abend hatte ich eine wichtige Sitzung. Jetzt bin ich den Zionisten genau so unsympatisch wie bisher nur den Liberalen. Dabei habe ich ihnen einen wirklichen Dienst erwiesen und eine von ihnen verfahrene Situation möglicherweise gerettet. Aber das haben sie nicht gemerkt. Bloss die grundsätzliche Absage.

Bei Koch wars gestern merkwürdig. Meine Übereinstimmungen mit Eduard sind unheimlich genau. So als ob er den * genau so geschrieben hätte wie ich. Es ist doch ein Rätsel.

Nachmittags war erst Eduard da, nachher Ernst Simon und Ruth Nobel. Vormittags waren wir bei Nobel und mit ihm zur Gerbermühle. Am Freitag Abend hatte wir zwei Hörerinnen von mir da; gestern nach der Sitzung waren wir noch eingeladen. Du siehst, wir leben unter den Leuten. Natürlich.

Dein Franz.

7.II.21.

Liebes Gritli,

lies den langen Antwortbrief an Eugen, er ist ja für dich mit. Das Verzweifelte meines Zustands wird ja dadurch nicht geringer. Es ist eben (in dem Brief) eine genau stimmende Rechnung, aber eine Rechnung ohne – die Wirtin. Von Edith habe ich kein Wort darin geschrieben, das merke ich jetzt wo ich fertig bin und ihn mit Eugens Brief ihr zu lesen gebe.

Wir waren bei Edingers gestern Abend – nachmittags waren Salzbergers bei uns. Es waren allerlei Leute bei Edingers und es war mir lehrreich für meine Stellung hier und für das Mass, in dem das “Amt” meinen kranken “Verstand” schützt und die Blicke der Menschen gar nicht auf ihn fallen lässt.

Es bleibt unerträglich und doch wird es ertragen.

Dein Franz.

8.II.21.

Liebes Gritli,  auch heute wird es wieder so, dass ich einen Kassler Vortrag nochmal halte! Ich habe versucht, ihn neu zu skizzieren, es wurde aber, da ich ihn neulich gelesen hatte, einfach dasselbe, nur schlechter. So nehme ich also das alte Manuskript. Für die vier letzten Stunden giebt es nichts her, so bin ich da auf mich angewiesen, vielleicht wird das besser. Obwohl ich es nicht recht glaube. Ich scheine mir eben nichts ersparen zu dürfen, keine Phase der Zersetzung.

Dabei sind die Dinge objektiv wahr. Wenn ich es mir selber nicht mehr glaubte, so müsste ich es an Strauss und Koch sehen, die jeder unabhängig das gleiche sagen. Eduard bis zur Wörtlichkeit. Gestern in der Bibelstunde wieder. Die Bibelstunde durch ihr immer etwas fluktuierendes Publikum lässt mich grade immer wieder die Notwendigkeit, die Sachen zu sagen, sehen. Es weiss sie wirklich niemand von selbst. Die Menschen merken beim ersten Mal meist überhaupt nicht, was Strauss sagt, so neu ist es ihnen. Sie interpretieren sichs unwillkürlich in ihre gewohnten Phrasen zurück, reden vom “Göttlichen in uns” statt von Gott, u.s.w.  Es dauert einfach eine Zeit lang, bis sie merken, dass Strauss es wirklich anders meint als sie. Ich habe ja jetzt meist Orthodoxe als Hörer. Die sind aber ganz genau so. Sie glauben auch nur an die “übertragene Bedeutung”. O weh – ich lerne jetzt die unübertragene von einer neuen Seite kennen, wir haben viel zu viel von der Liebe geredet, der Zorn ist genau so wirklich, solange er wirklich ist.

Freilich kann man sich fragen: ist es nötig, die Köpfe zurechtzusetzen? Und wenn sie nun zurechtgesetzt sind – und die Leiber sind noch genau so unzurechtgesetzt! das Schrecklichste beinahe ist mir doch jetzt Ediths dauerndes gouvernantenhaftes Sekundieren, wenn ich einem Menschen etwas sage (es ist natürlich auch sachlich stets Unsinn, aber das wäre ja ganz gleich).  Ich müsste stumm sein dürfen.

Meine Sommervorlesung ist ja eine etwas stumme (“Grundriss des jüdischen Wissens”).

Dein Franz.

8.II.21.

Liebes Gritli,  die Vorlesung war noch ganz gut. Ich bin aber froh, dass ich mit den 4 letzten wieder auf “mich allein” angewiesen bin. Dann war heut Abend Vortrag von Nobel in der Loge. Ein ganzes System in nuce, leider das alte idealistische wies im Buche und vielen Büchern steht. Aber so gesprochen, dass ichs ihm gerne geglaubt hätte. Ein bezaubernder Anblick, auch durch die wunderbare Ahronhafte Sitzgelegenheit im Logensaal. Nachher bog Eduard in seiner Schlussansprache nach Kräften alles zurecht, was hoffentlich nicht viele gemerkt haben. Dann sassen wir noch mit Kochs zusammen (es war nämlich “offene” Loge, also mit Frauen), wir kommen ihnen jetzt gut nahe, die Frau tut sich auf, und beide sind gut zu Edith. Aus dieser Wirklichkeit, (die es immer mehr wird) – Strauss Koch ich – giebt es auch kein willkürliches Herauslaufen für mich. Du wirst sie ja nun alle bald kennen lernen. Auch Strauss, den du dir dann von der Bibelstunde her aufbeissen musst.

An solchen Tagen wo ich mir der Vorlesung nicht sicher bin, nimmt sie mir den ganzen Tag! Am 19. spreche ich in Hanau. Vorher vielleicht noch in Darmstadt.

Gute Nacht  –  Dein Franz.

9.II.21.

Liebes Gritli,  du darfst keinesfalls hierher fahren und dir etwas zumuten, was dir jetzt zu viel wäre. Glaubte ich, es wäre nötig, so führe ich doch heut am Tag zu dir, selbst nach Hinterzarten, das wäre mir ja jetzt ganz gleich. Aber es hülfe ja garnichts. Es ist nichts Katastrophales. Es handelt sich für mich um ein Eingewöhnen in mein “neues Selbst”, also um etwas was Weile haben will. Schlecht Ding will genau so “Weile haben” wie gut Ding. Etwas andres ists, ob mir nicht das lange Zusammensein vom Frühjahr an gut tun wird. Das halte ich selbst für möglich; es ist ja nicht mehr lang hin.

Die Donnerstagstunde wird nun endlich wieder eine frisch vom Fass, ich merkte es heut bei der Vorbereitung.

Die Trennung, die du empfindest, ist nicht die der “Bethäuser”. Glaub das nicht. Es ist alles viel wirklicher. Auf solche Unwirklichkeiten kann man nichts abladen.

Auf deine Frage, woran ich denn glaube, hab ich dir ja grade in diesn Tagen schon vorweg geantwortet. Ich lerne seinen Zorn kennen. Ob er “zum Besten” dient – mag sein, aber die Schläge schmerzen darum nicht weniger. Mein Glaube an dies “zum Besten” besteht darin, dass ich keinen Augenblick den 6.I.20 aus meinem Dasein wegdenke, wirklich keinen Augenblick lang, und ebensowenig den 9.II.21 oder welcher Tag sich nun grade Heute nennt. Nicht[doppelt unterstr.] darin, dass ich nicht stöhne oder, bisweilen, schreie.

Dein Franz.

10.II.21.

Liebes Gritli,  ich spürte, dass das kommen würde. Dass es von dir zuerstkommen würde, hatte ich nicht erwartet. (Rudis mir vorenthaltener Brief ist ja sicher schon auf diese Melodie gegangen). Eigentlich ist das nun wohl das Letzte. Was könnte nun noch kommen. Aber es ist zugleich so lächerlich, dass ich trotzdem noch antworten kann. Du weisst gar nicht, worum es sich handelt. Wo dir das “Kreuz” helfen könnte, könnte mir das “Gesetz” helfen. Das Kreuz ist ja nur der Gesetzersatz für die Gesetzlosen. Aber ich verzichte auf diese “Hülfe”. Ich könnte sie billig haben, so billig wie du das “Kreuz”. Ich fälsche mir den wirklichen Tod nicht in einen gemeinten Selbstmord um.

Ich bin froh, dass ich dir gestern Abend, ehe ich diesen Brief bekam, dir die wahre Antwort geschrieben habe, die positive. Ich könnte dir jetzt, nach dieser Verirrung, nichts Positives sagen. Wie kann man einer Nonne, die sich in der Betrachtung von Christi Wunden tröstet, von Gott sprechen. Sowenig wie einem Juden, der im Gesetz lernt. Man kann ihm nur sagen, dass sie Götzendienst treiben, dass sie Gott vergessen. Erinnere dich. [doppelt unterstr.] An den einzigen Lebendigen, den einzigen der nicht stirbt. Der uns das “Gesetz”, euch das “Kreuz” gegeben hat, nicht um sich vor uns dahinter zu verstecken, sondern um den Menschen ein Zeichen zu geben, unter dem sie sich versammeln können, wenn sie zu schwach sind sich unter ihm selber zu versammeln, und von sich aus dann in Gefahr wären, sich unter jenen Götzenbildern zu versammeln, die noch nicht einmal den Namen des lebendigen Gottes tragen. So gab er uns diese Götzenbilder, an denen wenigstens noch sein Name hängt.

Ich nehme Leben und Tod von Ihm [doppelt unterstr.]. Aber ich fälsche mir den Tod nicht in Leben um, was freilich sehr leicht geht, man braucht zum Entgelt ja bloss zu erklären: das wahre Leben ist der Tod (am “Kreuz” oder am “Gesetz”). Nein Tod ist Tod, Leben ist Leben, ich weiche vor seiner Hand nicht aus, ob sie mich streichelt oder ob sie mich schlägt.

Ginge es dir nicht so gnädig, dass dir der Tod in Gestalt von sichtbar spürbarem neuem Leben geschenkt wäre, so würdest du wissen wie es tut, und hättest diesen Brief nicht geschrieben.

Dein Franz.

[ca 10.? 2.21]

Lieber Eugen,  Edinger ist doch ein Mensch, bonae voluntatis. Du wirst schon davon nicht viele finden. (Aber immerhin doch so viele, dass du nicht auf ihn angewiesen bist).

Ich bin sehr zufrieden, dass ich mich über Marg. Susmann geirrt hatte.

Von Gritli hatte ich einen sehr törichten Brief – schliesslich kein Wunder, nach den Lasten die mein tägliches Schreiben in den letzten Wochen auf sie gewälzt hat, dass ihr da schliesslich der Kopf benommen wurde und dass sie, wirklich wie die “Toren” mit einem grossen Aufwand von “Theo” = logie erklärt: “es ist kein Gott”.

Edingers Schrift ist doch ganz toll charakteristisch!

Ich habe vor einigen Tagen in Herders Metakritik gelesen. Das ist unser wirklicher Vorläufer. Es stehen auch sonst merkwürdige Sachen drin. So in dem Abschnitt “Genese des Begriffs der Zeit, nach Datis der menschlichen Natur und Sprache”:

Eigentlich hat jedes veränderliche Ding das Mass seiner Zeit in sich; dies bestehet wenn auch kein anders da wäre, keine zwei Dinge der Welt haben dasselbe Mass der Zeit. Mein Pulsschlag, der Schritt oder Flug meiner Gedanken ist kein Zeitmass für andre; der Lauf eines Stromes, das Wachstum eines Baumes ist kein Zeitmesser für alle Ströme, Bäume und Pflanzen. Der Elefanten und der Ephemere Lebenszeiten sind einander sehr ungleich, und wie verschieden ist das Zeitenmass in allen Planeten! Es gibt also (man kann es eigentlich und kühn sagen) im Universum zu einer Zeit unzählbar viele Zeiten; die Zeit, die wir uns als das Mass aller denken, ist bloss ein Verhältnismass unserer Gedanken, wie es bei der Gesamtheit aller Orte einzelner Wesen des Universums jener endlose Raum war. Wie dieser so wird auch seine Genossin die ungeheure Zeit das Mass und der Umfang aller Zeiten, ein Wahnbild. Wie er, der bloss die Grenze des Orts war, zum endlosen Kontinuum gedichtet werden konnte, so musste Zeit, an sich nichts als ein Mass der Dauer, so fern diese durch eigene oder fremde Veränderungen bestimmbar ist, durch ein immer und immer fortgesetztes Zählen zu einer zahllosen Zahl, zu einem niegefüllten Ozean hinabgleitender Tropfen, Wellen und Ströme werden.

Schade, dass du das noch nicht für die Werkzeitungsnummer hattest!

Über Beckeraths Brief habe ich mich sehr gefreut. Wer ist denn Michaelis?

Dein Franz.

11.II.21.

Liebes Gritli,  eigentlich bin ich dir gegenüber in eigener Sache jetzt in der gleichen Stellung wie im August, als du drauf und dran warst, dich von Rudi mitreissen zu lassen und Helenes Zusammenbruch in etwas ungeheuer Positives umzudeuten. Inzwischen ist ja an Rudi sehr deutlich geworden, dass es ein Zusammenbruch war und weiter nichts. Rudis Vereinsamung und schliessliche Flucht ins Kloster – was bedarf es weiter Zeugnis. War es Leben gewesen, was damals bei Helene geschah so wäre Leben daraus geworden und nicht das “Spiel”, die “Christusliebe” und die Frage an Weizsäcker, er sehe nicht ein, warum er nicht katholisch werden solle, und die Erklärung der Vergangenheit für “Geschwätz”. Genau so wie damals gegen die unwahrhaftige Lebensschminkung des Tods bei Helene kämpfe ich jetzt für den ehrlichen Namen der Dinge, die sich bei mir abgespielt haben und will, was Tod ist, Tod genannt haben. Und gestatte weder mir selbst noch dir die Dogmatisierung, die so bequem und so narkotisch ist. Hätte Rudi damals seinen Schreck nicht narkotisiert, so wäre es vielleicht heute für beide  besser. Vielleicht auch nicht. Aber an sich ists auf jeden Fall besser, die Wahrheit zu sagen, solange man kann.

Die Vorlesung war wirklich sehr gut, und die nächste wirds auch.

Abends war Martha Kaufmann da, die ein armes Tier ist.

Eben war Hedi da, Rudi hat ihr natürlich die Schutzengel vorgelesen. Warum auch nicht? Geschwätz gehört vor die Öffentlichkeit, – wenn der Schwätzer ein begabter oder gar jetzt bald berühmter Dichter ist. In 50 Jahren machen dann die Kinder Schulaufsätze über “das Erlebnis und die Dichtung”, und der Lehrer besprichts vorher in der Klasse, von wegen der richtigen Einstellung. Und das Ganze ist dann “höheres Leben” – nichtwahr? Tod der vor dem Kreuz sich in neues Leben verwandelt hat? Wie figura zeigt. Da möcht ich mich doch hinter all eure (und meine) tümer auf die alte ehrliche Natur zurückziehen, die wenigstens nicht lügt.

Dein Franz.

12.II.21.

Liebes Gritli,  es ist spät geworden über einem langen und unnötigen Brief an Eugen. Mit den Gewaltkuren ist nicht geholfen. Wäre es nicht schon meinetwegen, so müsste ich Ediths wegen im Jüdischen bleiben. Für mich ist es, nächst dem Garnichtmehrsein das einzig Erträgliche, für Edith aber ist es das einzig Mögliche. Grade an den Sabbaten brauchst du sie nicht zu bedauern. Was sie vom Leben hat, hat sie da. Es war wirklich das Gefühl einer Notlage, dass ich sie grade am Sabbat zu euch geschickt habe; ohne dringendste Not hätte ich es nicht getan. Gedankt habe ich lange nicht, aber es kommt ja nicht auf die Worte an.

Die zweiten Lebenshälften in die wir jetzt alle hineingestossen werden (Edith, die nie eine erste gehabt hat, ausgenommen), werden uns ja vielleicht alle auch einmal wieder zusammenbringen, nur ganz anders. Es giebt vielleicht auch da wieder etwas wie ein Leben. Ich habe jetzt keine Vorstellung davon und deshalb kann ichs nicht Leben nennen.

Das eine weiss ich: die jüdische Atmosphäre um mich herum ist das einzige was mich jetzt halbwegs in Form hält. Ein Heraus aus ihr, wie es Eugen sich ausdenkt wäre mir schrecklich. Hier sind doch Leute, die mich auf das hin beanspruchen, woran ich glaube. “Draussen” habe ich Meinecke, der mich auf das festlegen will, was ich noch nichtmal als ich es machte je für etwas andres gehalten habe als eine Schüler = und Übungsarbeit.

Gestern Abend Blaus, heut Vormittag Nobel, Nachmittags Ernst Simon, dann Koch – ein klarer geordneter Tag, und alles was ich tue (mit Ausnahme alles dessen, wa zwischen Edith und mir geschieht) ein Stein zu dem Bau, dessen Umrisse ich sehe und zu dessen Grundriss ich vielleicht die Zeichnung habe machen dürfen —- was hätte ich zu wünschen, wäre nicht die eine schreckliche Ausnahme. Aber vielleicht geht es grade ohne die nicht. Obwohl – das ist dummes Zeug; ich weiss nicht warum das so sein muss.

Und auch zwischen mir und Edith giebt es einen guten Augenblick – zwar nicht wenn wir ganz allein sind, aber wenn der Sabbat als dritter dabei ist. Da lasse ich sogar mich immer wieder von der Hoffnung fangen, und werde freilich gleich wieder aus der Hoffnung herausgeworfen; es sind eben nur Augenblicke. Für mich nicht aber für meine Ehe ist das Gesetz eine Lebensrettung.

Dein Franz.

  1. und 13.II.21.

Lieber Eugen,  tant de bruit! pour une étoile! Muss ich dir nun wirklich das alte Buch erklären? Du vergisst die Gliederung des Ganzen. Wenn du es wirklich wieder liest, so lies doch vor allem III 3. Erst das (und sein Auslauf in “Tor”), nicht schon III 1 + III 2 , ist der dritte Teil. Da verschwinden aber die tümer wieder und von dem der da bleibt wird ausdrücklich und in einem Fortissimo das sonst im ganzen Buch nicht vorkommt gesagt, dass er kein andrer ist als der, der in der Mitte des Ganzen, in III 2, spricht und auch das was er zu sagen hat ist nichts andres. Nimm dazu noch die Einleitung zu III, die doch die Voraussetzung für jedes Wort von III 1 und III 2 ist und die von nichts anderm handelt als von dem freien Entgegenwachsen des Lebens von dem du redest, — und was vermissest du dann noch? Nimm endlich noch, dass noch nie das jüd. Gesetz so ungesetzlich, das chr. Dogma so undogmatisch gesehen worden ist, wie es in III 1 bzw. III 2 geschieht – versteh wohl, nicht das Judentum ungesetzlich, nicht das Christentum undogmatisch, sondern das Gesetz selber ungesetzlich, das Dogmaselber undogmatisch, und du wirst selbst zu III 1 und III 2 (die du nicht wieder zu lesen brauchst) ein Verhältnis kriegen. Es ist in III 1 nicht die Synagoge, sondern das Volk, es ist in III [2] nicht die Kirche, sondern der Mensch, de quo fabula narratur. Das ist, beides, noch nie geschehen.

Für die Richtigkeit des Aufbaus I, II, III könnte ich mich einfach auf – Hans berufen. Erfahrung, Lehre, Weisheit! Die genaue Entsprechung mit meinen I, II, III ist ganz unabhängig. Genau wie ich bringt auch Hans in seinem dritten Teil, der Weisheit, die philosophischen “Disziplinen” wieder, die er vorher ignoriert (Politik, Ästhetik, Logik). Vgl. darüber bei mir III 3 gegen Ende. Eine eindeutige Reihe ist I – II – III nicht. Das “Versinke denn, ich könnt auch sagen: steige” gilt nur für den Übergang von I zu II. Von II zu III müsste es heissen Steige denn, ich könnte auch sagen versinke. Deshalb ist das Herausbrechen des Schlusses ins Freie, der ja ausdrücklich ein Rücklenken in II 2 (“einfältig wandeln..”) ist, auch vom Buch her eine Notwendigkeit. Es ist nicht nur biographisch notwendig. Sondern auch “systematisch”.

Sieh: im Grunde steht in allen drei Teilen das Gleiche. Nur drei verschiedenen Leuten gesagt. In I dem Kranken (Diagnose: Monismus philosophicus), im II dem Gesunden, im III dem in Behandlung befindlichen, dem Patienten. Dem Kranken wird gesagt, dass er krank ist, dem Gesunden dass er gesund ist, dem Patienten, dass er Patient ist. Denn eben das weiss keiner von ihnen. Der Kranke hält sich für gesund, der Gesunde für krank, und der Patient meint, seine Klinik wäre die Welt. Ich tue z.B. hier sehr oft weiter nichts, als dass ich den Menschen sage: Euer Lieblings = Ismus, (Gottismus, Weltismus, Menschismus) ist nur Ismus. Die Wirklichkeit ist “dreifach”, nicht einfach. Wer das begreift, ist eigentlich schon gesund. Denn den nimmt das Leben auf seine Arme und trägt ihn irgendwohin.

Solange er sich tragen lässt. Deshalb muss ihm gesagt werden, dass er sich ruhig tragen lassen kann, dass er wirklich gesund ist und dass er die Doktor Eisenbarthe mit ihren Rezepten unbesucht lassen kann (welcher Gesunde weiss das?).

Endlich giebts den Patienten. Er hat vergessen, dass er Patient ist. Früher hätten wir ihn dem Kranken gegenübergestellt. Nichtwahr? Als wir noch selber in dieser Vergessenheit unsres Patientseins lebten. Denk an dich selbst in deinen Fanatikerjahren. Dass die tümer nur ihren Sinn jenseits von Gesund = und Kranksein haben, nicht selbst die eine Seite repräsentieren, das habe für euch alle1913 ich erlebt. Deshalb musste der IIIte Teil der frühstkonzipierte sein. Denn die Jenseitsstellung der tümer musste vorweg entdeckt sein, ehe man die Lehre vom kranken und gesunden Menschen (I und II in ihrer Zusammengehörigkeit) entdecken konnte. Nämlich nun tritt an die Stelle der Schattenantithese Idealismus – Kirche (wie du oder Rudi oder sonst wer,  – Pantheismus – Christentum – sie früher formuliert hatte) die Zweigesichtigkeit des Wirklichen: Nacht und Tag, Schlafen und Wachen, Elemente und Bahn, Mathematik und Grammatig, Unterwelt und Oberwelt.

I ist eben nicht “Hegel” (dies ist eins deiner Missverständnisse, vielleicht das eigentliche)  [X] – I ist Un = und Antihegel, I ist genau so wahr wie II.

[1.Fassung:]

– I ist Unhegel, Unkant u.s.w., kurz I ist ebenso wahr wie II.

Genug von dem Buch. Ich habe es immer noch nicht, bin auch nur gelinde neugierig darauf. Du schreibst ja im Grunde auch nicht über das Buch, sondern über deinen tollen Gedanken, ich solle das ..[?] was ich ..[?] habe aufgegeben um einer “Jetzt” = Theorie willen. Das ist so haarsträubend unwirklich …[?] richtig erdacht. Ich soll eine Stelle, wo man mich braucht (und wenns noch so wenig ist) aufgeben und zu Leuten gehn, die wenig wissen, aber das eine ganz genau: dass sie mich nicht haben wollen. Denn dass Meinecke mich als seinen begabten Schüler vorzeigen will – bin ich sein Schüler? (Schon als ichs war, habe ich jedem gesagt, dass Wöfflin, nicht Meinecke mein Lehrer in Geschichte sei). Ich soll meine Tätigkeit auf der Basis von Seminararbeiten errichten? Er hat ja Heller e tutti quanti. Diesen Leuten brauchst du nicht erst zu sagen: sie sollten sich habiblitieren, sie habens schon längst vorher getan. Was sollen sie auch sonst tun. Ich habe mir durch den Stern das Recht erschrieben, mich da zu habilitieren, wo – nicht einige Mummelgreise bestattet oder das neue 1813 vorbereitet werden (Universität oder Volkshochschule), sondern wo die Zukunft entsteht. Ob das neue Gesetz schon das “Weltgesetz” sein wird oder nicht – das ist nicht meine Sorge. Die Zionisten glauben es. Marx und Lasalle gehören ebensogut zu der ..[Kom?]ission die es ausarbeitet wie Strauss, Koch, Nobel, ich. Es wird kein § fertig, ohne dass die beiden votiert haben.  Mein “jüdisches Jahr” wird also den Rest meines Lebens ausfüllen. Dass die Quelle meiner Mitwirkung in der Kommission nicht mein Jetzt, sondern mein 1900 – 1919 (das was du “das Wunder von 1918” nennst) ist, das weiss ich sehr genau. Nicht die Toten loben Gott. Ich habe ja auch nicht mehr zu leben. Ich habe mich nur noch hineinzuwerfen in den Topf in dem die Zukunft brodelt. Die nicht mehr mir gehören wird. Denn mir gehört gar nichts mehr. Auch nicht die Gemeinschaft mit euch mehr. Wir sind alle (nicht bloss ich) einsam geworden. Auch du und Gritli seid bloss noch verheiratet. Nicht das Leben hat aufgehört, aber unserLeben. Mehr als Gritlis Kreuz = Brief an mich – stärker konnte es für mich und Gritli nicht gesagt werden. Ich habe dagegen geschrieben, aber nur weil ich nicht wollte, dass die hässlichen Scheingründe zwischen ..[?] scheiden sollten. Die Wirklichkeit des Todes ..[?] uns, keine dogmatischen Gespenster. Sie ..[?] jenes und sucht es auf dieses abzuschieben. Nur das will ich nicht. In der Tatsache selbst heisst es sich fügen.

Zu den Zionisten gehe ich ja. Was willst du?!

Und vergiss bei allem nicht. Was für mich ein Ablaufen der Uhr ist, ist für Edith das einzige Leben was sie noch hat. Sie nimmt an der Enstehung des neuen Gesetzes teil. Dafür hat sie offne Augen. Für sonst nichts. Für nichts, was mit jenen “Quellen” meiner Beteiligung daran etwas zu tun hat. Aber für meine Beteiligung selber. Was sollte aus ihr werden, wenns das nicht mehr wäre. Und ich gezwungen wäre, eine kühle bonzenhafte Tätigkeit vor Studenten oder meintwegen vor deinen Arbeitern (die mir doch genau so fremd sind wie Studenten) auszuüben In dem jüdischen Topf lasse ich mich noch gernzerstampfen, in dem “deutschen” wirklich nur mit äusserstem Widerwillen. Dieses “gern” spürt sie, und ..[?] das Beste an ihrem wahrhaftig nicht gu[?]ten Leben.

Dein Franz.

13.II.21.

Nach dem, was du nun heute schreibst, könnten wir ja den eigentlichen praktischen Inhalt deiner Briefe vertagen, bis der Ruf kommt. Wenn er nämlich kommt (auf den * hin! nicht etwa auf den Hegel hin) dann nehme ich ihn an. Denn das wäre dann keine deutsche Universität und es studierten keine deutschen Studenten da – wenn ich auf den * einen Ruf als Professor der Philisophie kriegte. Und nebenher – selbst die Philosophie wäre dann nicht so greulich langweilig wie sie ist. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwer es mir fällt, Philosophisches zu lesen, ich winde mich vor langer Weile. Also wollen wirs bis zum Ruf vertagen?  Aber im Ernst: dies Nachholen wovon du sprichst, das tue ich ja jetzt wirklich. Meine Vorlesung hier ist ein solches Nachholen. Die Überschrift Jüdisches Denken hat dich vor den Kopf geschlagen. Aber ursprünglich hatte ichs “Einführung in den Gebrauch des gesunden Menschenverstands” nennen wollen, und nur aus äusseren Gründen darauf verzichtet. Trotzdem kann ichs nur vor Juden machen. Im einzelnen Fall gegenüber jedem Menschen. Aber bei grösserem Publikum, vor der Öffentlichkeit nur vor Juden. Denn nur da habe ich die Anknüpfungsmöglichkeit an Gemein = Erlebnisse. (Im Krieg hatte ich die ein wenig auch vor andern). Es gehört zu dieser Art Vordenken, dass man auch Mitleber ist. (Die Abschaffung des Katheders!). Dem einzelnen Menschen kann ich gegebenenfalls (eventuell) stets Mitleber sein. Der Gemeinschaft nur wenn ich ihr angehöre. Deshalb kann ich nur unter Juden wirken. Nur da wird mein Wirken unmittelbar gesetzerneuernd sein. Ob noch anderswo, das ist nicht meine Sache. Vielleicht durch euch hindurch. Mag sein.

Ob das neue jüdische Gesetz schon das letzte, das Weltgesetz sein wird – die Zionisten glauben es, ich weiss es nicht. Auch das ist nicht meine Sache. Marx und Lassalle? sie sind meine Mitarbeiter dabei, sogut sie Nobel und sogut wie Strauss und Koch.

Blüher sagt (in der Broschüre gegen Link):

Philosophieprofessor    Litteraturprofessor

———————– = ——————- Das ist genau richtig. Ich war als Verfasser

Philosoph                   Dichter.    des * (und bins in Nachklängen noch jetzt) Philosoph. Das Philosophieprofessorieren ist mir heute ganz unmöglich, wirklich einfach wegen der ungeheuren Langweile die es mir verursacht.

Also, gieb dich zufrieden. Für Herder genügt die Quellenangabe wie ich sie dir schrieb. Meine Ausgabe ist nicht die, die man zitiert.

Dein Franz.

13.II.21.

Liebes Gritli,  ich lege auf Eugens Wunsch einen Brief an seine Mutter bei. Den an ihn von gestern Abend schicke ich nun nicht; er ist übrigens z.T. durch seinen heutigen noch unnötiger geworden. Du kannst ihm sagen: den Ruf auf den * hin als Professor für Philosophie würde ich annehmen. Damit muss er doch zufrieden sein? Nämlich, wenn das geschieht, dann sind die Universitäten keine Lachkabinetts mehr, die Professoren keine Karrikaturen und die Studenten keine Deutsche mehr und die Philosophie ist eine kurzweilige Sache geworden. Vier Vorraussetzungen, von denen jede einzelne das Ende aller Dinge bedeuten würde. Bis dahin (also bis zum Ende aller Dinge nach meiner oder bis zum Eintreffen des Rufs auf den * hin nach seiner Zählung) soll er mich ungeschoren lassen.

Ich lege übrigens die 3 ersten Blätter des Briefs doch bei.

Dass du mich zum Christentum bekehren wolltest, habe ich gar nicht angenommen. Du hast nur eine Trennung zwischen uns aussprechen wollen. Dagegen kann ich gar nichts sagen. Nur die dogmatische Phrase habe ich abgelehnt. Uns trennt nicht Juden= und Christentum, sondern der Tod. Nenn ihn meinetwegen Leben. Aber dass das eine sehr andre Art Leben ist als was wir früher so nannten, das könnte dir daran aufgehen, dass das was du jetzt Leben nennst, uns (alle, nicht bloss dich und mich, sondern jeden von jedem) scheidet; das was wir früher Leben nannten, verband uns.

Ob wir “[Zeichnung, Kurve aufwärts und abwärts] Mensch” sind oder nicht, danach wird wenig gefragt. Es geschieht uns, ob wir wollen oder nicht. Dir gnädiger als uns andern. Infolgedessen hörst du sogar auf, zu verstehen, was in andern vorgeht. Oder möchtest dir einreden, es läge daran, dass sie eine andre Theologie hätten.

Nun lege ich auch den 4ten Bogen bei. Es ist schliesslich alles gleich.

Dass ich deine Freude nicht mitfühlen kann, ist mir doch selber schrecklich genug. Es ist aber nur ein Stück davon, dass ich überhaupt nichts mehr mitfühlen kann. Es ist zu Ende mit mir, mit Mit= und allen Gefühlen. Zum guten Onkel wirds noch langen.

Ich sehe jetzt darin dass ihr herkommt, wovor ich mich früher fürchtete, nun eine Rettung. Wenn überhaupt ein neues Sozusagenleben zwischen uns entstehen soll, so brauchts dazu das Zusammensein. Irgend eine Form wird da schon entstehen. Ich lasse selber nichts fahren, begehe auch im Detail keine “Selbstmorde”. Solange man leiblich lebt, muss ja irgend etwas wie Leben weitergehn. Ich kann mich nur nicht auf etwas freuen, wovon ich nur das weiss, dass es ganz anders sein wird als alles woran ich bisher hing. Ich kanns eben nur hinnehmen. Das “Lächeln Gottes” lässt sich nicht komman-dieren.

Dein Franz.

[2.Hälfte Februar? 21]

Lieber Eugen, eine Intrigue liegt gar nicht vor, sondern einfach eine unglaubliche Dummheit des Verlegers, der der Frankfurter Zeitung noch ein Exemplar geschickt hat! Ich habe sofort an Kauffmann telefoniert; die Dame (die verreist war) – die einzige mögliche Person im ganzen Verkauf[?] – hat mit Geck, dem Feuilletonredaktör der Frankfter Ztg. gesprochen, der “sehen will was sich tun lässt”. Nicht viel! – Mir selber war das Merkwürdigste, dass ich mich wirklich darüber geärgert habe. Es ist eben für meine Stellung hier eine Notwendigkeit, dass in der Frkft. Ztg. mal ein Feuilleton über mich gestanden hat. Da’s beim Hegel versäumt ist, so muss es nun beim * sein. Erst wenn die Frankfurter ihren Segen über mich gesprochen hat, bin ich glaubwürdig.

Ich gehe nachher noch selber zu K. hin, um die Einbände zu sehn, sie sollen sehr hübsch sein, – und übrigens noch länger dauern! Ich habe ja noch gar kein Exemplar hier.

Zwei Nächte ist fein, der Brief weniger, aber der Mann ist gut für dich. Besonders wenn du ihn vorher etwas in die Lehre nimmst (wozu er bereit sein wird, denn er geht ja noch zur Schule – Jonas Cohn!

Über den Raum stehen die nötigen Sachen bei Herder ein paar Seiten früher. In Freiburg hast du ja die Metakritik leicht zur Hand.

Ich dachte schon einmal daran, Mündel einen * zu schicken. Aber ich werde es wohl bei dem Pietätsexemplar für Frau Cohen bewenden lassen, der ich darin die Stellen, wo Cohen auftritt, mit Seitenzahlen bezeichnen werde (einschliesslich des Mottos, des verliebten Toren, und des letzten öffentlichen Vortrags).

Wieso ist deine Zukunft “in Berlin”?? Ist denn mit Frankfurt irgendwas geschehn, was du vergessen hast mir zu schreiben?

Dein Franz.

  1. und 15.II.21.

Liebes Gritli,  die Einbände zum * werden so hässlich, dass ich meine Freiexemplare jetzt doch ungebunden genommen habe, wenigstens fünf. Bei Strauss war eine besondere Stunde heute, 2 M, 3. Abends hatten wir einen merkwürdigen Studenten aus Wien da. Das war der Tag.

Dein Franz.

15.II.21.

Eben ruft Hermann Badt an, der für einen Tag hier ist.

Vom Verlag kam von Eugen der rote Band von der Susman. Ich habe erst die beiden ersten Stücke gelesen. Trotz des schönen Einbands, ists als ob man was mit Schreibmaschine lese, so das Manuskript irgend eines Rudi. (Übrigens ist manches ganz rudisch). Auch zu den Dunkelheiten darin habe ich ein ähnliches Verhältnis wie zu denen, die man zuerst bei Rudischen Sachen verspürt.

Dein Franz.

15.II.21.

Liebes Gritli,  wieder eine sehr gute Vorlesungsstunde. Diese beiden Stunden Ästhetik sind so gut geworden wie ich dachte. Es war vorher nur mein Fehler, dass ich alte Manuskripte zugrundelegte. Das darf ich offenbar nicht.

Badt sah ich nur heut Abend nochmal, wo ich bei Nobel war und ein Stück raffinierter Frankfurter Politik gemacht habe, die Fortsetztung von der Zionistensitzung von neulich.

Ich habe den * ringsherum beschneiden lassen, dass er nun ein sehr behagliches Format hat. Ich würde es Eugen auch raten.

Die Rezension der “Hochzeit” von E.Tr. bekam ich heute. Ich finde sie ganz herrlich. Es ist doch kaum zu begreifen, wenn er ihn nicht kennt. Aber er hat ihn eben aus dem Buch erkannt. Es giebt einem gradezu Mut zu schreiben. Auch die Sonderstellung, die er der Spenglerkritik giebt, ist wohl richtig; es ist ja auch natürlich, – einfach infolge des grossen Augenblicks wo sie entstanden ist. Die Unterschüpfer sollen eine Gedenktafel ans Wirtshaus machen. Oder lieber an das Haus, das ihr kaufen s[?]olltet.

Die 2 Stunden Ästhetik handelten nur vom Auftraggeber. Heut ist die Synagoge zu ihrem Recht gekommen. Es wäre ja auch schlimm, wenn sie beim “jüdischen Denken” gar nicht vorkäme.

Dein Franz.

16.II.21.

Liebes Gritli,  ich las gestern Abend noch das dritte Stück in dem Buch der Susman, es ist wohl schlechter als die beiden andern, aber komischerweise auch in diesem “schlechter” rudisch.

Zur “Aussprache” waren heute ganze 3 Weiberchen gekommen. Es ist sehr nötig, dass ich in Frankfurt bin. Es kann ja nochmal ein Aufschwung kommen. Aber der wird dann auch rasch wieder abflauen. Und wahrscheinlich kommt er noch nichtmal. Wäre nicht die komische Situation, dass dieses  “In Jena hat jeder Lehrer

Ein zwei auch drei Zuhörer

Die nennt man Musensöhne,

In Jena ist es schöne”  – hier ganz normal ist. Vor vierzig Menschen sprechen heisst hier: viele Hörer haben! Es ist alles relativ. Auch dies.

Dein Franz.

Wer mag nur dieser “E.Tr.” sein?

17.II.21.

Liebes Gritli,  gestern ist es ja zwei Jahre her, dass der * fertig wurde! es fiel mir heute ein. – Es war wieder eine gute Vorlesung und die nächste, letzte, wird es erst recht. Ich habe angefangen, bei Nobel zu lernen. Ruth lernt mit! Heut Abend war ein Vortrag von Strauss. Vor Tisch war ich etwas bei Koch, der darmkrank im Bett liegt.

Das war der Tag.

Von Mutter war ein Brief da, mit dem ich viel mehr mitklinge, als ich ihr sagen kann und darf.

Dein Franz.

20.II.21.

Liebes Gritli,  Hans ist da, es ist spät darüber geworden. Seine Anwesenheit tut mir ganz wohl. Rudis Brief gestern (er schickte mir das Traktätchen vom Ende Januar mit einem neuerlichen Zusatz an den verstockten Sohn Israöls von dem Erlöseten des Hörrn in Göttingen) hat mir doch noch einige Schmerzen gemacht, obwohl ich ja wusste was drin stehen würde und obwohl mir das Eigentliche daran, die Wahrheit hinter den Bäffchenphrasen, nämlich Rudis seeliche Zer= und Verstörtheit ja schon vorher bekannt war. Sehen ist eben immer noch etwas andres als wissen. Ich hätte es lieber gehabt, wir trügen das Notwendige nun alle mit Anstand und umwölkten es nicht mit der Posaunenphraseologie christlicher Jünglingsvereine.

Vormittags waren wir bei Nobel, nachmittags Ernst Simon und Ruth Nobel bei uns.

Eugen Dank für den Harnack der schön ist, mir aber teils von Harnack aus Kollegstunden, teils aus Tertullians Kampfschrift, schon bekannt (und daher in III 3 des * auch schon verwertet) war. Aber dass Harnack daraufhin reif für den * wäre, kann ich nicht finden. Sowenig wie ich selber ihn vor 1913 als ich selber noch Marcionist war hätte schreiben können.

Schon dich recht! Ich schreib dir schon nach Säckingen.

Hans mit seiner peripherischen Stellung zu den Dingen war mir eine rechte Wohltat.

Dein Franz.

22.11.21.

Liebes Gritli,  Eugen kam gestern Nachmittag, er war auch in der Bibelstunde, es war keine von den ganz grossen, obwohl wieder eine ganz andre als alle bisherigen (das ist ja jede; man kann nie sagen: nun weiss ichs wie ers macht). Heut Morgen sah ich ihn nur flüchtig, er kommt aber zu Tisch.

Von Rudi kam gestern wieder ein abscheulicher Brief. Ich habe nun gar keine Zeit zum Antworten in den nächsten Tagen. Es ist wohl auch zwecklos. Nicht dass er die Worte aus dem letzten Reich anwendet, macht ihn mir unmöglich, sondern dass er die Massstäbe für Lüge und Wahrheit verloren hat, dass er meint, es gäbe kein Erkennungszeichen ob Gott spricht oder der Teufel. Was doch so einfach ist. Der Teufel sagt immer nur:

Ich weiss nicht mehr was. Ich will lieber diesen Brief fertig machen. Eugen war mittags bei uns. Jetzt wollen wir Kaffee trinken.

Ich habe ein paar Tage jetzt sehr viel zu tun.

Dein Franz.

22.II.21.

Liebes Gritli,  heut war die Schlussvorlesung. Sie war etwas misslungen, obwohl sie glaube ich den Hörern Eindruck gemacht hat. Es war nicht alles klar, mir selber nicht. Während ich dann bei Nobel war, war Edith in einer Jugendversammlung und hat sogar in der Diskussion gesprochen, wahrscheinlich gut, aber ich bin doch froh dass ich nicht dabei war.

Aus Eugens Mauthnerkritik habe ich die herrliche Stelle über den Johannesvers ins Jüdische transponiert und ganz breit in die Stunde vorhin eingefügt – so geht das Plagiieren hin und her. (Tischdank, S.14, die sechste Bitte, in ihrem Verhältnis zu den drei vorgergehenden). Dann noch eine neue Theorie von Hans. Kurzum  — nun wer folgern will, kann folgern.

Dabei fällt mir wieder Rudi ein. Gottes Liebe ist es doch unmöglich, die den Menschen einsam macht. Das ist das Kriterium, das er nicht weiss. Er hält sich in seiner Einsamkeit und in seinem Umsichschlagen für einen Geliebten und Liebenden Gottes, statt für einen Geschlagenen. Das nenne ich die Lüge bei ihm.

Ich weiss wohl, dass es möglich wäre (vielleicht sogar mir), ihm die Augen zu öffnen. Aber das wäre nur durch Liebe möglich. Und die habe ich jetzt nicht in mir, ich fühle es zu deutlich. Es wäre eine Unwahrheit. Er fühlt eben das Richtige, er giebt ihm nur falsche Namen (nicht zu “letzte”, sondern einfach: falsche.

Edith sagte mir heute, dass du auch so gewiss wärest, dass es ein Mädchen würde. Ich habe ja komischerweise auch vom ersten Augenblick nichts andres denken können.

Dein Franz.

23.II.21.

Liebes Gritli,  in der Arbeitsgemeinschaft wieder ganze 4 Menschen! Dafür habe ich viel besser gesprochen als gestern in der Vorlesung!

Heut Abend war ich in einer Versammlung, meist Jugend, mehrere 100, – die kriege ich nun alle nie; sie sind “organisiert” und kucken nicht aus ihren Organisationen heraus. Insofern ist in einem weniger jüdisch beackerten Ort als grade Frankfurt viel mehr zu machen, etwa in Kassel.

Morgen Abend ist Eugen bei uns. Ich habe diese Tage ja soviel zu tun (er auch), dass wir uns nicht sonst sehen können.

Es ist ja ein Jammer, dass die Wohnung im Holzhausenschlösschen nicht möglich ist. Wir hatten schon immer danach geschielt. Aber wenn sie bewohnbar wäre, wäre sie es längst.

Bei uns ist heute das Wohnungsamt 5 Mann hoch gewesen und hat sehr bedrohlich ausgesehen. Man sieht den Dingen aber, wenn man erst mal drin sitzt doch erheblich ruhiger entgegen.

Dein Franz.

24.II.21.

Liebes Gritli,  Eugen konnte doch nicht, und nun wird es wohl bis Sonntag dauern, dass wir uns sehen. Die Vorlesung “Unsre Sprache” ist nicht zustandegekommen; für die paar die gekommen waren, habe ich eine Stunde gehalten, die wunderschön war. Aber nun bin ich für dies Trimester fertig. Nächste Woche habe ich nur noch Übungen und Hebräisch. Dabei freue ich mich aber schon auf den Sommer, und bin sehr neugierig wie die Hörerzahlen werden, wenn ich einmal nicht wie diesmal Vorsehung spiele.

Das Lernen bei Nobel wird auch gut für mich.

Dein Franz.

März 1921

17.III.21.

Liebes Gritli,  ich konnte leider heut vormittag nicht mehr kommen, noch nicht mal anrufen; ich musste mit Edith in die Stadt zu Besorgungen. Ich hätte auch Eugen gern noch gesprochen; eigentlich hatte ich gar nichts über Rudi von ihm gehört. Ich werde ihn ja wohl jetzt sehen, obwohl ich kein besonderes Bedürfnis danach habe. Überhaupt wünschte ich wohl diese 10 Tage wären schon herum; aber Edith freut sich darauf, schon einfach weil sie nichts zu tun hat; sie ist schon von der Aussicht ordentlich aufgeblüht, heut Morgen in der Stadt hatte sie ein Tempo, dass ich gar nicht mitkonnte!

In Wiesbaden gestern wieder kleines Publikum, die ein Dame, für die ich das vorige Mal gesprochen hatte – eine junge Lehrersfrau – war auch diesmal die Beste; der habe ich wirklich was gegeben. Sie sagte mir hinterher: das einzige, was nicht zu mir passe, sei dass ich über die geringe Hörerzahl geschimpft hätte. Sie habe noch nichtmal (nach dem ersten Mal) es Leuten sagen können, sie sollten hinkommen, – eben weil es für sie so etwas ganz Grosses bedeutet habe. – Also einem Menschen etwas gegeben und 300 M gekriegt und in einer Konditorei gewesen wie es in F. keine giebt – non frustra vixi!

Dein Franz.

18.III.21.

Liebes Gritli,  das Wetter wird schlecht! Ich fürchte, es wird nichts aus Amelith. Jedenfalls sind wir ja zunächst hier, und ich möchte Edith die Erholung vom Haushalt auch nicht verkürzen. Wir waren nach Tisch auf dem Friedhof. Im übrigen zuhause gelegen. Sag Eugen, ich läse jetzt Schellings “Darstellung des philosoph. Empirismus”, d.i. eine Übersicht über seine Gedanken, die er 1827 in München den Studenten vorgetragen hat. Sehr mässig. Ich glaube, die Weltalter sind wohl das Frischeste. So etwas schreibt man nicht zweimal. À propos “nicht zweimal” – Mutter sagt, Greda hätte deinen samtenen Stern? ich gerate ja nicht mehr in Paroxismen, aber ein bischen leid tuts mir doch, er war doch für dich gemeint.

Im Litteraturblatt der Frankfurter steht eine sehr ehrenvolle (Vergleich mit Gundolfs Goethe) aber völlig unter den Tisch fallende Abfertigung des Hegel. Mein Verhältnis oder vielmehr Unverhältnis zur Frkft. Ztg. ist die grösste Erschwerung, die meine Frankfurter Wirksamkeit finden kann. Und nun Hensel!

Was macht ihr?

Euer Franz.

19.III.21.

Liebes Gritli,  Frau Löwenherz kann uns in Amelith nicht brauchen, so fahren wir wohl nur zu ihr nach Lauenförde, dann etwa nach Münden, dann am Freitag nach Weimar, wo wir uns mit Ediths Eltern treffen, die nun doch nicht nach Frankfurt kommen. Da nehmen wir Ilse in Empfang und sind am Ostermontag wieder in Frankfurt. Edith wollte vorher hier bleiben, bei Mutter, noch richtig wandern, sie wollte bloss mit mir allein sein, was ja nun nichts wird; es wäre aber sowieso nichts geworden; entweder man ists auch bei andern oder man ists auch dann wenn man unter sich ist, nicht.

Der Schelling – ich habe ihn fertig – ist wirklich schwach. Er will freilich nur eine Einführung sein. Ich bin etwas in Lesestimmung. Jetzt lese ich einen meiner Vorgänger aus der ersten Hälfte des 19.scl, Steinheim “Die Offenbarung”; es hat ja damals eine ganze Gruppe jüdischer Religionsphilosophen gegeben.

Trudchen war heut Vormittag da. Ich konnte sie aber nicht sprechen und werde es leider auch nicht.

Ich lege dir ein paar Bilder ein, die du mal vor 3 Jahren gern haben wolltest und damals nicht bekamst. “Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle” –

Dein Franz.

20.III.21.

Mein liebes Gritli,  ich war ja selber traurig, dass mir die Absicht, noch am Donnerstag Morgen herüber zu euch zu gehen, vereitelt wurde; aber ich nahm es eben hin, wie ich jetzt all so etwas hinnehme, – als etwas was offenbar so sein muss; selbst telefonieren ging ja nicht, – weil es plötzlich “so eilig” war. Ich schrieb dir das ja schon aus der Bahn. Wir wollen uns aber nicht plagen. Es ist doch etwas an dem Zusammensein, und wir haben es nötig und wollen es nehmen, soviel es uns noch beschieden ist. Am Montag Abend sind wir sicher wieder da.

Ich war gestern bei Tante Julie; es waren schöne 1 1/2 Stunden, obwohl wir nur wenig sprachen; ich bin ihr so nah.

Heut Vormittag war Rudi Hallo da, dann auch Gertrud. Er erzählte noch viel von Scholem, auch von Übersetzungen, die er gemacht hat.

Gestern vor dem Abendessen waren wir zusammen etwas bei Pragers; sie kommen jetzt zum Kaffee. Es ist inzwischen ganz schlechtes Wetter geworden. Ob wir doch nach Lauenförde gehen? (Lauenf. a/Weser, bei Frau Komerzienrat Löwenherz). Wahrscheinlich ja. Es wird für Edith ganz gut sein. Eben sagt Edith, bei solchem Wetter bleiben wir hier. Also wir bleiben. Denn das Wetter verändert sich doch nicht.

Ich lese weiter im Steinheim; es ist sehr interessant für mich, wegen der Berührungen.

Helene rief an. Sie spürt seit neustem keine Bewegungen mehr und Rudi hört keine Herztöne. Wir sind sehr in Sorge. Bleib gut. Ich habe dich lieb.

Dein Franz.

21.III.21.

Liebes Gritli,  wir sind hier geblieben, obwohl das Wetter wieder gut geworden ist. Aber in Lauenförde – da es ja mit Amelith nichts war – wären wir ja nur mehr geniert gewesen. Hier haben wir heut einen weiten Spaziergang von 10-5 Uhr gemacht, ich mag es freilich nicht, ich bringe es nicht recht fertig.

Die Kinder sind hier. Maria ist ganz famos geworden. Sie ist jetzt mehr Rudis, Hilla mehr Helenes Art. Sieht man die beiden, so ist das mit der zerstörten Hoffnung nicht mehr so schrecklich. Helene scheint es auch sehr tapfer zu tragen. An diese Erfüllung meiner bösen Ahnungen hatte ich nicht gedacht. Es ist wie vor 3 Jahren. (Das Kind ist ja sicher ein Junge, – da ist gar kein Zweifel. Es hätte Franz. heissen sollen!)

Ich scheine in eine neue Fleissperiode hineinzusteuern; es macht mir wieder Freude, Bücher zu lesen.

Ob du doch nach Heidelberg bist?

Dein Franz.

22.III.21.

Liebes Gritli, ich war bei Trudchen heut Vormittag und mit ihr auf Wilhelmshöhe. Von Rudi kam das Neue, das er dir ja natürlich auch geschickt hat, es ist ja (abgesehn von den etwas herausfallenden Schlusszeilen) sehr gut; aber ich weiss nicht, warum er das jetzt hat machen müssen; das interessiert doch (von uns) jetzt keinen Menschen mehr, auch ihn selber kanns nicht interessieren; es ist doch nur zum Veröffentlichen. Aber etwas von diesem “für die Öffentlichkeit” ist ja jetzt überhaupt in ihm. Die “Schatten” hat er hier nicht bloss Mutter und Traubenberg, sondern am folgenden Tag auch noch Ehrenbergs vorgelesen. Und die waren doch wirklich noch reichlich nass. Wann wird das tote Kind wohl in Maschinenschrift umgewertet sein? Er ist eben ein Dichter, da ist nichts zu machen. Grade das Neuste ist wirklich wieder ein bewundernswertes Stück. Aber mehr wie bewundern kann ich nicht, und seine Manier mit den Schatten hausieren zu gehen, hat mich auch da nachträglich vollständig zum “Bewunderer” gemacht.

Auf morgen haben wir uns mit Rudi Hallo und Gertrud R. zu einem Ausflug verabredet.

Ich lese viel, u.s.w.

Mutter hat hier allerseits erzählt, ihr alle, auch du, auch Eugen, fändet euch in dem Wunsch, dass ich aus dieser schrecklichen jüdischen Atmosphäre Frankfurt herauskäme. Es ist nicht gut, dass man ihr so nach dem Munde gesprochen hat; dadurch habe ichs ja nur schwerer mit ihr. Selbst wenn es eure wirkliche Meinung wäre, wäre es noch nicht Mutters Meinung; denn für Mutter ist das Gegenteil von jüdisch ja nicht christlich, sondern preussisch, professoral und vorzeigbar vor Frau v.Plitz und Frl.v.Plotz. Aber ausserdem ists ja gar nicht eure Meinung, deine ganz gewiss nicht, du hast es sicher nur im Scherz gesagt, aber du weisst doch, dass an diesem Punkt Mutter keine Scherze versteht.

Es ist herrliches Wetter hier. Ich wüsste doch gern, wie es dir geht. Ich verstehe ja, dass du nicht schreibst, aber so gut wie ich könntest du es auch.

Dein Franz.

22.III.21.

Liebes Gritli,  Mutter und Edith sind in einem Kirchenkonzert, ich mochte nicht mitgehen. Ich vertrage keine Musik mehr; ich bin in den ganzen Tagen hier noch keinmal darauf gekommen, den Apparat loszulassen.

Dein Brief nach Lauenförde kam schon mit der Nachmittagspost hier an, offenbar durch Gelegenheit. Du willst Genaueres von Helene wissen? Sie ist in der Klinik. Der Arzt will die Entbindung beschleunigen, hofft es ohne operativen Eingriff durch sog. künstliche Wehen (mit einem Pulver oder so) herbeizuführen. Davon dass das Kind doch leben könnte, spricht keiner; es gilt für sicher. Mutter hat nur mit Helene selbst gesprochen am Telefon!

Die Kleinen sind famos. Hilla wird schön. Aber das Kleine ist jetzt der Clou.

Du darfst für dich nichts fürchten. Wenn ich je sicher bin, dass es gut verläuft, dann bei dir und Magikeli.

Ich meine nicht, dass ich dir kalt schreibe. Nur aus diesem resignierten Gefühl, das mich nun einmal nicht verlässt. Ich gebe dir was da ist. Dass es ein Nichts ist, weiss ich selber. Aber dies Nichts ist nun einmal jetzt mein Inhalt. Du musst schon damit zufrieden sein, dass ich dir wenigstens den gebe. Lohnen tut er das Geben freilich nicht. Aber so wie du fühlst, dass im Zusammensein selber ein Trost ist, so ists auch im Sichschreiben. Nur ein Trost. Mehr ist auch ein Zusammensein nicht. Wenn es nicht geht, wie an jenem Morgen, wo wir Mittags wegfuhren, letzten Donnerstag, dann senke ich eben den Kopf und lasse die Hände fallen und sage zu mir: nun ja – und: so ist es jetzt denn. – Früher hätte ich da aufbegehrt, und gesagt: es darf nicht sein. Und da wäre es nicht gewesen.

So begehrt jetzt nichts in mir auf, wenn deine Briefe ausbleiben, wie doch früher. Aber es ist ein Trost wenn sie kommen. Und mir, dir zu schreiben. Wir sind ja noch zusammen auf der Welt. Wir sehen noch das gleiche Licht. Auch wenn wirs nicht mehr in einander und durch einander sehen. Es ist doch noch die eine Sonne, die uns beiden scheint. Grade in diesen schönen Tagen. Ich denke an dich. Und an das Kleine.

Dein Franz.

23.III.21.

Liebes Gritli,  wir waren zu vieren in Wilhelmstal; es war ein ganz sommerlich warmer Frühlingstag; wir lagen stundenlang auf einer Bergspitze.

Ich fahre Morgen Nachmittag zu Rudi; er hat es gewünscht. Übermorgen fahren wir nach Weimar.

Rudi hat das Münstergedicht neulich in Kassel konzipiert und neben der Lektüre im Stern geschrieben, schreibt er. – Dadurch wird mir jetzt verständlicher, wie er dazu kam, es jetzt noch zu schreiben. Schön ists; ich habe es nochmal gelesen. Bis auf die Schlusszeilen, die zu kitschig deutlich sind.

Ich lese Cohen; Mutter hat das Buch ja auch.

Dein Franz.

24.III.21.

Liebes Gritli,  ich schreibe aus der Bahn auf der Rückfahrt von Göttingen. Helene geht es unverändert. Mit Rudi war es “zeitgemäss”, – ich habe kein andres Wort dafür. Das Leben liegt wie eine Ebene vor einem.

Basel ist übrigens durchaus noch nicht abgetan. Wir fahren also morgen nach Weimar, trotz der Unruhen.

Im Cohen bin ich jetzt an den Stücken, die ich 1918 auf der Fahrt nach Mazedonien las.

Das Münstergedicht bring ich dir mit. Es ist jetzt, nach einer kleinen Streichung am Schluss, sehr gut.

Helene war nett. Man kann noch nicht einmal laut aufschreien. Wie es ist, so ist es.

Dein Franz.

25.III.21.

Liebes Gritli, in Weimar! Aber gar nicht in Weimar. Ich ertrage es nicht, und bin infolgedessen unerträglich. Schwiegereltern sind ja schon an sich eine Aufgabe. Weimar ist auch eine. Und nun gar Schwiegereltern in Weimar. Morgen werde ich mich etwas von der Welt zurückziehn und Edith mit ihren Eltern allein lassen. Ich störe zu sehr.

Auf der Fahrt las ich wieder viel Cohen. Es ist doch viel Übles in dem Buch, neben ganz herrlichen Sachen. Gesprochen ists ja meist, als ob die deutsche Sprache noch nicht erfunden wäre; er hat da eine Horde von Wörtern “vollziehen” “Aufgabe” “erzeugen” “Problem” “Kultur” “in Gemässheit” “Methodik” – ob ihn wohl je ein Mensch gefragt hat, was er sich dabei eigentlich gedacht hat? O welch einen edeln Geist habt “ihr” da zerstört, ich meine: ihr Deutschen. Wo er jüdisch spricht, da (und nur da) spricht er plötzlich gutes Deutsch!

Wir wohnen im Hotel Augusta am Bahnhof, schlecht und recht.

Im Elefanten, wo die Schwiegereltern wohnen, war kein Platz mehr.

Mein Schwiegervater ist übrigens so rapid gealtert, dass ich froh bin, dass Edith ihn sieht.

Ich habe merkwürdige Einsichten über den koscheren Haushalt bekommen. Es ist doch eine ungeheure Sache.

Dein Franz.

26.III.21.

Liebes Gritli,  mir ist nicht wohl in Weimar. Ich schrieb es dir ja schon gestern, ehe ich deinen Brief hatte. Allein kann ich nicht sein, und mit Edith (und gar mit ihrer Familie) bin ich nicht in Weimar. Sie sind ja alle so – ich habe kein andres Wort dafür – “goiisch”. Sie wissen von Goethe und Schiller doch nur, dass sie eine Anzahl Gedichte gemacht haben, die auf der Schule gelesen werden. So bleibt mir nichts, als so zu tun als ob ich nicht hier wäre und mich nach Kräften in “Arbeit” zu vergraben. Was ich ja nun wohl überhaupt für den Rest meines Lebens tun werde. So tun als ob ich nicht da wäre.

Die Servietten sind nicht mehr im Schwan. Es sind gewöhnliche weisse Papierservietten da. Natürlich.

Rudi fühlt sich grade von dir “unter Verschluss gesetzt”. Das Gedicht bringe ich jetzt mit.

Hans drängelt immer noch, ich solle über Schelling arbeiten. Meine Freunde sind komische Leute. Über das Hegelbuch, das geschrieben ist, zucken sie alle mitleidig die Achseln. Aber alle wünschen dringend ich soll nun ad infinitum weiter so Sachen schreiben, die sie (und mich) nichts angehn. Im Grunde ists doch nur das peinliche Gefühl, dass das Judentum eine lebendige Angelgenheit sein soll. Das muss aus der Welt geschafft werden, und wenn man zu dem Zweck auch alle schon praktisch und theoretisch gefällten Urteile über die “deutsche Universität” zurücknehmen müsste. Grade ich, ausgerechnet ich, der sich nie habilitieren wollte, grade ich soll mich jetzt in diesen Kessel werfen. Dann sollens mir Hans und Eugen erst mal vormachen. (Und selbst dann mache ichs ihnen noch nicht nach).

Ich wollte, der 28te wäre erst vorüber –

Dein Franz.

April 1921

[Ende April ? 21]

Liebes Gritli,  nachmittags waren Eugen und Ernst S. da, nach Ruths Stunde, die wieder sehr schön war. Ich habe eine Idee, morgen werde ich sie Nobel sagen. Du weisst vielleicht, dass Nobel als jüdisches Gegenstück zum Pater Prowe einen Lerhauftrag an der Universität haben soll. Nun ist jetzt Rabin der ein Lektorat für Rabbinica hier hatte, nach Breslau berufen, ein Nachfolger nicht vorhanden. Nun meine ich: Nobel sollte als Rabins Nachfolger Rabbinica und historische Rel.philosophie nehmen und mir das Gegenstück zu Prowe (als “systematischeRel.phil”) überlassen, bzw. verschaffen. Dann gehe ich nicht nach Hamburg. Meine Stellung hier wäre damit äusserlich und innerlich verbessert, und Nobel und ich zusammen wäre ein glänzender Anfang für eine jüdische Fakultät. Das ist ja die Form, in der ich an die Universität gehen kann. Ich habe höchstens das Bedenken, ob es nicht etwas verfrüht ist (für mich). In ein oder zwei Jahren wäre ich weiter. Aber gehen tut es auch jetzt, und die Mehrbelastung (etwa eine zweistündige Vorlesung und eine Übung) nicht so gefährlich. Mit Ernst und Eugen hab ich schon gesprochen, morgen sage ichs Nobel, von seiner – nicht bloss Zustimmung, sondern wirklichen Dafür = Erwärmung hängt natürlich alles ab; wenn ers wirklich will, ists sofort gemacht.

Dein Franz.

Mittwoch [Ende April ? 21]

Liebes Gritli,  die Blase ist schon wieder zersprungen. Nobel will nicht. Es ist auch viel komplizierter als ich dachte. Für Nobel selbst ist es noch gar nicht so sicher, und er will seine Sache nicht mit meiner dazu belasten. So sieht er es an, und ist in grosser Sorge, ich könnte ihm “entgegenarbeiten”. So wird es also natürlich nichts. Und damit rückt nun Hamburg doch sehr in die Nähe, mehr eigentlich als ehe ich den Gedanken hatte. Es war eben etwas zu früh. In zwei Jahren werde ich selbst und mein Renommee reifer sein, und bis dahin muss ich abwarten. Auch nach Hamburg gehe ich ja nur, wenn ich die Gewissheit habe, Zeit zum eigenen Lernen zu behalten.

Ich bin auf der Rückreise von Hanau. Frau Nussbaum ist schon fortgeblieben! Mit denen die da sind geht es mächtig vorwärts.

Eugen habe ich heut vergeblich zu erreichen gesucht.

Nobel fragt viel nach Eugen. Ernst Simon war ja so begeistert von ihm. Ich glaube, Eugen hat er auch gefallen.

Dein Franz.

[Ende April ? 21]

Liebes Gritli,  beim Arzt! ich glaube ich habe von meinem Schnupfen etwas in der Stirnhöhle übrig behalten und da will ich lieber gleich was tun.

Heut früh war ich bei Eugen, er war mittags bei uns. Er hat mir die Komplikation mit seinen Eltern erzählt. Ganz so kompliziert ist es ja nicht. Der Vater darf nur einfach jetzt nicht nach Freiburg und in Baden muss man ihm etwas Besseres zur Unterkunft suchen. Ich habe Eugen angeboten, ev. Sonntag nach Freiburg zu fahren, aber es wäre wohl kaum das Richtige.

Der Doktor hat Eiter in der Stirnhöhle gefunden und nun giebts eine Weile lang Auspumpungen und Kopflichtbäder! Da habe ich meine Verpäpelung[?] teuer bezahlt! Übrigens ists ein reizender Kerl, ein Dr. Fleischmann, von Koch empfohlen, der mit einer langwierigen Gallenkolik liegt.

Heut Abend fangen wieder Festtage an. Auf morgen Mittag haben wir Eugen gebeten.

Ich lerne wie doll arabisch. Zum dritten Mal! Erst 1914/15, dann 16/17, und jetzt. Diesmal will ichs dann [?] aber nicht wieder einrosten lassen.

Dein Franz.

30.IV.21.

Liebes Gritli, durch Eugen erfuhr ich heute, dass du noch gar nicht in Säckingen warst; so haben dich meine 3 Briefe nicht erreicht. Auch jetzt merke ich, weiss ich gar nicht genau, wo du bist, ob du von Baden = Baden nochmal zurück nach Stuttgart fuhrst oder gleich nach Säckingen. Aber es ist ja ziemlich egal.

Dass Eugen mittags hier war, hast du inzwischen schon von ihm selbst gehört. Nach Hamburg schreibe ich heute Abend. Eigentliche Lust habe ich ja nicht, aber ich glaube doch (oder deswegen) sicher, dass es was wird. Das Beherrschende ist auch hier das Gefühl kolossaler Wurstigkeit; irgendwie und irgendwo werde ich schon existieren.

Es waren hübsche Tage. Nobel hat wieder schön gesprochen, wenn auch nicht so wie das letzte Mal. Das ist ja immer so, dass man nach einem Höhepunkt sich nicht gleich wieder erreicht.

“Fräulein” ist heute abgegangen. Sie ist Edith zum Abschied um den Hals gefallen! Wir waren alle sehr angenehm erleichtert, als sie fort war. Auf Montag oder Dienstag hat sich Gerhard Scholem angemeldet.

Dein Franz.

Mai 1921

1.V.21.

Liebes Gritli,  Ediths Umräum= und Packtag – sie ist so kaput, dass ich wirklich froh bin, dass sie wegkommt, – sie ist immerfort am Weinen und auf der Strasse hat sie heute ihr Handtäschchen aufs Pflaster geschmissen! Nachmittags war ich bei Sommers; es war eine nette Theegesellschaft, eine Freundin von Karl v.Noorden war da, Frau Seegers oder so ähnlich (der Mann hat das städtische Gewerbegericht), eine schöne Frau. Auch sonst allerlei interessante Leute, zuletzt war ich in einem grossen Duell mit einem Husserlianer – ich kenne Husserl jetzt vollständig, bloss von seinen Schülern, aber nicht deswegen erzähle ich es dir, sondern wegen der Versöhnung am Schluss, wir fielen uns nämlich beinahe in die Arme: der Mann ohne Namen! Wir haben übrigens neulich hier den ersten Teil gesehen, der ist ja genau so schön wie der Löwenteil.

Mich plagen aber solche Gespräche jetzt; ich rede etwas, was ich gar nicht mehr leben darf, wenn ich existieren will. Ich brauche ja all die Dinge, gegen die ich als Denker eifre: Haltung, Unempfindlichkeit, und Herrschaft über das Schicksal.

Dein Franz.

[4.? V.21.]

Liebes Gritli,  ich kam durch meinen Besuch in den letzten beiden Tagen nicht zum Schreiben. Du willst von Montag früh wissen. Also: es war im ganzen sehr schön. Der Minister sprach passabel, der Sozialist Thomas famos und Eugen wirklich gut. Er ist ja wirklich unfähig zu einer Menge zu sprechen, da wirkt alles wie abgelesen. Aber nachher die eigentliche Rede hatte er sich aufgeteilt in lauter Ansprachen und das ging. Obwohl man auch da das Vorbereitete durchspürte, aber doch wohl nur unsereins. (Den Arbeitern z.B. sagte er einfach nochmal seinen Brief an Eugen May). Wie er jedesmal grade das Negative betonte, das wirkte stark, am stärksten wie er es den Arbeitern gegenüber tat; da hielt alles den Atem an. Ich war nachher mit deiner Mutter zusammen. Entsinnst du dich noch an das letzte Mal in Stuttgart? Haben wir uns da wirklich auf Gegenseitigkeitgeduzt? sie sagte es, aber ich stolperte jedesmal, und noch jetzt in Gedanken, über das Du von mir zu ihr; ich glaube sie irrt sich.

Abends war Scholem da und der hat mich bis gestern Nacht nicht zur Ruhe kommen lassen. Ein ganz doller Kerl. Ein jüdischer Mönch. Einer, der sein Leben geopfert hat, um zu lernen. Ganz unvorstellbare Gesichter, (nicht ein Gesicht). Er kann ganz aussehn wie ein Ostjude, und dann wieder wachsbleich und entzündet wie ein Engel. Dazwischen wie ein dummer Junge. Als er sich angemeldet hatte, dachte ich, ich müsste ihn lehren. Als er da war, meinte ich, ich müsste mich an ihm ärgern. Und ein paar Stunden später merkte ich, ich müsste nur von ihm lernen. Das tat ich dann und habe dabei allen Respekt den er für mich mitgebracht hatte, ins Spiel hineingeworfen, so dass er nichts mehr davon nachhause mitnimmt.

Das Lehrhaus hat angefangen. Montag mit zweimal Strauss und recht befriedigendem Besuch. Gestern mit meinen beiden hebräischen Kursen, die jammervoll besucht waren. Heute Nachmittag meine Vorlesung.

Eugen hat beim Minister gehorcht, wie es hier mit den Universitätsmöglichkeiten steht. Es ist gar nichts.

Mutter liegt ganz unbeweglich! sie hat einen Pflegerin nehmen müssen. Es ist viel schlimmer als in Wildungen. Eben fällt mir ein, dass ich vielleicht morgen mal hinfahre. Über Pfingsten werde ich doch nicht können, obwohl ich ja wohl auf der Hin= und Rückreise durch Kassel durchkomme.

Deinen Traum habe ich im wachen Leben der letzten Wochen oder Monate gelebt. Ich hätte oft aufschreien mögen. Fast bin ich jetzt ruhiger.

—-

Dein Franz.

Donnerstag [5.V.21]

Liebes Gritli,  ich bin unterwegs nach Kassel. Morgen fahre ich zurück. Eugen kam gestern nicht zum Mittagessen in die Stadt wie wir verabredet hatten, auf der Universität war er Nachmittags um 4 und um 6 auch nicht, so habe ich ihn nicht gesehen.

Meine Vorlesung habe ich gestern eröffnet, ziemlich unter Aussschluss der Öffentlichkeit. Trotz Sommer ist mir meine Abgenutztheit für Frankfurt sicher. Ein Publikum wie dort kann ich überall haben. Dabei schiebe ichs gar nicht auf die Leute, sondern muss schon die Ursache in mir selber suchen. Ich bin kein guter Redner, und das wird nun mal verlangt. Auf der Universität würde sich das übrigens im gleichen Sinn bemerklich machen, ich würde da auch nur ein paar Leute haben. Ich brauche also – das ist die Folgerung daraus – ein Publikum, das muss. Also Schulkinder. Also Hamburg. Ich kann mich dem immer weniger verschliessen. Oder ich müsste mir sagen: es ist verfrüht, schon arriviert sein zu wollen, sozusagen schon Ordinarius; ich muss mich zunächst verhalten wie ein junger Privatdozent, für den auch das Lernen noch wichtiger sein muss als das Lehren. Mit dem Panzer solcher Wurstigkeit angetan könnte ich es wohl noch in Frankfurt aushalten.

Schön wars dafür in Hanau. Ich las den 124. Psalm. Hätte ich nur so eifrige 20 wie dort in meinem Hebräisch in Frankfurt! In Frankfurt habe ich eben nicht, was ich in Hanau hatte: Zutreiber. Ich kann nicht mein eigener Zutreiber sein.

Am schönsten aber war es vorher, von 4-6, im Arabischen. Das ist eine zu bezaubernde Litteratur. Wir lasen 2 Geschichten aus dem Hofsänger = Kreis Harun al Raschids. Ich kam auch sprachlich besser mit als ich erwartet hatte. Und der Professor weiss wenigstens viel, wenn ers auch nicht versteht.

Meine Vorlesung war übrigens gestern auch so la la. Sehr locker, mehr Kapuzinerpredigt als Vorlesung.

Ilse ist lieb.

Ich habe Bauchgrimmen. Und immer noch Dreck im Schädel.

Dein Franz.

6.V.21.

Liebes Gritli,  ich bin auf der Rückreise von Mutter. Es ging ihr wieder viel besser, sie hat eine sehr nette Schwester, die natürlich glücklich ist über die angenehme Stelle und nur jammert, dass sie nicht genug zu tun hat. Faute de mieux nahm sie auch mich als Patienten mit meinem verdorbenen Magen. Mutter hat wirklich noch ihre grossen Reisepläne. Ich will hoffen, dass es was wird. Inzwischen hat sie ihre schlaflosen Nächte dazu benutzt, ihre sämtlichen Sachen zu – vermachen. Wir hätten ja doch keinen Platz dafür! Z.B. ihre Bücher!!! Teppiche, Bilder, – was weiss ich. Rudi und Helene hätten es auch sehr richtig gefunden (Das glaub ich!). Sie hat eben gar keine Vorstellung davon, dass ich einmal später anders leben muss als sie gewohnt war und dass ich z.B. nie mir einen anständigen Teppich anschaffen könnte u.s.w., sondern nur durch solche ererbten Sachen meinem Leben noch einen über = kleineleutemässigen Rahmen geben kann. Der letzte Grund (den sie sich nicht eingesteht) ist, dass sie Edith nicht leiden kann und ihr deswegen nichts gönnt. Sie hat eine Liste mit vorläufig 20 Familien aufgestellt, in die sie ihren Haushalt zerstreuen will. Wenn sie ihnen bei Lebzeiten was schenken würde, Geld oder gekaufte Sachen, so wäre es mir wahrhaftig recht und sie hätte mehr davon; aber das will sie nicht, weil sie weiss, dass sie damit mir und Edith keinen  Tort antäte. Es ist sehr eklig. Ich schreibe es dir (obwohl ihr ja sicher auch unter den posthumen Beglückten seid) weil ich mich sonst an Edith ausschreiben würde und die hat wirklich schon keinen besondern Grund, ihr gut zu sein. Habe ich dir damals eigentlich von dem infamen Brief erzählt, den sie an uns geschrieben hat? auf den ich sehr grob geantwortet habe, worauf sie nicht mehr darauf zurückgekommen ist?

Aber es war trotzdem nett. Böse kann man ihr ja schliesslich doch nicht sein.

Vorhin auf der Fahrt hinter Marburg hatte ich einen Wachtraum. Ich sah plötzlich einen der nächtlichen Lagerplätze auf der Flucht aus Mazedonien, ganz deutlich. Da stieg eine solche Sehnsucht in mir auf nach jener Zeit, dass ich gern gleich gestorben wäre, statt so weiterzuleben.

Dein Franz.

7.V.21.

Liebes Gritli,  wir gehen morgen in den Odenwald mit Hans zusammen. Eugen habe ich geschrieben, so dass er mitkann. Gesehen habe ich ihn ja seit Donnerstag nicht. Dass er “rednerisch” enttäuscht hat, hörte ich inzwischen auch von Fremderen; aber über den Inhalt Ein Lob.

Wir waren gestern Abend bei Nobel, heut Mittag bei Lazarus, Nachmittag bei Mayers. Das Kind ist noch greulich. Die Eltern etc. um so netter. Mayer liest den * und bewundert ihn sehr. Aber den Eindruck, dass sich hier etwas für mich machen würde, habe ich doch nicht. Hoffentlich machen mir die Hamburger kein zu günstiges Angebot.

Ich habe viel über Rudi nachgedacht. Du weisst, dass er die “Mutter” auch in Kassel vorgelesen hat! und sehr entrüstet über mangelnde Anerkennung seitens Tante Emmy war. (Er wünsche aber nicht, dass sein Vater es erfahre, dass er es vorlese, sagte mir Mutter). Greda degoutiert am Münstergedicht u.a. der “Lodengeruch”.

Mich degoutiert ganz was andres.

Dein Franz.

8.V.21.

Liebes Gritli,  wir waren mit Hans einen wunderschönen Tag an der Bergstrasse von Bensheim angefangen und in Auerbach geendet. Es ist diedeutsche Landschaft, Berge Wälder Schlösser und weiter Blick hinunter zum Rhein. Hans ist kolossal im Schreiben drin. Er schreibt auch was Philosophisches, ausser dem zweiten Dialog. Als wir zurückfuhren trafen wir Michel; er ist ein wirklich netter Mensch. Dadurch hörte ich auch von Eugen. Wir gingen noch zusammen ins Kino, leider nicht in den Mann ohne Namen. Mittags sahen wir (Hans und ich) zusammen – einen Antiquariatskatalog durch! du hättest gelacht. Es war aber sehr schön.

Gute Nacht.

Dein Franz.

9.V.21.

Liebes Gritli,  ich habe viel zu tun, der Tag läuft nur so hin. Es gab schöne Stunden von Strauss. Aber Eugen war nicht da, so habe ich ihn wieder nicht gesehen.

Allmählich sage ich mir, das gescheiteste ist, ich bleibe hier. Augenblicklich habe ich noch nicht nötig, mich zu verbeamten, und in einigen Jahren, wenn ichs will, kann es mir noch weniger fehlen als heute. Immerhin will ich hin nach Hamburg, damit die Sache irgend eine Folge gehabt hat.

Es war so ein schöner Tag gestern.

Dein Franz.

10.V.21.

Liebes Gritli,

diese Tage sind alle besetzt, es ist noch ganz gut so. Stunden, die ich gebe und nehme. Nobel, Ruth, Lehrhaus – es wäre kein schlechtes Leben. Es ist es aber doch.

Edith scheint sich etwas zu erholen. Hamburg wird sie ja dann wieder herunterbringen, allein schon die Reise.

Eugen habe ich wieder nicht gesehen. Ich habe ihm heute eine Karte geschrieben, für den Fall, dass Michel neulich meine Bestellung nicht ausgerichtet hat.

In Hamburg? bei Rabbiner Dr.Sonderling[?], Rothenbaumchaussee 152. Wir sind ja nur Sonnabend bis Montag dort.

Ich kann gar nicht schreiben.

Dein Franz.

Ich kann nicht schreiben, weil mich deine Einsicht ergreift. Aber es ist doch nicht wie in Aulis. Es ist kein Opfer. Denn wärest du nicht “entrückt” worden, so hätte ich es nie bringen können. Also ist es kein Opfer.

Ich will noch etwas dazu schreiben –

11.V.21.

Liebes Gritli, also morgen Abend fahre ich, und da Ediths kleines u. inzwischen auch eingetroffen ist, so steht nichts im Wege. Ich habe einen pompösen Plan erdacht, den ich den Hamburgern vortragen werde. Da werden sie wohl sicher anbeissen. Hier ist er nicht zu verwirklichen, weil hier zu viel eingefahrene Geleise sind, aus denen niemand die Karren herausbringen kann. Hamburg ist Neuland. Lust habe ich natürlich trotzdem keine.

Ich habe sehr versucht Eugen zu treffen, aber es ist wieder nicht gelungen. Von ihm habe ich die beiliegende wunderbare Weigerung, mich zu treffen. Immerhin brauche ich nun wenigstens morgen nun auch nicht mehr auswärts zu essen, sondern wir essen bei Rothschilds, was ich bisher nur nicht getan hatte, um Eugen treffen zu können.

Ich habe eine gute Vorlesungsstunde gehalten und auch eine schöne Stunde in Hanau (Ps. 130). Davor Arabisch. Früh Nobel. So sind jetzt meine Tage. In Hamburg wird es vielleicht bis zu 18 Stunden wöchentlich, also die ganzen Nachmittage. Mein Plan ist: kombiniertes Lehrhaus + Schule, und verbunden mit Heranziehung von 1 oder 2 Helfern, die zu Nachfolgern werden können, wenn ich weggehe.

Nachts werde ich ein paar Stunden bei Mutter sein.

Ich habe Sehnsucht nach dir. Aber wie über einen Abgrund hinweg.

Dein Franz.

13.V.[21]

Liebes Gritli,  in “Ülzen” – ein schöner Name, so ist alles hier. Ich fuhr gestern Abend ab von Frankfurt. Nach allerlei Schwierigkeiten habe ich sogar Eugen noch gesprochen; vormittags als wir uns verabredet hatten, war er – drei Mann hoch angerückt. So gut mir Michel und Schlünz[?] “an sich” gefallen, so wurde ich doch grob. Am Nachmittag kam er dann allein. Ich habe das Cohen = Seminar doch begonnen; eine Dame gefiel mir.

Mutter habe ich 3 hübsche Stunden lang nachtbesucht. Die Ärzte haben vorläufig mal Arthritis deformis der Wirbelsäule konstatiert. Das Fieber ist aber damit noch nicht erklärt. Gut dass sie wenigstens die nette Schwester hat und selber jetzt grade einen Überschuss an Liebes= und Lebenskraft zuzusetzen. Wenn du ihr mal ein Wort schreibst, würdest du ihr sicher eine Freude machen, auch wenns nur ein kuzes Blättchen wäre.

Edith ist doch sehr erholt. Wenn wir in Hamburg vorsichtig  sind, so glaube ich, wirds ihr nichts schaden.

Die erste Stunde gestern habe ich nur seine Biographie erzählt. Auf nächstes Mal habe ich die ersten 40 Seiten zu lesen gegeben; falls du es mitmachen willst; es wäre mir recht. Es ist Donnerstag um 4 Nachmittags bei mir, bis 5 oder allenfalls 1/2 6. Die Frau Mirzbach würde dir auch gefallen. Studenten kommen höchstens zwei, sonst nur die 4 Damen (drei Frauen und eine Gans).

Wir fahren Personenzug. Die Menschen sehen verblüffend norddeutsch aus. Ich habe beschlossen, meine Gehaltsforderung auf 45000 zu erhöhen. Wenns so weitergeht, bin ich bis Hamburg bei 50000.

Dein Franz.

Juli 1921

3.VII.21.

Liebes Gritli,  aus psychologischen Kontinuitätsgründen muss ich dem Brief an Eugen noch das Blatt an dich beifügen. Die “erste Woche” ist halb fertig. Es wird vielleicht doch hübsch.

Edith schreibt folgendes Gespräch zwischen Frau Dr.Flake und Ate:

Die Mutter: Wem sagst du zuerst Gute Nacht?

Ate: Dir Mama

Mutter: Und wer kommt zuletzt dran?

Ate: Der liebe Gott

Mutter: Aber den giebts doch garnicht.

Ate: Doch, ich weiss bestimmt.

Mutter: Na, wo ist der denn, ich habe ihn noch nie gesehn.

Ate: Sehn kann man ihn auch nicht, er ist ganz zuhinterst im Himmel, soweit kann man gar nicht gucken, aber er kann überall       gucken.

Mutter: Unsinn, ich glaub’ nur, was ich sehen kann.

Ate: Aber geben tuts ihn doch.

Dein Franz.

8.VII.21.

Liebes Gritli,

wir fuhren unter Assistenz von Herrn Markowitz, der uns noch das ostjüdische Antlitz und einen glühenden Dankbrief schenkte, ab, – der Brief in seiner jungenhaften Ehrlichkeit und Aufgestöbertheit wirklich famos, – und kamen in das wunderschöne Langenschwalbach. Die Pension von Frau Flake ist weniger schön, sie selber aber sehr nett, es war eine doll literarische Luft, man fühlte sich so im Schwerpunkt einer Fläche, die von Kurt Wolff, S.Fischer, Rütten u. Löning und dem Neuen Merkur begrenzt wird. Die Nochnichtexistenz von Patmos wurde mir dabei auch bewusst. (Aber verrat das Hans nicht, – und eventuell, wenn er grade wieder drin steckt, Eugen auch nicht). Die Susmann ist ein grosser Name und die Tatsache, dass sie mich neulich in dem Feuilleton in der F.Z. “miterwähnt” habe, gab mir eine gewisses Relief. Eugen steht in wohlwollender Erinnerung.

Obs für Edith das Richtige ist, ist mir zweifelhaft. Etwas mehr Langeweile und weniger expressionistische Kultur täte ihr wohl besser. Aber nun ist sie mal da.

Heut war ich also Mittags 2 Stunden bei Fritzsche. Das war wohl, was ich erhofft hatte. Ein, scheinbar kinderloses, Ehepaar in den 50er und 60er Jahren. Sie die Aristokratin immer noch, aber von einer lieblichen Gescheitheit, er ganz der gelehrte Literat, eine Wohnung voller Geister. Ein Vortrag (in der Reihe “Der Neue Geist”) “Volkstum und Menscheit” kann Eugen einen gewissen Begriff von ihm geben, er zitiert Moses und Paulus ebenso sorgfältig mit Quellenangabe wie Hettner, Cohen und Naumann. Das Cohenbuch wird eine Paraphrase über das Thema. Die eigentlichen Logia schimmern nur noch durch. Er hat sie schon in seinen gleichzeitigen Tagebüchern so mit Reflexion übersponnen (aber mit Goldfäden). Er las mir aus den Zetteln vor, in die er sein Tagebuch schon aufgelöst hat. (Aber schreiben tut er dann auswendig und benutzt die Zettel erst wieder zur Korrektur). Er klagt, dass er die Erinnerungen den Leuten (und was für Leuten!) preisgeben werde. Aber es müsse sein; die”Marburger Schule” dürfe nicht mehr das Wort behalten und ihn zu einem “Auch einer” neben Adlatus [?], Rickert e tutti quanti machen. Er hat also (obwohl er wirklich Schüler (im besten Sinn, schon fast Jünger) ist, die selbe Wut auf die Schule und ihr Skeletttieren des Menschen zum Schulpapa, wie ich.

Herrliche neue Logia habe ich natürlich auch gesammelt. {Aber das Schönste gestern von Buber oder aus seiner Gegend – Buber ist auch, wie Hans, dreimal nach Darmstadt telefoniert worden und nicht gekommen; damit hat er wirklich gutgemacht, was er selber durch seine Asienpropaganda hier gesündigt hat, – also:

Gangeshofer

Revenions: also Fritzsche war 4 Jahre verheiratet, da bekam er mal einen Katzenjammer und sagte zu seiner Frau (die infolge ihrer langen verhergehenden Bekanntschaft mit einer kostbaren liebevollen Objektivität von ihm spricht), also er jammerte, dass er in Giessen  so niemanden hätte, da sagte sie – ohne irgendwas zu wissen, ganz instinktiv: fahr doch mal nach Marburg zu Cohen. Er wusste auch noch nichts von ihm, tats und – hier das Ergebnis.

Ich habe schon jetzt im Wegfahren wirkliche Sehnsucht nach dem Mann (denk ihn dir wie Baethgen in Alt und ganz reif und stark geworden). Ich werde ihn schon bald wieder sehn, wahrscheinlich in Marburg.

Über “Kants Begründung der Ästhetik” – die dritte der drei Kantschriften von ihm – hat Gottfried Keller gesagt: Das nimmt einen Alp von uns Künstlern weg.

Mir selber ists ja nun auch immer mehr aufgestiegen, ob ich nicht meinlogia [griech.]= Buch aufschreiben soll. Es wäre sicher eine gescheitere Arbeit als das dumme Buch für Frommann.

Die Gegend im Taunus und dann im Lahntal ist herrlich. Ich bekam grosse Lust darauf. In Limburg hatte ich eine Stunde, war vor dem Dom und in einer katholischen Buchhandlung, wo ich die zwei neuen Ecclesia orans [?] = Bändchen: die Psalmen sah, lateinisch und deutsch, ich freute mich schon, da sah ich dass Dominus konstant übersetzt ist mit – “Jahweh”. Sie sind hoffnungslos! die Katholiken mindestens so sehr wie die Protestanten. Lasst das Margikeli ein Heidenkind werden, wenns denn schon kein kleines Jüdlein werden kann.

Dein Franz.

9.VII.21.

Liebes Griltli,  es war ein langer und stiller Tag mit Mutter. Sie ist wirklich nicht schlecht jetzt, du hast recht. Ich habe den Herder ausgelesen, – schrieb ich? ich bin auf den “Ursprung der Sprache” geraten, eine ganz herrliche Schrift und preisgekrönt von der Akademie der Wiss. in Berlin 1770, – was für eine Akademie damals! die so etwas preiskrönt. Allerdings war es noch eine Akademie ohne Universität.  Abends war Julie v.Kästner da, sie fragte sehr nach Eugen (übrigens könnte er ihr doch den Sibirienaufruf schicken!) und nachher taute sie in lauter russischen Familiengeschichten auf, in der vormärzlichen Zeit. Ich habe gestern Nacht und heut mit Entsetzen die Memoiren von P.Krapotkin gelesen, er ist doch furchtbar! Kann die Engelhaftigkeit der leidenden Hälfte der Menschheit nur da sein, wo die aktive Hälfte die Rolle der Teufel übernimmt? Dann wäre unser westeuropäisches Mittelmass fast vorzuziehen. Es ist ein Abgrund von Land. Den Romanows gönne ich nachträglich noch alles Böse.

Der Besuch bei Fritzsche lässt mich noch nicht los. Es ist ja das erste Mal, dass ich bei Cohen einen wirklichen Menschen kennen gelernt habe. Freilich eine Raabe = Natur. Aber doch eine Natur wenigstens.

Nachmittags war ich ein paar Stunden bei Pragers.

Dein Franz.

10.VII.21.

Liebes Gritli,

wieder so ein schöner ruhiger Tag. Ich geniesse so sehr die Weiträumigkeit des Hauses, merke erst daran, wie eng dies Hocken in dem einen wenn auch schönen Zimmer einen macht. Ich habe Putzis Buch ausgelesen, eine respektabele Leistung, – ich meine das Buch. Abends waren Pragers da, mittags Gertrud Loeb, die dir Spass machen würde. Sie ist ein schönes Ding geworden und spricht: wenn doch einer käme und mich mitnähme. Das wird denn wohl bald geschehn, da sie gegen alles andre eine leidenschaftliche Abneigung hat.

Ich habe versucht, das für die Meineckeschrift anzufangen, aber es ist mir sehr widerwärtig. Ich kann das einfach nicht mehr. Für Frommann schreibe ich auch nichts. Was nicht geht, geht nicht. Für wenn denn?

Grüss Eugen. Hans war also doch da?

Dein Franz.

11.VII.21.

Liebes Gritli,  ich quäle mich weiter mit dem Ding für Meinecke ab und kriege nichts heraus. Es geht eben nicht, sich gewaltsam plötzlich für etwas interessieren was einem so schnuppe ist. – Trotzdem gerate ich immer weiter in so Sachen. Heut war ich bei Steinhausen, die “Kurhessische Ges.f.K.u.Wiss.” will einen Cyklus von mir; ich musste, obwohl sie kümmerlich bezahlen (5 Doppelstunden: 1000 M und die Reise), zusagen, weil es ja Mutters heisser Wunsch ist, dass ich in Kassel mal als Heide auftrete. Also: “Errichtung und Zusammenbruch des idealistischen Systems. (Von Kant zu Hegel).” Das könntegut werden, und würde es werden wenn ichs im Lehrhaus oder wenigstens vor Juden machen dürfte; denn da würde ich kein Blatt vor den Mund nehmen unddeinwı reden. Hier hingegen muss ich reden “wie die Schriftgelehrten”, und werde es auch so noch kaum verhindern können, dass sie es nicht als “jüdische Anmassung verbuchen. Ein Redner ohne Publikum ist eben ein Krüppel.

Ich lese jeden Abend im Band Goethebriefe, rein zufällig herausgegriffen (sie sind noch alle eingewickelt). Gestern 1799 mit einem schönen Reisesegen für W.v.Humboldt vor der spanischen Reise.

Einen Augenblick sah ich Tante Julie. Abends waren Ehrenbergs da.

Grüss Eugen.

Dein Franz.

22.VII.21.

Liebes Gritli,  Edith war sehr vergnügt, dass ich kam. In Kassel heut Nacht fand ich eine Menge Post, vor allem den Frommannschen Vertrag, der mich bedrückt. Dann die Festsetzung der Kassler Vorträge auf 2te Hälfte September.

Im leeren Haus gefällt es mir ganz gut. Es wird schon auszuhalten sein. Natürlich lese ich nun sogar zum Mittagessen.

Mutter geht es gut in Badenweiler. Sie ist von dem Doktor entzückt und auch unter den Leuten sind einige, die Komponistin aus Frankfurt, ein Klaviervirtuos aus Amerika, die schöne Norwegerin, und schliesslich doch auch Hennar Hallo – es ist übrigens, wie ich merke, fast das Personenverzeichnis eines Romans, so aus S.Fischers gelber Sammlung.

Der Mund ist mir wie versiegelt, auch schriftlich. Es ist das Natürlichste von der Welt, das Beste von der Welt, was uns passieren konnte, das Erwünschte und Erbetete, und doch kann ich es noch nicht leben. Aber ich werdees lernen. Die Antwort höre ich doch jetzt manchmal auf meine täglichen Schreie.

Verzeih dies zu laute Wort. Mein Leben hat sich so herumgedreht. Und bleib in deiner Goldwolke. Es hat mich mehr ergriffen als ich sagen mochte, dass mein erstes Gefühl sich so völlig sichtbar bestätigte und dass ihr ohne, ja gegen euren “Willen” und ganz leicht und harmlos euch plötzlich in der “Zwangslage” seht, eurer Ehe das letzte fehlende Stück Form zu geben. Es ist gar nicht lächerlich und gar nicht widersinnig. Es hat seinen guten Sinn, diese drei oder vierfache Auseinanderverteilung des Sakraments über sieben Jahre!

Euer Franz.

[ca 22.VII.21]

Lieber Eugen,

Kriegsanleihe habe ich keine, Papiere überhaupt nur 30 oder 40000 von irgendeinem Industriepapier (mein Vermögen ist ja der Hausanteil und ein Geschäftsanteil). Wenn ich Papiere nach Frankfurt schicke, so geht das durch Mutters Freund Heinrich Koch, Mutter erfährt es also, und Koch, der natürlich so skeptisch über mich denkt, wie eben ein Kaufmann, grinst äusserlich und innerlich, wenn ich das Wort “Bürgschaft” sage. Ich selber verstehe auch nicht, wozu “Bürgschaft”. Geht es nicht ganz einfach so:

Ich lasse durch Rosenzweig und Baumann auf mein Postcheckkonto “10000 M” anweisen. 4000 stehen noch da. Das ist ganz unkontrollierbar. Dann weist dir Edith 8000 M an. Willst du die nicht direkt Schlünz borgen, so kannst du ja Kriegsanleihe dafür kaufen. Schlünz ist dann dein Schuldner, du meiner.

Hier habe ich den Vertrag von Fromann vorgefunden. Was soll ich denn nun machen?

Dein Franz.

23.VII.21.

Liebes Gritli,  ein ganzer Tag zuhause, ohen ein Wort zu sprechen mit Ausnahme ein bischen Telefon. Dabei immer noch nicht klüger, was ich mit meinen diversen Schreibpflichten machen soll.

Natorps Anti = Hans ist doch herrlich. Unter “ein Gott” geht es scheinbar nicht, wenn ein Europäer einen Asiaten zu sehen bekommt. Er ist der erste nicht. Hans wäre übrigens sehr dumm, wenn er antwortete.

Cohens herrliches “Im Grunde bleibt er ein Stöckerianer, – es fehlt die Ästhetik der Persönlichkeit” hat ihn doch vorweg charakterisiert.

Ich habe etwas im “Untertan” von H.Mann wieder gelesen. Es ist heut, nach der Revolution ja ein noch viel unheimlicheres Buch als damals im Sommer 1917. Ohne die fühlbar vollstreckte Strafe glaubt man eben doch an seine Sünde nicht, auch wenn man schon soweit ist sie zu bekennen. Die Geschichte ist immer nötig, wenn auch nur als Katastrophenlieferantin.

Dein Franz.

24.VII.21.

Liebes Gritli,  wieder bis auf ein paar Nachmittagsstunden still zuhause. Gelernt, und zwischenhinein viel unser aller Verhältnisse bedacht, und versucht, mir die Reste von “zürnen und begehren”, die noch in mir sind, abzugewöhnen. – Den Nachmittag war ich bei Trudchen, wo Leni die sich 1912 nach Afrika verheiratete, ist. Sie ist mit ihrem langweiligen Mann glücklich und infolgedessen von einer undurchsichtigen Abstossendheit gegen uns alle; sie suchte etwas hinter Clownerieen zu verbergen. Trudchens kleine Marianne ist ganz famos; riesige blaue Augen und ein furchtbar komisches Fragegesicht.

Dein Franz.

25.VII.21.

Liebes Gritli,  ehe ichs vergesse: in der Deutschen Litteraturztg. Nr.22/23 steht eine Rezension der Hochzeit, kurz und dumm, von einem Tübinger offenbar Juristen. Er wundert sich über alles, schlechtweg alles.

Ich selber habe heute Morgen endlich eine meiner Rezensionen geschrieben, die über Lasson. Ich kann noch gar nicht recht wieder, aber ich bin erstaunt dass es überhaupt ging. Ich habe versucht, ihn so zu loben, dass er selbst sich geschmeichelt fühlte und jeder andre merkt, was ich in Wahrheit von ihm denke. Gegen Ende ging mir dann freilich die Feder doch durch, wie in meinen seligen Schulaufsätzen, die immer ganz lehrerfromm waren bis auf den Schluss, wo ich mit einem “freilich man könnte auch” meine eigenen Ansicht anbrachte.

Mutter schreibt weiter befriedigt. Deine Mutter und Lotti waren noch nicht da.

Dein Franz.

26.VII.21.

Liebes Gritli,  wir sitzen eigentlich alle zwischen zwei Stühlen. Die Gewesenen verstehen uns nicht mehr; die da kommen sollen, verstehen uns noch nicht. Das erfährt jeder von uns, Eugen an der Koalition Sinzheimer = Hörerrat. Bleiben für uns eigentlich nur – die Litteraten. Die Susfrauen e tutte quanti. Nobel und Ernst Simon sind gegen uns verschwägert. Das Litteratenvolk ist aber grade das, was wir nicht haben wollen. Weil wir wissen, wie billig es zu haben ist. Freilich sind es unter Umständen Sturmvögel. Und so hiesse es: 20 Jahre warten. Wie George gewartet hat. Oder Steiner. Oder sonst einer der Cagliostros der Zeit. Fi donc –

Noch etwas sonderbares: die Wege die wir zwischen 20 und 25 gingen, in unsrer Schreiberketzerei, und wo wir das Gestrüpp wegräumten und die ersten Wege austraten, da machen sich jetzt unsre Lehrer von damals heimisch. Rickert liesst über Hegels Logik, die ich vor 15 Jahren am Widerspruch gegen Rickertgelesen habe. Eugens katholisches Mittelalter von 1910 ist heut der Tummelplatz der professoralen Geistigkeiten. Und auf diesen Tummelplätzen trifft sich dies alte Geschlecht nun mit der “neuen Jugend”. Und wir stehen am Wege. –

Ich habe ein Vorwort, oder eigentlich zwei, eins An den Kenner und eins An den Leser geschrieben für Fromman. Recht witzig, aber doch eigentlich schäbig, wie überhaupt das Schreiben eines Buches das vorläufig nach demVerleger heisst! Ein Symptom, für das was aus mir geworden ist, wäre es ja auch. Es ist schon gut, dass wir nicht bloss Erfolg haben; dann wären wir jetzt ganzunausstehlich. Das bischen In der Wüste Predigen giebt uns noch ein gewisses Air.

Dein Franz.

27.VII.21.

Liebes Gritli,

es hat ein bischen geregnet und ist gleich wieder so heiss. Mutter klagt auch von Badenweiler, aber im übrigen gefällt es ihr gut. Hoffentlich verschiebt Onkel Hermann seinen Tod noch mindestens bis Ende September, damit Mutter ihre Kur nicht durch eine aufgeregte Reise nach Frankfurt unterbricht.

Ich habe wahrhaftig das Frommannbuch angefangen. Es ist nicht schön, für Geld zu schreiben. Schändlich, dass es Leute giebt, die davon leben. Es giebt etwa 10 kurze Kapitel, was hineinkommt weiss ich noch nicht, auch diese Länge weiss ich nur, weil im Vertrag etwas von “ca 10 Bogen” steht. Das erste, was ich heut und morgen schreib, heisst: “Vom Staunen”, und ist gegen die Behauptung dass das Staunen philosophisch sei, oder vielmehr: ja es sei philosophisch und sei – etwas sehr Übles, wie alles Philosophische. Leicht zu lesen wirds, aber nicht leicht zu verstehen, sondern “paradox”.

Gestern Abend war ich bei Paul Frank.

In Schmollers Jahrbuch hat mich Hintze besprochen und den armen Heller auf meinen Leisten geschlagen, wo nicht viel von ihm übrig blieb (daraufhin fühle ich mich nun verpflichtet, ihm Eia zu machen). Hintze glaubt mir auch nicht, dass ich schon ursprünglich aus antihegelscher Tendenz geschrieben hätte. Er schliesst: “Ein neues soeben angezeigtes Buch, kultur = und geschichtsphilosophischen Inhalts scheint zionistisch orientiert zu sein” !!! Zionistisch!

Steinhausen schweigt noch vor Schreck!

Goethe bittet Herder 1802 um die Gefälligkeit August “in die christliche Versammlung einzuführen auf eine liberalere Weise als das Herkommen vorschreibt”. Liberaler! übrigens eigenhändig; Mitkonfirmand war Schillers Sohn.

Im Jahr 1808 schreibt er etwas sehr Niedliches, was genau auf heut zutrifft: an den Kirchentüren sei ein Gedränge wie an hohen Feiertagen: die einen wollten hinein, die andern heraus!

Dein Franz.

27.VII.21.

Liebes Gritli,

heute dein Brief – ich sah schon immer die Familiennachrichten in der Fkft. Zeitung nach, um nicht zu verpassen, wenn das Margikeli angekommen ist. Es ist doch eine gute Einrichtung um die Zeitung.

Hier ist es auch sehr heiss. Das Gewitter gestern hat keine Abkühlung gebracht. Des Vormittags schreibe ich an dem Verlagsbuch, mit so einer Art selbstmörderischer Lust. Es geht eben alles und es wird wahrscheinlich ein ganz hübsches Buch. Ich schäme mich freilich blutig dabei.

Abends war ich bei Prager.

Quäl dich nicht, das du mir nicht mehr schreiben kannst. Es ist natürlicher als das Schreibenkönnen.

Dein Franz.

29.VII.21.

Liebes Gritli,  ich plage mich weiter mit dem Buch. Einen Namen hats jetzt: “Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand” – ist aber davon nicht schöner geworden. Das erste Kapitel heisst: der Anfall. Das 2te: Krankenbesuch. Die folgenden etwa: Diagnose. Therapie. Im Sanatorium (das wird ein bischen länger). Nachkur. Rückkehr in den Beruf. – Ich komme mir grenzenlos albern dabei vor. Hätte ich nicht den Vertrag plötzlich zuhause vorgefunden, so hätte ich ja gar nicht daran gedacht, es noch zu schreiben. Auch jetzt hoffe ich, selbst wenn es fertig wird, immer noch auf den rettenden Davison am Ende.

Abends war ich bei Oppenheims. Morgen kommt Helene durch; ich gehe also zu Ehrenbergs.

Allmählich wirds mir zweifelhaft ob ich ins Fichtelgebirge muss. Ich habe noch nicht die officielle Einladung, die ich gefordert habe. (Ich weiss nicht ob ich dir das schrieb: ich hatte nämlich nur eine private Bitte von ein oder zwei Seiten, ich möchte kommen, und darauf habe ich, zur Erziehung der Jugend, verlangt, dass mich die Bundesleitung officiell einlädt. Ich habe keine Lust, als Schlachtenbummler dabei zu sitzen.

Jetzt ists wohl auch bei euch kühler geworden? Hier weht ein starker Wind.

Ich habe Zeit ists wieder gelesen, weil ich Erinnerungsgefühle bekam, und habe gestaunt, wie treffsicher alles doch ist. Ich wusste damals natürlich nicht den 10ten Teil von dem was ich heute weiss; trotzdem stimmt alles.

Schönen Gruss an Margikeli. Sie soll sich ein bischen leicht machen.

Dein Franz.

30.VII.21.

Liebes Gritli,

ich war bei Ehrenbergs zu Abend. Helene mit Maria war da. Maria ist energischer geworden, mehr à la Hilla, aber noch sehr nett. Bei Hedi in Göttingen ist ein Junge angekommen, Gustav.

Nach dem Abendessen war ich noch bei Pragers. Da schwirrt es von zionistischer Jugend. Sie tagen auf dem Meissner.

Das Nichtschreiben hat mir heut einen Tag Ruhe von dem albernen Buch verschafft. “Ward je in solcher Laun – ?”

Dein Franz.

31.VII.21.

Liebes Gritli,  ich trug heute das Unglücksmanuskript zu Oppenheims, um es da mal zu probieren. Aber dann hatte ich nicht den Mut dazu. Das schlimmste ist, dass ich das deutliche Gefühl habe, mir durch diese Lohnschreiberei etwas Wirkliches, was in mir reift, kaput zu machen. Daher kommt auch die gewolte Lustigkeit. Denn das andre, von dem ich übrigens noch nicht das mindeste weiss, ist das Gegenteil von lustig. Wie sich eigentlich von selbst versteht.

Schlünz fehlt wohl gar kein Sinn. Nur Bildung. Die ist eben doch nötig. Mit dem blossen Revolutionieren ist es nicht getan, so gern wir das auch wahrhaben möchten. Ich würde ihm raten, nach der Promotion ruhig regelmässig irgendein Universitätsseminar mitzumachen; was er grade will, einerlei.

Ich lese Kochs wunderbares Buch über die Diagnose. Fünf Jahre später wäre es ganz vollkommen geworden; so hat er sich zu vieles allein erwerben müssen und steckt deswegen da wo er mit seinem Schnabel nicht selber durchgestossen hat, noch in vielen Eierschalen. Er weiss noch nicht dass er einmal ganz so aus der Schale heraus sein muss wie in dem Buch nur sein ärztlicher Kopf und seine menschlichen Augen sind; er meint, Biologie, Naturwissenschaft und sonst noch einiges hätten ihre Schalen als Haut um sich.

Hans sollte sich ihn statt Weizsäcker für seinen Lebens = Editionsplan gewinnen.

Das neue Buch der Huch kenne ich noch nicht. Ich bin auch nicht recht neugierig darauf.

Dein Franz.

August 1921

1.VIII.21

Liebes Gritli, ich war den ganzen Tag zuhause. Das Verlagsbuch geht weiter, immer gleich albern; das Diagnosekapitel ist fertig. Für wen ausser dem Verlag ich schreibe, möchte ich wohl wissen. Unter meinen Bekannten wüsste ich niemand, vor dem ich mich nicht schämen würde, es zu zeigen.

Dann habe ich Koch weiter gelesen; ganz verstehen kann man es natürlich als Nicht = Arzt nicht. Aber die herrlichsten Sachen stehen drin.

Dein Franz.

2.VIII.21.

Liebes Gritli, ich bin in Erwartung von Mawrik Kahn.

Das 4.Kapitel “Therapie” ist auch fertig und damit überhaupt das Anfangsstück. Das Mittelkapitel “Im Sanatorium” wird das längste; es zerfällt in drei Unterteile: “Erste Woche”, “zweite Woche”, “dritte Woche”. Du siehst, das Bächlein des Witzes rinnt noch immer. Wenn übrigens das Mittelstück gut wird, dann ist damit das Ganze gerettet. Besonders wenn ichs pseudonym herausgeben könnte (obwohl es für jeden Kenner des * doch unverkennbar wäre).

Kochs Diagnose ist in allen centralen Partien (und in all den peripheren, wo man sein Gesicht sieht) herrlich.

Dein Franz.

4.VIII.21.

Liebes Gritli, es steht in der Zeitung, dass es auch bei euch geregnet hat, hier ists sogar richtig kalt.

Edith kommt erst Sonntag, ich reise Sonntag, so dass wir an einander vorüberfahren. Heut Abend bin ich bei Oppenheims. Ich glaube, das Buch wird eine reine Blamage. Das wäre freilich am Ende gar nicht schlecht, sondern durchaus zeitgemäss. Um 10 ist das Theater aus und wer nachher noch im Kostüm herumläuft und Jamben redet, riskiert, dass er auf die Wache gebracht wird.

Die Kassler Vorträge sind jetzt auf 12.-15. und 19.IX. angesetzt; etwas anstrengend, weil jeder 2 Stunden dauert. Aber ich konnte nichts dagegen sagen. Sie habens natürlich wegen des Fahrgelds gemacht.

Ich will zum Frisör; ich habe mich 3 Tage lang nicht rasieren lassen!

Dein Franz.

5.VIII.21.

Liebes Gritli,

ich bin also von Sonntag bis Donnerstag in Metzlersreuth [?] bei Bismarck (Fichtelgebirge) postlagernd, – damit du keine Abstinenzerscheinungen kriegst, wenn du mir mal deinen täglichen Brief nicht schicken kannst.

Ich gehe sehr ungern hin. Aber wohl nur, weil es überhaupt nichts mehr giebt was ich nicht sehr ungern tue (ausser Essen, Trinken und Schlafen). Also hat es nichts zu sagen.

Ich war bei Oppenheims gestern. Es war sehr nett. Levi ist wirklich nett geblieben.

Von Mutter hatte ich einen Brief, worin sie beiläufig allerlei Bedenkliches über ihre Gesundheit mitteilt. Der Doktor, von dem sie weiter (mit Recht) sehr angetan ist, findet Milz und Leber vergrössert. Es sei nichts akutes, sondern immer die alte Infektion.

Es graut mich vor Frankfurt. Ich habe es hier so viel besser, brauche keinen Menschen zu sehen, wenn ich nicht will und kann überhaupt einsiedlerisch leben. Allerdings geht das ja nur für eine Zeit wie jetzt, wo Mutter fort ist. Wenn sie da wäre, wäre es hier auch nicht zum Aushalten.

Dein Franz.

[Schluss siehe Rückseite vom 9.IX.21]

[Entwurf?]                                                                                                                6.VIII.21.

Liebes Gritli,

ich fahre also morgen früh, alle Instinkte meiner Faulheit sind dagegen; wer weiss auf was für Stroh ich die nächsten 4 Nächte liegen muss.

Gestern Abend war das “Büchlein” endgültig zum Tode verurteilt, ich las in meinen nachgelassenen Werken (Band II “Aus dem Weltkrieg”) und fand, dass es daneben nicht bestehen konnte. (“Cannä und Gorlice” wäre übrigens noch jetzt veröffentlichungswert). Danach merkte ich einen Fehler grade an der Stelle wo ich war, sah die richtige Lösung, las darauf heut Vormittag nochmal das Ganze von Anfang an, fand es gar nicht so schlecht, und will es nun doch fertig schreiben. Vielleicht wirds doch die langgesuchte populäre Einführungsschrift “in uns”. Auch reizt mich das schöne Goethesche Motto und ein ebensoschönes andres von Juda Halevi (“Meine Worte sind zu schwer für dich und grade deshalb kommen sie dir zu leicht vor”). Das Witzige ist übrigens nicht zu viel; das habe ich beim Durchlesen gemerkt. Die dümmsten Sachen habe ich auch gestrichen.

Rudi wird schon nach Frankfurt kommen, Cronberg ist ja nah. Es ist deine Schuld, dass er es schliesslich nicht mehr ertragen hat. Es ist kein Pappenstiel, ins Leere zu schreiben. Es gehen einem ungeheure Nervenkräfte drauf. Wenn ich nicht mir immer wieder zwei Sachen sagte: “sie ist nicht Schuld” und: “dann wäre alles aus”, so brächte ich es auch nicht fertig diesen Faden weiterzuspinnen. Denn dein Nichtschreibenkönnen hat tiefere Gründe als du meinst, auch mir gegenüber. Ich kann ja genau so wenig, ich tue es eben nur. Es ist eben kein Siegel mehr auf deinen Briefen, äusserlich wie innerlich; da schreibst du sie lieber gleich gar nicht. Dass du dabei mörderisch mit einem umspringst, ahnst du nicht. Ich sehe zu genau vor mir, wie es noch kommen wird und bin jeden Tag stundenlang vor Darandenkenmüssen unfähig irgendwas zu tun. Ein Brief ist dann immer eine Lösung der Krämpfe, man sieht, dass es noch nicht so weit ist und kann sich wieder an

[Schluss auf Rückseite vom 9.IX.21]

7.VIII.21.

Liebes Gritli,

ich bin also wirklich gefahren, obwohl ich heute Morgen vor lauter Unlust schon 5 Minuten zu spät am Bahnhof war, ich bin also erst Mittags abgefahren, komme so morgen erst um 1/2 10 an, vielleicht schon zu spät, wenn sie früh anfangen. Jetzt bin ich in Eisenach im Wartesaal. Edith kommt Nachmittags in Kassel an, etwas komisch ist dies doch.

Heut vormittag hatte ich Gertrud Rubensohn zu Besuch. Gestern – also vorgestern Abend war ich schon so weit, das Buch endgültig aufzugeben. Dann hab ichs gestern Vormittag ganz durchgelesen von Anfang an; da fand ich es gar nicht so schlecht, vielleicht wirklich geeignet, “in uns” einzuführen. So schreibe ichs nun weiter, habe es sogar hier mit. Es ist abwechslungsreich und nicht zu witzig. Der Hinrichtungsbeschluss wurde gefasst während ich meine Kriegsschriften, soweit ich sie fand, durchsah; ich wollte einen Vergleichsmassstab. “Kannä und Gorlice” ist übrigens fast noch heute druckbar; die andern werden einmal den zweiten Band meiner Nachgelassenen Werke bilden.

Wenn Rudi nach Cronberg kommt, so wird er auch schon nach Frankfurt kommen und die Tragödie wird sich lösen. Es kommt alles davon, dass man noch irgendwas erwartet. Wenn man en bloc resigniert hat, ists nicht mehr so schwer. Dass ihm das nicht immer gelingt, ist nicht so unnatürlich. Auch mich kostets noch fast täglich ein paar Stunden Krämpfe.

Dein Franz.

9.VIII.21.

Liebes Gritli,

Ich bin schon wieder auf dem Rückweg. Ausgerissen! in die Fluchtgeschlagen. Es war ein grosses Debakle. Nachdem ich den ganzen Tag zugehört hatte, habe ich unmittelbar vor Schluss eine Rede gebrüllt und alle so vor den Kopf gestossen, dass ich für diese Jugend erledigt bin. Und das ist die Jugend meiner Partei. Ich habe trotzdem kein unangenehmes Gefühl, sondern dass es notwendig war. Es war ein 60 jähriger Lehrer da, dem haben sie zugejubelt! Er hat ihnen freilich ausser den sämtlichen Phrasen des 19.Jahrhunderts, die sie hören wollten, erklärt er fühle sich zu ihnen gehörig, er trage auch keinen Kragen und schlafe auf Stroh. (Deshalb habe ich gleich zu Anfang meiner Rede erklärt: ich gehörte nicht zu ihnen und sei älter als sie). (Ich hatte auch extra einen steifen Kragen angezogen).

Mir haben sie übrigens besser gefallen als ich ihnen. Es sind wunderbare Junges dabei gewesen. Ein herrlicher schwerfälliger – man muss schon sagen – Schwabe Bach schien mir der beste. Aber auch unter den andern, viel guter Wandervogel. Nach Dunkelheit gab es ein Wettsingen der Gruppen, z.T. ganz prachtvoll. Ein famoser Ton, ohne Krampfhaftigkeit. Verdorben sind eigentlich nur die Gehirne. Warum bin ich Spezialist für Gehirnausspülungen! es ist ein undankbares Geschäft.

Es war ein vollbesetzter Tag. Ich war am Sonntag noch bis Neumarkt gefahren, war früh von 6-8 gelaufen, dann wieder mit der Bahn. Dann musste man laufen. Ich kam, als es schon angefangen hatte. Sie lagerten, 300, in einer Waldecke, es war ein hübsches Bild. Die Truppen hatten eigene Fahnen um die sie sassen.

Mittags waren Spiele, vor Abends auch.

Das Fichtelgebirge in all his glory, hocheben, weit und wild.

Ich wollte aber meine Niederlage nicht überleben! – so fuhr ich fort.

Nun hoff ich noch die “Dritte Woche” heute anzufangen.

Und du? ist die “vierzigste Woche” da?

Dein Franz.

10.VIII.21.

Liebes Gritli,

ich kam also gestern an, nach fleissig verschriebener Bahnfahrt (das Sanatoriumskapitel ist heute fertig geworden; nun nur noch die beiden kleinen Schlusskapitel, “Nachher” zunächst.) Ich weiss nichts Genaues über Rudis Pläne. Ich hatte gehofft, ihn gleichzeitig mit Hans in Kassel zu haben, damit ich ein 2 Männer = Gutachten hätte, woraufhin ich dann entscheiden könnte, ob ich es überhaupt abschreiben lassen soll. Hans allein genügt mir eigentlich nochnichtmal dafür. Wenn das positiv ausfallen sollte, müssten immer noch Eugen und die Susman ihr Placet dazu geben, sonst lasse ichs nicht drucken. Ich selbst habe kein Urteil darüber. Rudi hat sich übrigens auf eventuell zu Mutter angesagt, worüber die, aus Unkenntnis der Geographie des südlichen Schwarzwalds, ganz gerührt ist.

Heut Vormittag hatten wir Gertrud Rubensohn da, heut Abend und Nachmitags – Hans Hess. Der ist nun ganz fest in seiner Haut geworden, und genau besehen steht ihm sein MaxWebersches Heidentum jetzt doch besser als früher seine Vonunsbeeinflusstheit. Auch aussehen tut er besser, in einem Jahr oder zweien ist er Privatdozent und setzt die Rasse fort.

Ich habe heut den Heiligen wieder durchgesehen, es ist ein gewaltiges Buch, zu gewaltig für einen Roman, wenigstens einen nichtdostojewskischen. Woher geniert einen bei Dostojewski die Romanform nicht?

Dein Franz.

11.VIII.21.

Liebes Gritli,

vormittags habe ich gearbeitet, das vorletzte Kapitel (“Nachher”). Nachmittags waren wir bei Oppenheims, und auch Abends. Es ist jetzt immer so nett da; der grosse Haufe der Kinder, der Garten, es ist so eine Heiterkeit über allem. In einer Woche will Trudchen, wenn nichts dazwischen kommt, mit Louis auf 4 Wochen an die See.

Dein Franz.

12.VIII.21.

Liebes Gritli,

wir gehen zu Gertrud Rubensohn heraus heute Nachmittag; Abends zu Pragers.

Ich bin mit dem Verlagsbuch fertig. Es sollte mir einen diebischen Spass machen, wenn die Gutachter es durchlassen würden.

Hier regnet es sich ein.

Dein Franz.

14.VIII.21.

Liebes Gritli, Hans war gestern da. Er erzählte von seinen Aussichten; sie scheinen auch mir das innerlich und äusserlich Wünschenswerte für ihn zu sein. Seine journalistische Begabung ist zwar etwas zu gering; aber das kommt bei einer Monatsschrift so wenig in Frage wie etwa bei Muth, der ja auch selbst gar nicht viel für sein Blatt schreibt.

Heut ist jüdischer Feiertag. Auf morgen habe ich versucht Rudi herüberzulotsen, damit ich nicht eventuell[?] die Mühe habe, ihm das Ding extra vorlesen zu müssen.

Viele Grüsse.

Dein Franz.

15.VIII.21.

Lieber Eugen und liebes Gritli,

eben kommt Eugens Telegramm mit dem wirklich unerwarteten Jungen; ich hätte bis zuletzt auf ein Mädchen geschworen, aber die Jungen sind Mode, auch bei Kurt Ehrenberg soll einer angekommen sein. Dass er nach Hans, dem “Färber”, heisst, macht mir Spass. Hoffentlich hat “Tante Clara” trotz der Eisenbahner durchkommen können; ich gratuliere ihr auch sehr zu dem Enkel.

Edith schläft grade, so kann ich es ihr jetzt nicht sagen.

Rudi hat sich auf Dienstag Mittag angesagt; es ist mir sehr lieb, dass auf die Weise die Angelegenheit des Buchs endlich zur – hoffentlich – negativen – Entscheidung kommt; ihr habt keinesfalls was dran verloren; es ist ein lahmes Gewäsch.

Goethes Werke hat ja Mutter jetzt vollständig; die Jubiläumsausgabe ist für die Werke so gut oder besser als die Weimarer. Und die Briefe und Tagebücher habe ich ihr ja geschenkt.

Ich lese Webers Antikes Judentum, das mir sehr gut gefällt. Seine Nüchternheit hat ihn vieles sehen lassen, was die andern mit ihrem Idealismus nicht gesehen haben. Er hat den ganz richtigen Begriff der Offenbarung, und macht ihn unter dem Namen “Bund” zum Grundbegriff seiner ganzen Darstellung. Die Abstraktheit der Begriffe, die für die Wellhausensche Schule eingestandener = und uneingestandenermassen der Massstab war, an dem sie ihre Entwicklungshöhen ablasen, wird von ihm so sehr durchschaut wie von uns. Es ist vielleicht gut, dass er selber nicht gesehen hat, was er machte; sonst hätte ers vielleicht nicht gemacht; jedenfalls kann man den so grade als klassischen Zeugen benutzen; denn er wollte natürlich fluchen.

Hoffentlich erholt sich Gritli bald. Euch beide grüsst herzlich

Euer Franz.

Ich lege einen hübschen Artikel aus dem Berliner Tageblatt bei.

17.VIII.21.

Liebes Gritli, gestern kam also Rudi. Vormittags war ich mit Hans zusammen. Am Nachmittag las ich beiden das Unglücksmanuskript vor. Sie fanden es im Grunde genau so schlecht wie ich, waren auch gestern gegen die Veröffentlichung, heute nachdem ichs ihnen zu Ende vorgelesen hatte, dann leider doch. Das bedeutet nun noch weitre Arbeit daran, ich habe schon heut Nachmittag nach Rudis Abreise gleich wieder 2 1/2 Stunden daran geschrieben, morgen sicher auch nocheinmal ein paar Stunden. Dann das Elend des Abschreibens, Korrigierens, alles für eine sicher minderwertige Sache. Denn das habe ich gestern und heute beim Vorlesen gemerkt. Es kann ja sein, dass grade sowas für die Leute das richtige ist. Doch fürchte ich, es wird nochnichtmal das leisten; denn dazu ist wieder zuviel Gutes drin. Jedenfalls werde ich nun in der nächsten Zeit viel zu tun haben, da ich ausserdem auch noch die Septembervorträge für Kassel vorzubereiten habe. Denn in den 8 Tagen Frankfurt, Anfang September, werde ich vollauf zu tun haben mit Semestervorbereitung. Da werde ich also auch Johannes besehen. Ob ich bei euch wohnen werde, weiss ich noch nicht. Erstens passts euch vielleicht grad nicht, denn da wirst du ja nach Hause kommen. Und zweitens muss ich wohl Telefon im Haus haben, werde also vielleicht bei Rothschild wohnen.

Eugen vielen Dank für seinen Brief. Ich schreibe ihm noch. Jetzt sind Bratkartoffeln draussen, die kalt werden! Sei herzlich gegrüsst von Deinem

Franz.

18.VIII.21.

Liebes Gritli, heut Vormittag war Hans da, dann noch Pfarrer Schafft, um mit Hans zu reden. Jetzt wollen wir mit Hans spazieren gehn. Eugens Karte an Frl.v.Kästner ist besorgt. Das Buch von Weber habe ich ausgelesen. Mutter scheint richtig krank zu sein; jedenfalls liegt sie im Bett und die Entfettungskur hat augenblicklich die Form, dass sie viel essen soll, um zu Kräften zu kommen! Erhol dich weiter gut. Dass es ein Junge ist und das Margrikeli vertagt ist, kommt mir immer noch komisch vor. Bei Putzis ist ein Gottfried angekommen; es ist ein Jungensmonat.

Dein Franz.

19.VIII.21.

Liebes Gritli,

wir waren mit Hans auf Wilhelmshöhe gestern, – ein wunderschöner Spaziergang; es ist ja wieder herrliches Wetter geworden – merkst du es wohl aus deinem Klinikzimmer? oder darfst du schon auf? die Ärzte sind ja manchmal jetzt so mutig darin.

Ich habe viel in Ludwigs Goethebuch gelesen, das ich Mutter zum Geburtstag schenken will. Es gefällt mir doch sehr gut, viel besser jedenfalls als das übliche hochtrabende Geschwätz. Ist es nicht übrigens komisch, dass die ganze Entdeckung Goethes, wenn man auf die Bücher sieht, in denen sie sich niederschlägt, von lauter gewordenen Deutschen geschieht? Simmel, Gundolf, Chamberlain, Ludwig? Alle frühere Goethelitteratur ist ja doch nur Material, und es ist kein Wunder, dass er heute noch für das Ausland überhaupt nicht existiert; für Deutschland existiert er ja im Grunde auch erst seit unsern Lebzeiten.

An Rothschild habe ich geschrieben, dass ich die erste Septemberwoche in Frankfurt sein werde. Dann werde ich dich und das Kleine ja auch sehen.

An dem Manuskript ändre ich nichts mehr, sondern lasse es in Teufels Namen so abschreiben wie es ist.

Ich habe Eugen noch gar nicht richtig für seinen Brief gedankt. Dich und ihn grüsst

Dein Franz.

20.VIII.21.

Liebes Gritli, Onkel Viktor war da, und ich hatte ihm in Mutters Auftrag zum 70. Ge-burtstag Gräfs ja jetzt abgeschlossenes “Goethe über seine Werke” besorgt, obwohl er sich alle Geschenke verboten hatte. Zwar hatten sie ihn in Leipzig trotz Verbots befeiern dürfen, so dachte ich auch, es wäre nicht so schlimm. Statt dessen wurde er so, wie ich ihn mir nie vorgestellt habe, ganz wie ich selbst gewesen wäre! Er wies es so zurück, das ich mein eignes mitgebrachtes Geschenk, den Ludwigschen Goethe, überhaupt nicht vorzuholen wagte. An sich verstehe ichs ja, er hatte grade nachdem das Prinzip schon etwas durchlöchert war, die Aufrechterhaltung an einem eklatanten Fall vor sich selber nötig. Und das Prinzip ist ja sehr nachfühlbar. Mutter wird sich freilich ärgern, das grade an ihr das Exempel statuiert wird. – Es geht ihr weiter schlecht. Den September bleibt sie noch sicher da.

Im Ludwig habe ich noch viel Schönes gesehen. Das Heidnische ist bei ihm das einzige Tendenziöse (auch bei G. selber wohl?).

Wir erwarten Julie v.Kästner, die ich neulich unter Benutzung eurer Karte gebeten hatte.

Dein Franz.

21.VIII.21.

Liebes Gritli,

es hat wieder angefangen zu regnen und sitzt sich schön auf der Veranda.

Mir ist ein witziger Gedanke für die von Hans und Rudi gewünschte Änderung, vielmehr Einschiebung in das Büchelchen gekommen. Damit wird es dann fertig sein. Abgeschrieben wirds dann noch diese und nächste Woche, so dass es Eugen Anfang September lesen kann.

Mach ihn auf den Aufsatz aufmerksam (von Kipper[?]) der heut, mit  dem W.Michelschen Hölderlinartikel in der Frkft. Ztg. steht. Der Verfasser ist, wenn er in Frankfurt wohnt, Eugens Mann und vielleicht jemand, den er in das Akademiespiel irgendwie einschieben kann um sich zu verstärken.

Mit Frl.v.Kästner war es nett wie immer.

Von Mutter höre ich zu meiner Freude, dass du schon auf bist. Es geht dir also gut. Vergiss nicht, mir schreiben zu lassen, wenn du wieder in der Fellnerstrasse bist; deine Schwester wird sich sicher die kleine Mühe gern wieder machen.

Viele Grüsse.

Dein Franz.

22.VIII.21.

Liebes Gritli, Eugen schrieb mir gestern per Eil, nachdem ich den Brief an dich schon zugemacht hatte, wo drin stand, dass ich den von Hans und Rudi gewünschten Übergangswitz machen würde. Eugen schrieb nämlich drohend, dass ich es tun sollte. Glücklicherweise kam das zu spät, denn wenn ich es schon am Morgen gekriegt hätte, wäre mir sicher schon aus Trotz nichts eingefallen. So wurde es gestern Nachmittag und heute früh fertig, höchst albern und zweckentsprechend, eine Korrespondenz der beiden Ärzte (des heimischen und des Sanatoriumsarzts). Auch die Abschreiberei fängt heute an. – Ein Stück das ich gestern Baumanns vorlas, kam mir wieder beschämend albern vor.

Es war übrigens nett mit Baumann. Es sind so besonders gute Menschen, und dabei klug, wie nach meiner antichristlichen Behauptung gute Menschen immer sein müssen.

Eugen schreibt, er reiste “nach Süden”. Ich schreibe ihm also nach der Tivolistr.13. Ob er auch nach Badenweiler geht? Ich würde ja gern wissen was der Doktor sagt.

Dass du sogar als Amme funktionierst, hat mir imponiert. D.h. eigentlich – von Johannes imponiert es mir sehr wenig.

Dein Franz.

22.VIII.21.

Lieber Eugen,  dein Mahnbrief, Hans und Rudi zu gehorchen und noch eine Einlage in das Clownprogramm zu machen, kam trotz Eil (und – natürlich Strafporto) so rechtzeitig spät nachmittags, dass ich vormittags schon aus eignem Entschluss einen Einfall gehabt hatte (den ich sicher nicht gehabt hätte, wenn deine Mahnung schon da gewesen wäre; so ist man ja). Ich habe ihn gleich gestern Nachmittag und heut Morgen geschrieben; er ist des übrigen würdig; eine Korrespondenz der beiden Doktors, des behandelnden und des Sanatoriumsdoktors.

Heut fängt das Abschreiben an.

Zinsen? Eigentlich giebt man in solchen Fällen doch das Kapital verloren. Aber wenn du meinst, dass ers zurückgeben will, so schlage ich vor: jedes Quartal wenn er sein Gehalt kriegt (anders ist es unmöglich; am Quartalsschluss hat man nie etwas übrig) 500 M, so hat ers in 4 Jahren abgezahlt; und wenn er nicht abzahlt, dann statt der Abzahlung die Zinsen 5%, für das betreffende Quartal. Also Zinsfreiheit sozusagen als Prämie für die Abzahlung. Da hat er und habe ich einen nicht zu erwartenden Vorteil: er hat das Geld zinslos, und ich kriege es wieder.

Jede andre Regelung ist mir aber auch recht. Es ist nur ein Vorschlag.

Mit den Manuskripten, das stimmt bei mir nicht. Quod scripsi scripsi, heisst es bei mir. Eure Freiheit gegen die Manuskripte kenne ich nicht. Ich kann daran basteln, aber nicht ganz umschreiben.

Müssen denn Kinder gebadet werden? Ich glaube, bei Naturvölkern geht es zur Not auch ohne Hülfe, bis die Mutter selbst wieder kann, und das geht ja da sehr schnell, schon am folgenden Tag. Ich glaube, dass der Mensch in diese seine Abhängigkeit vom Menschen sich hat hineingleiten lassen, mit Willen sozusagen. “Man sagt, er wollte” abhängen. Das ist mir plausibler als dass ihn dieNatur so hülflos gelassen hätte.

Ich schreibe dir auf dein “gen Süden” hin nach Freiburg.

Ich danke dir für den Brief.

Dein Franz.

24.VIII.21.

Liebes Gritli, ich las gestern einen Aufsatz von Hermann Bahr, da wurde mir wieder klar, was für ein Versäumnis es ist, dass Eugen etc. noch keine Beziehungen zu ihm haben. Er ist der von der ältren Generation, der diese Jugend einführen muss. Im Grunde auch der einzige, der sie wirklich verstehen kann, weil er genug Kirche und genug Ketzer in sich hat. Eugen soll ihm einfach die Hochzeit zuschicken. Besser wäre es noch, wenn Hans ihm seine beiden Patmossachen schickte; auf Eugen und auf Picht wird er dann von selber aufmerksam und eine Sammelbesprechung gäbe dann den Meisterbrief, ohne den die Litteraturzunft (mit Recht) niemanden anerkennt.

Sag es mal Eugen, oder schreibs ihm, wenn er noch nicht zurück ist. Ob er Mutter in Badenweiler aufsucht?

Das Wetter ist wieder schön geworden, so dass wir Nachmittags wohl herauf nach Wilhelmshöhe gehen werden.

Dein Franz.

Vielleicht noch richtiger: der Verlag schickt an Bahr die ganze Serie einschliesslich Trag. und Kreuz mit einem höflichen Brief, der eine Besprechungnichtfordert“, aber “hofft“.

25.VIII.21.

Liebes Gritli, es war ein sehr schöner Spaziergang gestern. Wir gingen immer am Waldsaum, wie ich es liebe, um die südlichen Ausläufer des Habichtwaldes herum, endeten auf dem Bismarckturm. Martha Kaufmann ist eine gute und vom Leben reifende Person. An Mutters Arzt schreibe ich nicht. Was tue ich mit dem medizinischen Gewäsch; die wissen auch nichts. Etwas momentan Beängstigendes scheint es nicht zu sein; soviel sehe ich aus einem Brief von Paul Frank, der bei ihr war. Was es ist, weiss niemand. Sie selber empfindet hauptsächlich die Ruhe, das “Allevierevonsichstrecken”, die Ausspannung nach der krampfhaften selbstbetäuberischen Anspannung dieser Jahre. Und das ist auch, was ich für sie wünsche. Wenn Hennar Hallos Brandbrief Eugen zu einem Besuch veranlasst hat, so hat er seine Schuldigkeit getan. Denn das ist freilich zu wünschen, dass man sie dort nicht so allein lässt. Edith und ich werden vom 9.-10. September da sein, Edith dann wohl noch ein paar Tage bleiben, bis zur Monatsmitte, wo sie wieder nach Frankfurt gehen wird und den Haushalt wieder in Gang bringen.

Lass mir bitte irgendwie eine Nachricht zukommen, wann Eugen wieder zurück ist, damit ich weiss, wohin ich denn das Manuskript am Dienstag, wo es voraussichtlich fertig wird, schicken kann. Da ich vermutlich noch die ganze Woche hier sein werde, so möchte ich sein Urteil auch noch hierher haben. Auch könnte ichs ihm vielleicht noch nach Säckingen schicken, sodass ers auf der Reise lesen könnte; in Frankfurt wird er ja gleich viel zu tun haben. Obwohl es in 3 Stunden bequem gelesen ist.

Edith ist natürlich wohl, von dem faulen und gefrässigen Leben. In Frankfurt wird das so rasch wieder verlorengehen wie es gekommen ist; wenn nichts dazwischen kommt.

Erhol dich gut zuhaus; das Wetter ist ja wohl jetzt auch in Frankfurt schön.

Dein Franz.

26.VIII.21.

Liebes Gritli,

Hans Hess war gestern Abend da. Vorher war ich bei Ehrenbergs. Die Abschrift geht weiter. Heute habe ich noch zwei kurze Nachworte dazu gemacht, entsprechend den Vorworten.

Von Eduard kam die Sternbesprechung, die Grabowski bei ihm bestellt hat; es wird ein langer Aufsatz. Nicht ganz schlecht, wenn auch natürlich nicht wirklich gut. Das ist wohl überhaupt unmöglich und eigentlich ein Beweis für das Buch. Ein paar Lichterchen habe ich noch hineingesetzt.

Von dem einen der mir in Matzlersreuth (du entsinnst dich, ich war vor einigen Wochen da, wegen einer Tagung eines jüd. Jugendverbands) gut gefallen hatte, hatte ich heute Morgen einen etwas komischen aber gut gemeinten Brief.

Dein Franz.

29.VIII.21.

Liebes Gritli,

wir waren gestern Nachmittag zum Café bei Frida Sichel. Heute wird die Abschrift fertig. Auf Abends hat sich Rudi telefonisch angesagt, der hier Helene erwartet, die Morgen Nachmittag durchkommt. Er ist sehr zufrieden über ein gelungenes Experiment. Ich habe Bülow endlich gelesen und verrissen, nun kommt Heller dran. Es ist mein Verhängnis, dass ich bisher nur schlechte Bücher zu rezensieren gekriegt habe.

Das Manuskript an Eugen geht noch heute Abend ab. Vor Anfang nächster Woche werde ich ja kaum durch Frankfurt kommen; er kann mir also noch hierher schreiben, brauchts mir aber nicht zurückzuschicken, da ich ja jedenfalls bei euch vorspreche und es dann minehmen kann. Er soll aber bitte nur mit Blei (nicht Tintenstift) hineinschreiben und möglichst nur auf die Rückseiten oder auf den Rand. Bitte richte ihm das aus.

Dein Franz.

30.VIII.21.

Liebes Gritli,

Rudi kam in die letzten Abschreibe= und Korrekturnöte hinein, heute ists endlich an Eugen abgegangen. Sein Urteil, Postkarte genügt, besonders in dem Falle dass er die Unmöglichkeit und Unsinnigkeit dieser Publikation sehr lebhaft spürt. Diskret braucht er das Opusculaggio nicht zu behandeln; in seiner schreibmachinernen Gestalt werde ichs sicher manchmal einem zu lesen geben (Deshalb soll er bitte möglichst wenig direkt hineinschreiben).

Mit Rudi wars nett; er schwärmte sehr von seinen F..[?], die Ordre pariert hätten, und erzählte viel Interessantes von ihnen. Vor Tisch waren wir bei Ehrenbergs, Tante Julie war ganz jugendlich geistreich. Nach Tisch kam Helene, die ich auch noch sah. Dann liess ich mir (“auf Verlangen”, so wie ich jetzt auch schriftstellere) die Haare schneiden, las Heller, zum Vergleich mich, und bin begeistert, was für ein wirklich gutes Buch der Hegel ist. Wenn du mal ein wirklich gutes Buch lesen willst, musst du ihn lesen.

Lotti? dass sie verlobt ist, oder bald ist, war ja zu sehen; aber dass du voraussetztest, ich könnte raten mit wem, entsetzt mich etwas; denn da kommt doch nur Schlünz in Frage, das ist doch der einzige Unverheiratete in eurer Gegend, und obwohl ich ihn ja schätze, wie du weisst, ist sie mir für ihn eigentlich doch etwas schade.

Das andre Exemplar des Manuskripts schicke ich an Trudchen, von ihr gehts weiter an Mutter, Tante Emmy liest es heute Abend zu Ende.

Die Frankfurter Zeitung ist komplett katholisch geworden; schade dass du sie in diesen Tagen grade nicht gesehen haben wirst.

Wenn ich nicht vorher da sein muss, fahre ich erst Montag nach Frankfurt. Entweder wohne ich bei euch, sonst komme ich jedenfalls mal vor.

Dein Franz.

31.VIII.21.

Liebes Gritli, Mutter schreibt sehr erfreut über Eugens Besuch. Was aber ist, weiss ja niemand; der Doktor hat an Onkel Adolf (!) einen absolut nichtssagenden bonzenhaften “Krankenbericht” geschrieben, statt eines vernünftigen Worts.

Ich stecke in der Vorbereitung für die Vorträge. Ausserdem war ich beim Schneider wegen eines Überziehers umzuarbeiten. Und ausserdem lese ich mit weiter steigender Begeisterung in meinem Hegel. Ich bin froh, dass ich ihn veröffentlicht habe. Es ist ein prachtvolles Buch.

Dein Franz.

September 1921

1.VIIII.21.

Liebes Gritli,

wir waren abends bei Hans und Dory Mosbacher; es war sehr nett. Ich arbeite für die Vorträge, lese das lotterige und dumme Buch von Heller und erhole mich davon an meinem Hegel, den ich mit wirklichem Entzücken lese, wo ich ihn aufschlage. So muss ein Buch sein. Wie konnte ich mich seinerzeit so dumm machen lassen, dass ich das beinahe nicht veröffentlicht hätte! Eugen hat auch ganz unrecht, dass man es anders hätte schreiben müssen. Nein, man könnte es ausserdem auch noch anders schreiben. Aber nur ausserdem. Die runde, umsichtige, abwägende, das Wirkliche respektierende Art, wie das geschrieben ist, – das ist eben doch die Grundlage. Temperamentvolle Visionen kann man ja dann in Aufsätzen dazu schreiben.

Wenn du mal in so einer Stimmung bist, wo man gern Goethe oder Ranke liest oder so was, dann musst du es mal lesen. Dass es dir damals nicht gefiel, lag daran dass deine Stimmung damals wohl überhaupt allem so Klaren und Epischen abgeneigt war.

Kennt Eugen Mauthners Wörterbuch der Philosophie? Da steht unter a, s und v die adjektivische substantivische, verbale Welt! Tout comme chez nous. Er soll doch seinen Aufsatz über ihn fertigmachen. Vielleicht an einem Vergleich dieser Mauthner-schen Weltgrammatik mit meinem II.Teil zeigen, was er hat und was ihm fehlt. Mauthner baut nämlich auch (am Schluss von “v.”) aus den drei Welten einen Zusammenhang. Die adj. ist letzthin die Kunst, die subst. die Mystik, die verb. die Wissenschaft.

Es ist ja grässlich dumm. Aber doch Dummheit von einem klugen Ausgangspunkt aus.

Es ist Herbstwetter geworden, aber schönes.

Dein Franz.

4.IX.21.

Lieber Eugen,  dein Brief mit dem städtischen Siegel hat Edith einige ängstliche Minuten gemacht, weil sie eine Exmission aus der Wohnung darin vermutete. Ich selber – ja was soll ich denn nun mit dem Ding machen? Ein rundes Nein wagt keiner von euch. Dabei ists euch allen so klar wie mir selbst, dass es nichts taugt. Und keiner zieht die Folgerung daraus, dass es also nicht gedruckt werden darf. Und der Beweis, dass es qua mittelmässig den Erfolg haben würde, den das Vortreffliche nicht haben kann, dieser Beweis müsste doch erst mal geliefert werden. Dazu ist es nämlich noch nicht mittelmässig genug, scheint mir.

Dass es “Gemeinschaftsarbeit” war, war mir beim Schreiben durchaus klar; ich wollte eben mein Popularitätstalent für unsre Gedanken ausnutzen; das ist mir also nichts Neues.

Gott, Gemüt und Welt” (so sagt Goethe) ist eben die einzigenichtdreieinige Dreiheit, die es giebt. Deswegen brauche ich sie. Alle Dreieinigkeiten sind schon ein bischen angeidealisiert. Diese sinn= und einheitslose Dreiheit ist rein zufällig, rein vorgefunden, rein vorhanden.

Königshaus und Stämme (lob ich meinen Ordinarius, lobst du deinen Ordinarius) habe ich schon längst wieder auf dem Programm. Aber der Hegel ist einfach ein flüssiges und schönes Buch, und dabei so sauber.

Das Nachwort an den Kenner fand auch Rudi ganz schlecht. Mach mir doch den dritten Absatz dazu. Mir fällt nichts ein. (Vielleicht der Spruch vom Mittelmässigen, den du mir schriebst?!)

Die schöne Stelle von Michel war ja zufällig das erste was ich von ihm las, und steht hinter all meinen günstigen Urteilen über ihn, ist auch der Grund, weshalb ich den * von ihm besprochen haben will. Nachher war sie dann freilich das einzige ganz Gute[?], was in dem Steineraufsatz stand.

Wir werden uns also, spätestens am Mittwoch, sehen.

Dein Franz.

[gehört zum 6.VIII.21]

am Augenblick halten, der immer erträglicher ist als die Zukunft sein kann.

Ich habe heute aufgeatmet, nach Tagen wieder, wo einer immer grauenvoller war als der andre. Endlich einmal ein ruhiges unverzerrtes Gefühl.

Du weisst eben nicht, dass man eine Last mittragen muss; es genügt dir, wenn der andre sie trägt. Dabei geschiehts nicht mehr um meinetwillen, dass ich sie noch weitertrage; ich weiss genau, dass es um deinetwillen ist, jetzt mehr als je. Was mich angeht – ich sehne den Augenblick herbei, wo ich sie ablegen könnte.

Ich schicke dir den Brief nicht. Es geht nicht. Vielleicht gebe ich ihn dir später einmal, damit du siehst, wie alles gekommen ist.

[andre Seite]

9.IX.21.

Liebes Gritli,  hier ist der eine Brief –

Mit Mutter ist es wie es Eugen gesehen hat. Wenn das eine Genesung bedeutet, so jedenfalls in Form einer Krise, die in ihrem Ausgang noch unabsehbar scheint. Heut war es besser, grade weil mehr von ihrem alten Adam herauskam (etwa sie erkundigte sich nach dem neuen Lehrhausprogramm; und schlug dann sofort aus der freundlichen Frage in einen richtigen kleinen Giftausbruch von dem üblichen um. (A propos: von dem Programm sind diesmal 4/5 “Zentrum” und bloss noch 1/5 Peripherie! das ist doch prachtvoll!) Also – aber gestern Abend, da war sie ganz zerstört und aufgewühlt. Sie hatte gar keine Fenster nach aussen, redete redete redete, hörte gar nicht, auf kein Wort, weder auf Zustimmung noch auf Einwand, fragte nach nichts, nicht nach euch, nach niemandem, sprach nur von sich, und in so einem litaneihaften Ton; ich war tief entsetzt. Dazu sprach sie von Dingen, die sie sonst mir gegenüber immer sehr schamhaft behandelt hatte, auch nicht grade direkt, mehr in dritter Person, aber so dass man spürte: es war alles und grade dies in ihr aufgewühlt. Der Doktor ist ihr viel mehr als Doktor, er ist das Zentrum all dieser Gedanken, um ihn geht es eigentlich. Dies ist das merkwürdig umgekehrteste Leben, das ich je gesehen habe: vom 42ten Jahr an hat sie rückwärts das Stück Leben nachgeholt, das sie versäumt hat, nämlich von 15 – 30. Dora – Vaters Tod – die Jungens – jetzt dies. (die Freundschaft, Ehe, den Geist, die Liebe). Was mag daraus werden?

Dein Franz.

[ca.10.9.21.?]

Liebes Gritli,  immer noch Reste! wenn man es so en miniature faltet, kann mans für einen Brief halten. Wir liegen in Mühlheim auf der Wiese und warten der Kleinbahn die da kommen soll. Ich bin weiter begeistert von der Huch. Aber eigentlich – ich habe noch nie jemanden gesehn, den sie bekehrt hat, bloss uns “schon Bekehrte”, die also grade das nicht nötig haben. Vorne giebt sie eine herrliche Schilderung des bösen Menschen; der tut genau das, was ich “in einem Jahr vorhabe”. Ich bin so froh, dass ich nun wieder ohne Maske zu dir sprechen kann. Hast du mir meine “Vorhaben” geglaubt? D.h. sie waren ja wahr, nur freilich aus der Verzweiflung. Schade dass ich jetzt das Büchlein nicht erst zu schreiben habe. Nun würde es besser.

Der Hans ist um seinen rechten Geburtstagsbrief gekommen. Er hat ja nichts dran verloren, ich um so mehr. Ich muss nun von der vierten Woche an rechnen. Das ist ja imerhin auch eine ganz frühe Bekanntschaft. Zumal ich ihn ja ausserdem schon seit 3 oder 4 Jahren kenne. Möge uns doch dies “Ausserdem” allen[?] erhalten bleiben, in neuen Formen gewiss, aber doch ohne einen Verlust an Kraft.

Ich küsse dir die Hände.

Euer Franz.

12.9.21.

Liebes Gritli,  es ist ja viel einfacher! ich selber hatte ja wenns irgend ginge vor, am 30.IX. zu Mutter zu fahren und am 2.X. zurück. Da können wir also zusammen fahren oder sonst kann ich dich in Mühlheim abholen und in die Kleinbahn umladen, dich und dein Packet. Also das wird gehen, und Eugen darf nicht brummen.

Ich fand hier böse Dinge vor: ein Schreiben vom Wohnungsamt IIa Frankfurt, sie wollen zwischen 9. und 15. besichtigen, ich soll angeben wann ich will. Wenn ich mich weigere besichtigen zu lassen, wird die Wohnung “zwangsweise geräumt”. Unterschrift Biekard. Ich habe Stein und Bein geschworen, dass ich hier sein muss bis zum 21ten. So werden sie mich wohl bis dahin lassen. Aber dann! Gleich “räumen”!

Auch sonst war ich kaput, musste früh heraus, um nach Frankfurt zu telefonieren, (was misslang), schlief auch nach Tisch nicht, vor Lampenfieber, wegen der 5×2 Stunden. Es ging aber gut. Zwei Stunden reden ist gar nicht so schwer. Ich glaube, es war glänzend. Etwa 200 Hörer, (300 gehen nur in den Saal) das macht ja auch Spass. Übrigens ists ja seit dem Krieg das erste Mal, dass ich zu Deutschen spreche, nicht zu Juden oder, wenn mit euch, zu Christen. Und sieh da: es gefällt mir gut. Ich habe freilich auch einen geschickten und kühnen offnen Vorstoss gegen das Vorurteil gemacht: ich habe gesagt, ich begleitete meinen Text mit kulturhistorischen Arabesken (synchronis-tische Tabellen, in den Pausen!), um einen Ausgleich zu schaffen und neben diesem notwendigen Angriff gegen die Denker (die “Bewegung”) das Herrenalter des deutschen Geistes, das sie doch auch bedeuteten, nicht allzusehr zu kurz kommen zu lassen.

Herr Rubensohn hat getobt, dass ich sie “Irre” nannte. Aber ich glaube, viele waren gefesselt.

Ediths Grossmutter ist gestorben. Sie war ein verbitterte Witwe.

Leg doch Eugen mal die Frau ohne Schatten hin, jetzt muss er sie doch verstehen. Sie klingt immer in mir, ich glaube, es ist grosse Poesie

Dein Franz.

14.9.21.

Liebes Gritli,  nur in aller Geschwindigkeit ein paar Worte. Eugen ist ja da. Es war ein so sehr schöner Vortrag, Eugen und alle waren sehr begeistert. Schade, das kann man immer nur einmal; ich werde ja in Frankfurt, wenn ich länger dableibe, natürlich vom Freien Deutschen Hochstift aufgefordert werden und sie halten, aber beim zweiten Male ist es nie mehr das.

Mutter nimmt weniger Schlafmittel jetzt und ist dadurch anders, findet Edith. Die “Dösigkeit” kam eben doch daher.

Gestern Nacht habe ich bis tief in die Nacht hinein Schellings Leben gelesen. Ein wirkliches Leben ist es auch nicht, sowenig wie Fichtes oder Hegels.

Es ist zu schade, dass du nicht hier bist und hören kannst.

So zwei Stunden sind natürlich kein Vortrag mehr, sondern wie ein Auftreten eines Schauspielers: man lebt den ganzen Tag nur daraufhin. Freilich in Frankfurt wo ich einfach andres zu tun hätte, würde es wohl doch nicht so sein.

Wegen des “Säuglings” in Badenweiler will ich mal Edith fragen, die soll vorsichtig den Doktor fragen, ob es einen “schreisicheren Raum” für euch gäbe, z.B. im Schwesternzimmer im zweiten Stock, wo ja keine Patienten liegen (man müsste da mal ein Probeschreien veranstalten, ob man es bis in den ersten Stock hört).

Eugen schreibt auch, da kann ich nicht recht. Ruh dich schön aus und grüss den Hans.

Dein Franz.

15.9.21.

Mein liebes liebes Herz —

ja es wird gut sein, ich sehe auch fröhlich in diesen Winter. Auch hier ists seit gestern Mittag noch einmal Sommer geworden; ich sitze wieder draussen auf der Veranda. Eugen ist früh, während ich noch schlief nach Göttingen; ich werde ihn Mittags anrufen und ihm sagen, dass es dir besser geht.

Das “Wollen” und “Pflegen” war ja auch mir so ein fremder Gedanke. Noch als Hans es mir im Frühjahr auseinandersetzte (alle Menschen müssten ihr Leben bergauf rollen, ich – nach seiner Ansicht – allein hätte es bisher immer einfach bergabrollen lassen können, nun sei die Kugel in der Ebene angelangt und ich begriffe nur nicht recht, dass ich ihr nun von Zeit zu Zeit einen Stoss geben müsse damit sie weiter rolle), da wollte ich es ihm nicht glauben. Er hatte recht, nur nicht mit dem Unterschied von mir und “allen Menschen”, – da steckt eher ein Unterschied von ihm und allen Menschen; was er von allen Menschen meinte, gilt ja nur von ihm.

Ich lege dir was aus der Zeitung bei. An sich und grundsätzlich ist es ja eine Verirrung, und doch scheint es mir – trotz des falschen Tons – irgendwie gelungen. In Wahrheit müsste man diesen “archaisierenden” Eindruck eben mit Benutzung der neuhochdeutschen Grammatik herauskriegen. Schade.

Leb wohl, lass es dir wohl gehen.

Ich bin dein Franz.

15.9.21.

Liebes Gritli,  ich will doch noch einmal ein paar Worte über den Brief sagen, den ich dir geschickt habe. Du siehst ja daraus, wie falsch es von Eugen ist, mich einfach mit dem Wort “hysterisch” (“als du noch hysterisch warst”) abzutun. Ich wollte schon, es wäre so. Aber die “Hysterie” ist gar nicht Ursache, sie ist nur Folge. So war es hier, und der Brief muss dir das zeigen. Wenn man sich nicht mehr zu helfen weiss und musss es in sich verschliessen +), dann geht es eben nach innen, und das ist dann “Hysterie”. Aber dass man sich nicht zu helfen weiss, das ist keine.

Früher (nämlich vor Helenes Ausfall) konnten wir freilich alles laufen lassen wie es von selber lief. Denn damals hatten wir die Gewissheit, dass jeder nur durch die andern und mit den andern lebte. Es gab gar keine Möglichkeit zum Alleinleben. Wenn man auch gegeneinander schwieg, so wusste man doch, dass man beieinander war; denn es gab gar kein andres Sein als beieinander. Seit jenen letzten Augusttagen vorigen Jahres ist das anders. Seitdem hat jeder sein eigenes Leben, auch der Grad seines Lebens ist davon abhängig, wie er sich in dieses sein eigenes Leben hineinlebt, nicht wie er mit den andern zusammenlebt. Du hast das Kind und die Entdeckung deiner Ehe. Eugen hat den Beruf entdeckt (und ist sehr erschrocken, dass Beruf kein Liebesverhältnis ist) und an Stelle der “Tochter” sieht er sich plötzlich mit einer – Mutter verheiratet. Ich habe Edith, und weiss (nach dem Säckinger Aufenthalt im Februar), dass mir niemand dabei helfen kann, weil mir – niemand dabei helfen darf [doppelt unterstr.]. Rudi hat sein entdecktes Lebenswerk vor sich und seine wiederentdeckte (ich möchte sagen: “nacheheliche”) Erotik, auch beides Dinge, in die ihm niemand hineinreden kann, sondern denen man ihre Entwicklung bzw. (der Erotik) ihren Ablauf lassen muss. Hans war immer für sich.

Das Zusammenleben [doppelt unterstr.] ist nun nichts mehr was von selber und notwenigerweise und nötigenfalls selbst malgré nous geschieht, sondern es ist nun unser bewusstes Werk geworden. Wir müssen es “pflegen”. Wir dürfen nicht vertrauen, dass es “doch einfach da ist”. Das war einmal. Jetzt müssen wir vertrauen, dass es nötig ist. Dazu brauchen wir jetzt unsre Glaubenskraft. Denn das ist jetzt mit Augen nicht eizusehen. Die Augen sehen jetzt nur das Alleinleben. Nur das ist jetzt “da”. So wie früher nur das Zusammenleben “da” war. Und man an das, dass man davon auch “selber”, auch als alleiniger, einzelner lebte, “glauben” musste.

Also     —        Dein Franz.

+) weil man “befreiende” Konsequenzen nicht ziehen will

16.IX.21.

Liebes Gritli,  Rudi ist fort, ganz dick von seiner Ordinariatsaussicht; es scheint mir auch wahrscheinlich. Die Margret Sommer ist verblüffend langweilig. Eugen hat es ihr ja gestern mit einer mir an ihm fremden Unhöflichkeit demonstriert; es war überhaupt ein komischer Abend.

Mutter scheint allen Ernstes das “Büchlein” umarbeiten zu wollen. Den Schluss findet sie wieder gut. Nur die Hauptkapitel. Aber Eugen hat mich gestern überhaupt davon entbunden. Ich sehe daraus erst, wie wenig ernst er meine Berufstätigkeit genommen hatte; es war ihm einfach neu, dass ich überhaupt eine Äusserungsform habe; er hatte sich gedacht, seit dem * wäre ich zum Schweigen verurteilt, und deshalb müsse es mir etwas bedeuten, wenn ich mal wieder etwas drucken liesse und wenn es auch ein erpresstes Machwerk wäre. Es glaubt eben jeder nur, was er sieht. So hat er mich nie im Beruf gesehen, was ja auch nicht sein darf; nun hat er mich im Analogon gesehen und nun merkt ers. Ich will übrigens gar nicht sagen, dass ich das Büchlein nicht jetzt z.B., wenn noch Zeit wäre, besser geschrieben hätte; aber nun wird ja bis Ostern keine Zeit dazu sein.

Der Sieg auf der ganzen Linie ist mir heute durch eine gradezu symbolische Unterwerfungshandlung bestätigt: Kay, der deutschnationale Buchhändler hat den Hegel rechts und links von Chamberlains Neuestem (Gott und Mensch) in der Mitte seines Schaufensters liegen.

Wie war dir gestern? ich fürchte, nicht gut.

Dein Franz.

18.9.21.

Liebes Gritli,  die Margret ist glücklich weg, mein Schnupfen beginnt wegzugehen, und so bin ich ganz allein mit Schellingen. Meine Illusionen über Verstandenwerden sind mir aber grausam zertrümmert durch einen schrecklich dummen und fehlerreichen Bericht in einer (der volksparteilichen) Zeitung. Wer den liest und etwas von der Sache weiss, mich aber nicht gehört hat, der muss mich für einen grossen Ignoranten halten. Das Komischste ist, dass der Berichterstatter die antiphilosophische Tendenz über die ich die ganze erste Stunde gesprochen habe, mir sichtlich einfach nicht geglaubt hat!! Wie soll mans machen? Ich hatte

Philosophie = Idealismus gegenübergestellt: natürliches Denken = öffentliche Meinung

I                                                                                   I

Beweisen                              //                                  Bewähren

Daraus (ich habe rund 1/ 2 Stunde darüber gesprochen!) macht er: “Einleitend kennzeichnete er das Wesen der Philosophie im Gegensatz zur öffentlichen Meinung, als die Forderung nach dem Beweis oder der Bewährung der einzelnen Ansichten.

Ich gehe noch heraus zu Oppenheims.

Heut habe ich eine Karte von Frankfurt gekriegt. Die Lokalfrage ist noch nicht gelöst. Doch schwankt es nur zwischen der Elisabethenschule und dem Montefiore, also beides in deiner Nähe. Meine Vorlesung wird fast sicher um 6 1/4 sein müssen, weil ich die Stunde nachher für Arbeitsgemeinschaft oder Hebräisch ausnutzen muss; das kann ich nur nach, nicht vor der Vorlesung. Und andrerseits bin ich nach der Vorlesung immer so, dass ich ganz gut noch was andres tue, zum Abregen.

Mutter ist (immer noch von Fränkel) “unvergleichlich wohler, auch heute kaum Schmerzen und geistig ganz auf der Höhe”

Dein Franz.

20.9.21.

Liebes Gritli,  ich bin auf der Fahrt nach Frankfurt, werde in Giessen Station machen und versuchen, Fritzsche zu sehen. Ich bin froh, dass ich die Kassler Anstrengung hinter mir habe. Der Tag gestern war ein Misserfolg, sehr charakteristischerweise, – es war eben der Übergang aus der stets beliebten allgemeinen Bildungssphäre von “Hegel und der Staat” in die unbeliebte Wahrheitssphäre des “Sterns”. Das vertragen die Leute nicht, und dies Nichtvertragen setzt sich um in Nichtverstanden haben. So wie ich gestern sprach, war es normales Lehrhaus – und die Wirkung auch bei diesem wirklich wohlwollenden Publikum dann automatisch die verwunderte Ablehnung, wie ich sie im Lehrhaus gewohnt bin. Was mir im Lehrhaus noch fehlt, ist die genügende Ausbildung der zugehörigen Allgemeinbildungssphäre, damit ich nicht, wie jetzt meist, dort 4/5 Wahrheit und 1/5 schmeichelhaftes Bildungsgeschwätz geben muss, sondern das umgekehrte Verhältnis 1/5 :4/5, wie jetzt in Kassel. Denn in der Erinnerung werden doch die angenehmen 4/5 das eine unangenehme überwiegen.

Eugen und Rudi gefiel es natürlich gestern auch. Dass es technisch nicht so vollkommen war, ist ja natürlich. Dazu fehlte die nötige Wurstigkeit. Das letzte auch technisch vollkommen zu sagen, ist mir nur sehr selten geglückt; einmal, wo du es zufällig grade gehört hast: in der Stunde über den prophetischen Menschen, im Dezember vorigen Jahres.

Mutter ist durch ein optimistisches Gutachten von Fränkel scheinbar aufgekratzter. Da es inhaltlich mit dem Bendixschen übereinstimmt (nur die alten Leiden; sie soll sich etwas drüber wegsetzen), so bin ich geneigt, dran zu glauben. Bis zum 25. ist Hennar Hallo da, am 5., wenn ich abkommen kann, ich, vom 8. ab O.Otto und Tante Emmy ein paar Tage.

Zu der “Welt”, die es misbilligt hätte, wenn du wegen des Vortrags eine Verrücktheit gemacht hättest, hätte ich durchaus dazugehört. Vertrau doch drauf: du hast nichts versäumt, ich habe bestenfalls an einigen Stellen das Niveau jener damaligen Stunde oder der ganzen Hermann Cohen = Stunden erreicht.

Dein Franz.

[21.9.21]

Liebes Gritli,  es war wieder wunderschön in Giessen. Er ist ein ganz besonderer Mensch. Ich habe drei Nummern der christl. Welt kommen lassen, in der Andachten von ihm stehn, ganz untheologische und doch ganz andächtige. Einer von den Menschen, die noch tagelang in einem nachklingen. Ich war von 3-9 mit ihm, ein paar Stunden spazieren durch die Stadt kreuz und quer, er hat mir alles gezeigt. Die Andachten schicke ich dir. Doch hoffe ich, dass ihr ihn kennen lernen werdet, mal. Das Cohenbüchlein (ca 2-3 Bogen) ist fertig; ich werde korrekturlesen dürfen. Er hat die tiefsten Einsichten in ihn gehabt, auch (wo er glaubt sie nicht haben zu können:) in sein Jüdisches. Eine solche Anekdote hat er mir viel tiefer interpretiert als ich sie selbst zunächst verstand, und viel richtiger.

Dass es so etwas in Deutschland doch noch giebt, ist herrlich. Auch politisch sieht er – alles in seiner klassischen Weise – das Letzte. Sein – dieses Erz = Akademikers – letztes Wort gestern Abend war: wir müssen doch noch alle auf die Volkshochschule.

Jetzt also wieder im blauen Zimmer, nachher kommt Eugen mit Lotti, dem corpus delicti. Dein Brief kam noch Vormittags, von Eugen einer früh. Diese “Mitteilungen” wären nicht nötig gewesen, denn abgesehn von meinen Augen hatte ja Rudi, dieser Gockel, diesen Sieg schon fleissig in die Welt hineingekräht, so dass ich z.B. die von euch so anonym behandelten Pläne Lottis für Oktober schon längst aus einem wohlwollenden (“hat sich einen Ehrenplatz in meinem Herzen zu verschaffen gewusst”) Brief von Rudi an Tante Dele kannte, so dass ich über eure Zartheit, die eben die Sache unwillkürlich von Lottis Seite aus sah, etwas lachen musste. Dass ich damals als du mich raten liessest, daran nicht dachte, lag daran dass ich nach deinen Worten an etwas Wirkliches glauben musste nicht an “Mädchenträume”. Das hätte mich für Lotti interessiert; das jetztige geht doch, ausser Lotti selbst, nur euch an, denn ihr habt da allerdingseine Verantwortung, nicht weil du irgend eine Schuld hast, – das ist Unsinn, an Rudi wie er nun glücklich wieder geworden ist, hat noch nicht mal Greda Schuld, sondern nur Helene -, eure Verantwortung ist ganz massiv (nicht für LottisSeele); du  kennst Rudi, denk ihn dir nun ohne die Bindungen, die ihn damals noch hielten, und dann weisst du, wovor Lotti zu hüten ist. (Wie, weiss ich selber nicht; du wirst selber als Schwester vielleicht wissen, wieweit einfach eine gewisse “Aufklärung” not tut, die freilich schwer genug so beigebracht werden kann, dass nichts Zerbrechliches kaput geht). Denn – um das mit aller Deutlichkeit zu sagen – mag Rudi mit “neuem Menschen” und Bibelversen nur so um sich streuen – ich traue ihm nicht über den Weg. Ich habe ihn ja mehrmals, dreimal, gesehen in dieser Zeit, und habe nie den Ekel vor dem gewissen Odeur, der von ihm ausging, und dem gewissen Ton, den alles hatte was er sagte, verloren. Dabei wagt er sich, genau wie in der genau entsprechenden (auch ganz auf das gleiche “Problem” eingestellten) Epoche seines Lebens, nämlich 1911/12, nicht vor mir recht heraus; auch damals hat er seinen sexuellen Protzbedürfnissen nur Hans gegenüber freien Lauf gelassen, mir erst hinterher, als Helene gekommen war und ers nicht mehr um zu protzen oder aus experimentellem Interesse tat, in anständiger Weise davon geredet. Das war freilich auch die Folge meiner Haltung: er muss es mir damals angemerkt haben, dass ich das von ihm nicht wissen wollte; ich hielt mich damals (wie jetzt) an die (wie jetzt) damit verbundene geistige Produktivität. Die ist ja auch jetzt da, und Vorwürfe kann man ihm kaum machen, nur etwas sich die Nase zuhalten, wenigstens ich. – Übrigens ist – das dürfte ich dir eigentlich nicht sagen – Lotti für ihn in dieser ganzen Epoche nur Episode. Das eigentliche Drama spielt sich zwischen ihm und Greda ab, Lotti ist da der notwendige Zwischenakt, der Entscheidungskampf mit Greda kann erst dann kommen. Die Herausforderung liegt in dem Wort Gredas, das so unverhältnismässigen, aber grade dadurch so bezeichnenden, Eindruck auf Rudi gemacht hat: “es” liege immer an der Frau. Dabei – du darfst mich nicht missverstehn – meine ich nicht, dass ihm an dem wirklichen Gegenbeweis was liegt, es wird ihm genügen wenn er sie schachmatt gesetzt hat. Überhaupt ist diese ganze erste nachhelenische Periode seines Lebens noch so, dass Helene noch zufrieden sein mag; vorläufig ist sie ja noch die Ehefrau à la Bahrsches Konzert oder noch nicht einmal: einfach der eheliche Hafen in den nach gelegentlichen Freundschaftspartien zurückgekehrt wird; und dass sie das werden würde, hat sie ja wohl voriges Jahr als sie das gemeinsame Leben verleugnete vorausgewusst; sie mags noch ganz erträglich finden. Aber wenn erst die zweiteSerie kommt (Zeitpunk: die ersten Theaterauffühungen seiner Stücke) und die betr. Weiber anders ins Zeug gehen, wie es ja dann geschehen wird, dann wird sogar Helene merken, das sie aus dem Regen in die Traufe gekommen ist.

Das klingt dir alles hart, und Eugen wenn ers läse würde wüten. Ihr steht jetzt mutatis mutandis zu Rudi wie damals 11/12 Hans. Ich will jetzt sein Vertrauen gar nicht. Ich weiss, dass wenn er mich noch je einmal brauchen wird, er mich deshalb brauchen wird, weil ich ihm jetzt, in diesen Jahren, nicht geglaubt habe und sein Vertrauen mir fern halte.

Noch einmal: für Lotti ist das Ganze, wenn sie nur unbeschädigt hindurchkommt, nicht schlimm; im Gegenteil wird sies sogar reifer machen, und den Spass mal fleissig angedichtet zu werden, kriegt sie noch als Zugabe. Eine gesunde Natur, die die paar obligaten Seelenkatastrophen überstehen wird bringt sie ja mit. Meine wirkliche Sorge geht, wie in diesen ganzen Monaten, unverändert nur auf diesen von seinem guten Geist im Stich gelassenen und von einem bösen, von dem bösen (verzeih, aber ist jenes Wort, “es liege immer an der Frau”, nicht aus dem tiefsten Abgrund der Hölle? sprechen nicht also, von Berufswegen – also sogar entschuldigt! – auch die Huren?) aufgegriffenen Rudi.

Ich hätte dir nicht geschrieben über all das, wenn du mich nicht direkt dazu aufgefordert hättest. Nun wollen wir weiter kein Gerede mehr

(doch noch ein Blatt!)

daraus machen; so etwas kann man nur als ein versiegeltes Buch von sich geben; überlass es der Zeit, die wird die Siegel lösen. Und sorg für den Knaben Absalom, ich meine die in eine Geschichte, die nicht ihre ist, hineingezogene Lotti. Es ist ja etwas das allgemeine Mädchenschicksal, dass das eigene Erlebnis die Epiosde der andern ist.

Ich sehe wie ich nochmal in diesen Brief hineinsehe, dass du dies letzte (und damit den ganzen Gehalt dieses Briefs) ja auch selber schon gesagt hast, dass du die beiden Lieben, das was Rudi so nennt und das was Lotti erfährt, “nicht in eins denken kannst”. Das ists eben.

Ich stecke in der Lokalfrage, die ja etwas auch deine ist.

Grüss Hanslis Grossmama.

Dein Franz.

Ich habe Frau Susmann einen Cohen versprochen; ich werde ihn Eugen geben, dass er ihn gelegentlich mit an dich schickt, wenn mal was zu schicken ist. Oder sonst bringe ich ihn selbst, wenn es möglich wird.

22.9.21.

Liebes Gritli,  nur rasch, bis eben hat mich Herr Kracauer aufgehalten, und gleich muss ich Ilse abholen, ich bin am Bahnhof.

Es war nett gestern, die Geburtstagsfeier bei uns. Wir hatten Lotti die Renaissance von Gobineau, die Gespräche mit Dämonen von der Bettina geschenkt und “zwei Predigten nach dem grossen Brande”, ein altes Heftchen, das ich mal wegen des lustigen Umschlags gekauft hatte. Sie vertiefte sich nur – in die Predigten, ob weil es Predigten waren oder wegen des allerdings anzüglichen Titels weiss ich nicht.

Abends in einer schönen Aufführung der Penthesilea. Und heut ein grosses Hintereinander von Telefonaten etc. Der Stundenplan ist nun im Werden. Die Bibelstunde ist um 7. Die Wiss. von Gott vielleicht auch (obwohl mir das sehr unangenehm ist, denn vorher ist Straussens Christentum, das ich ja hören will, – und das du wirklich auch hören solltest, es wird sicher was Besonderes. Es wird allerdings wohl mitgeschrieben werden.

Eugen war einen Augenblick vormittags da; abends sehe ich ihn auch wohl noch 1/2 Stunde, da ich um 9 in der Loge sein muss.

Ich gewöhne mich schon wieder an das Melusinenschlösschen.

Dein Franz.

23.9.21.

Liebes Gritli,

Eugen, bei dem ich gestern Abend noch einen Augenblick war, hatte auch noch kein Wort von dir gehört. Und heute wieder nichts. Ich fürchte, du warst von der Reise herunter, und da hat dich mein überoffenes Wort über Rudi wegen der nun einmal nicht zu übergehenden Beziehungen, in denen für ihn die Episode Lotti steht, mehr verstört als gut ist. Ich kann aber unmöglich etwas darüber sagen – wie du doch wolltest – und dabei den eigentlichen Dämon der hinter allem steht, über dem lieblichen Vordergrundsgehabe, verschweigen. Wenn man Lotti in ihrer gesund = kindischen Harmlosigkeit sieht, möchte mans ja gern. Im übrigen aber: du brauchst mir nichts darauf zu antworten; ich weiss, was ich sehe; und dass ich nicht darüber reden muss, sondern es stillschweigendin die Geschichte dieses ganzen grossen Auseinanderbruchs eintrage, das musst du doch auch gemerkt haben. Es bleibt allerseits noch genug übrig, was das Leben erträglich bis lebenswert macht.

Ich muss schon gleich wieder fort. Ich habe viel Lauferei, und zweifle doch, ob ich wirklich am 5ten ff eine Atempause werde einlegen können. Wenn jemand von euch, ich meine: wenn deine Mutter einmal jetzt herauf nach Badenweiler führe, täte sie wirklich ein gutes Werk.

Frau Hallo ist heute fort.

Dein Franz.

24.9.21.

Liebes Gritli,  das war doch wieder nett, nach 10 Wochen der erste “Schabbes” wieder. Ich hatte fast vergessen wie es tut, und es zuletzt auch nicht mehr vermisst. Ernst Simon war nachmittags da (Ruth konnte nicht); er blieb dann den ganzen Abend; zum Abendessen kamen Eugen und Lotti. Eugen las seinen Aufsatz für die Volkszeitung vor, er ist gleich in der ersten Fassung sehr gut. Es war überhaupt ein hübscher Abend; Ernst Simon in bester Form.

Die christlichen Welten sind angekommen, doch will ich sie morgen an die Bergstrasse mitnehmen und sie den Versammelten vorlesen; (Ernst S. kommt vielleicht auch mit).

Nach Tisch war Eduard da, um mir das “Büchlein” wiederzubringen, er geht eine Woche auf eine Vortragsreise; er ist gegen die Veröffentlichung, obwohl es ihm gut gefällt. Er befürchtet die Missverständnisse. Es sei geschrieben wie man sprechen dürfe. Auch der Brief der Huch, der mich wieder etwas irre gemacht hatte, beirrte ihn nicht.

Wir planen eine Festschrift für Nobel, ich würde die Häusliche Feier bei der Gelegenheit gedruckt kriegen; das wäre nämlich mein Beitrag. Ernst das Gedicht das du kennst. Von Nobel selbst ein Vortragsstenogramm ohne sein Wissen. Aufsätze von Ernst, zwei andren Jungen, Aphorismen von Strauss, vielleicht was von Koch. Kurzum nur die Jugend. Voran sein Bild. Er wird 50 Jahre alt. Die Zeit ist knapp, bis Ende November.

Vertrauen und Misstrauen – es darf ja immer beides da sein, gegen die andren sogut wie gegen einen selbst. Es ist nur der Unterschied, was dieGrundlage ist und ob es heisst: und dann glaub ich ihm doch, oder: und dann misstrau ich ihm doch. Und jetzt (zum Unterschied von der ganzen Zeit Helenes, 1912-20,) ist mir das Misstrauen die Grundlage (wie vor Sommer 1912) und der Glauben das “und dann doch wieder”, bloss. Lotti übrigens und ihrer Lebenskraft gegenüber ists ja leicht, das Vertauen zu haben, dass sies überleben wird, und die Beängstigungen treten, wenn man sie sieht, ganz an die Peripherie. Ich muss noch ein Telegramm für Schwiegerpapa dichten, der Geburtstag hat. Also gute Nacht.

Dein Franz.

25.9.21.

Liebes Gritli,  auf der Rückfahrt von Bensheim. Es war ein hübscher Tag, herrliches Wetter. Ich bin auf eine Idee gekommen: das Büchlein pseudonym zu veröffentlichen, etwa als Adam Bund, in der Vorrede direkt die Anregung durch “Rosenzweigs St.d.Erl.” “bekennen”. Auf die Weise hätte ich 1.) die viele Arbeit nicht umsonst getan, 2.) würde es seine Wirkung tun, 3.) könnte ichs solchen Leuten, bei denen ichs gut fände, es geben, 4.) rückte ich damit den nötigen Zwischenraum zwischen mich und das Buch und verhinderte 5.) dass man es läse und daraufhin den * nicht mehr läse. Und 6.) könnte ich gleich nach Erscheinen eine – Kritik darüber schreiben. Ich meine, da es wirklich schon von mir und nicht von mir ist, so wäre die äussere Maskerade nur die ganz stilvolle Fortsetzung der inneren des Buchs selbst. Komisch übrigens, dass du es noch gar nicht kennst.

Ernst Simon war doch nicht mit.

Ob ich nach Säckingen komme, das hängt davon ab, ob ich überhaupt fahren kann. An den 5ten glaube ich selber nicht mehr; bestenfalls werde ich wohl am 7ten fahren; am 10ten spätestens müsste ich zurück sein. Es hängt eben vom Herausgehn der Programme ab; noch sind sie nicht beim Drucker, und von 1.- 4ten kann ja nichts gearbeitet werden. Und ohne mich gehts nicht; es muss immer einer da sein, der sich um alles kümmert, das weisst du selbst. Der Säckinger Tag würde also eventuell der 9.X.

In der Bahn heut früh habe ich die ganze Vorlesung entworfen, alle 8 Stunden; sie werden wohl sehr schön. Sie ist Dienstag 6 1/4, anschliessend Straussens Christentum. Am Donnerstag 6 1/4 ist meine Arbeitsgemeinschaft und anschliessend Straussens Bibelstunde.

Und die Arbeitsgemeinschaft werde ich wohl themalos anzeigen; vielleicht kommen dann die richtigeren Leute (“Thema wird in der Vorbesprechung nach den Wünschen der Anwesenden gewählt”).

An der Tinte siehst du, dass wir wieder zuhaus sind. Die jüdischen Feiertage? 3.und 4. Neujahr, 12. Versöhnungstag, 17.18.23.24. Hüttenfest, 25. Gesetzesfreude. Immer die Vorabende natürlich noch dazu.

Bei dem Geburtstag haben wir uns doch nun natürlich gewaltig zusammengenommen, nachdem damals deiner so verdorben und Eugen so böse war. Über das was du folgerst, mag ich nicht sprechen. Wenns so ist, so ist es sicher noch nicht beredbar.

Die Nobelschrift gewinnt Gestalt, vorläufig in meinem Kopf. Wenn ich Zeit finde, schreibe ich vielleicht den grossen Aufsatz über Max Weber dafür, der mir im Kopf summt.

Ich fand einen Kasten Briefpapier noch im Schrank hier! Da die Christl. Welten doch ein grosses Couvert brauchen, so passts ja grade.

Grüss Hansli und sei selbst herzlich geliebt         von

Deinem Franz.

26.9.21.

Liebes Gritli

Mutter schreibt so sehr jämmerlich; am liebsten schickte ich dir den Brief, damit du selber siehst, aber Edith (und Ilse) sind fort in Wiesbaden und Schwalbach. Es wäre wirklich schön, wenn deine Mutter mal einen Tag dran wenden würde, selbst auf die Gefahr hin, dass sie gleich geduzt würde, was ich übrigens noch nichtmal glaube. Tante Paula musste ich gewaltsam fernhalten, Tante Clara gewaltsam herholen – es geht immer alles umgekehrt im Leben als es gehen sollte.

Ich war beim Drucker; es sieht ganz so aus, als ob die Sachen noch diese Woche zur Post kämen, dann könnte ich fast sicher am 5ten fahren.

Ich lebe sehr auseinandergezerrt in diesen Tagen, es ist jetzt noch nicht sicher, wo die Vorlesungen sein werden, ob in der Schule oder im Montefiore! Aber das ist nicht das Eigentliche. Sondern dass jeder Tag, den ich lebe ein Schritt am Abgrund des Schweigens entlang ist und dass ich hineinsinken muss, wenn du das Seil loslässest. Es ist so. Ich habe dir jene 7 Wochen lang vergebens ersparen wollen, es zu wissen. Nun weisst du es doch. Denk daran, ich bitte dich mit allem was in mir noch am Leben hängt.

Lass dich lieben!

Dein Franz.

27.9.21.

Liebes Gritli,   natürlich werde ich dich in Säckingen besuchen können. Wenn ich Mutter etwa am 5.X, besuche von da aus. Da wird ja Edith vermutlich auf ein paar Tage nach Berlin gehen, und Ilse wird allein mit dem Mädchen in der Wohnung bleiben und über der koscherté wachen.

Ich war – also erst gestern Nachmittag bei Tante Julie, die ganz herrlich war. Abends allein mit dem trübseligen Sönnerchen[?]. Heut Vormittags bei Trudchen, und nachmittags seit 7 Jahren zuerst wieder, bei Erna Jäckh. Dazwischen lagen ein paar Briefe im Frühjahr 18, von denen wir nicht sprachen; es hatte sie aber geärgert, dass ich seitdem nicht zu ihr gekommen war. Womit sie wohl recht hatte. Du entsinnst dich ihrer. Sie war dir damals unheimlich. Inzwischen hat sie das Altwerden gelernt und beginnt sachte, wieder süss und wohlschmeckend zu werden. Auf ihrem Hand = Büchergestell steht freilich unter ca 20 Bänden neben Allgeyers Feuerbach das Eherecht von Professor Ichweissnicht.

Nun muss ich das Sönnerchen bei Ehrenbergs abholen! Aber der Goethe ist schön geworden.

Die “Ferien” faulenze ich also, lese etwas zu Schelling, habe einen regelrechten Schnupfen, und trotzdem allerlei wichtige Gedanken für die Schlussstunde.

Die Geldablösung von Zwangseinquartierung wird nächstens auch hier eingeführt. Ich wollte es für Mutter wünschen. Mutter – hör was Edith schreibt: “Morgen kommt Fränkel. Das hat einen Sturm gesetzt, mit Toben, folgende Migräne und heute: völlige Schmerzfreiheit, wie schon seit Wochen nicht”.

Ich muss fort. Ob dich der Brief überhaupt noch in Frankfurt trifft?

Dein Franz.

27.9.21.

Liebes Gritli,  die Programme sind beim Drucker. Es wird wohl alles glatt gehen und vielleicht fahre ich schon Dienstag Nacht, um Mutter den aufgeregten Mittwoch zu ersparen, indem ich überraschend schon Mittwoch früh da bin. Wenn doch nur deine Mutter hinkönnte in den nächsten Tagen!

Wie ich vom Drucker wieder kam, lag dein Brief da. Nun ist der Tag wieder gut.

Ich wünsche doch sehr dass du dich nicht abschrecken lässest und weiternährst. Eugen war neulich schon ganz aufgeregt. Ich glaube aber an die Ärzte wenn sie mit der Natur im Bunde sind. Was schadets wenn du dich dabeianstrengst. Und es wird ja sicher immer schöner, je älter das Kind wird. Bei so einem wie Trudchens, das schon ein richtiges kleines Menschlein ist, so eins wie die Christkindchen der Maler, muss es ganz herrlich sein; sie hats ja freilich vor der Reise absetzen müssen; sie hatte es länger genährt als die andern, weil sie traurig war, dass es ja wohl das letzte sein würde.

Eine Antwort auf den “langen” Brief hatte ich nicht erwartet; ich hatte ihn ja selbst als “versiegeltes Buch” empfunden, das man aufbewahrt und viel später einmal wieder aufmacht. Deshalb wars mir auch nicht recht, dass mich Eugen am Sonntag darauf ansprach und mir mitteilte, Rudi sei nämlich “jetzt” “zum ersten Mal in seinem Leben ganz bewusst”. Ohne Zweifel – nur ist diese Vergehirnung eben das Schreckliche, und sie ist nicht “das erste mal”, sondern auch 1911/12 war das Scheussliche eben die vollkommene Vergehirnung der Dinge, der er ja nachher oder während – ich weiss nicht mehr – in der “Verführung zur Ehe” ein Denkmal gesetzt hat. Eben das ist ja die Atmosphäre, in die er im letzten Jahre getreten ist, Kennwort: “erotische Genialität” – Genialität! eben auch so ein Gehirnwort.

Das Programm sieht herrlich aus, wird aber wahnsinnig teuer. Es giebt sicher einen Krach darüber.

Dein Franz.

28.9.21.

Liebes Gritli,

da ist das Programm. Es kommt nun leider nicht als mein Vorreiter, sondern als mein Stellvertreter. Denn: von Mutter kam heut so ein entsetzlich jämmerlicher Komm = Brief, dass ich die Ereignisse des Postfertigmachens u.s.w. sich ohne mich abspielen lasse (nur Edith darauf sehen lasse, damit jemand mit unsubalternem Verantwortungsgefühl über der Sache wacht) und fahre morgen früh zu Mutter. Und da ich Sonntag mittag zurück sein muss, so fällt für Säckingen keine Zeit mehr heraus. Wüsste ich, dass deine Mutter in diesen Tagen mal hinfährt, so hätte ichs doch beim ursprünglichen Datum zu lassen gewagt, vielleicht treff ich gar mit ihr zusammen, vielleicht steht in einem Brief von dir, den ich morgen (schon nicht mehr) kriege: sie fährt; aber das ist dann zu spät und ich bin unterwegs. (Es wäre ein richtiger Traktätchenbeweis dafür dass man schreiben soll). Nach Neujahr kommen dann Otto Ehrenbergs, dann wohl Else, so ist für zunächst gesorgt; Mutters Schrei ging nach “gleich”. Und schliesslich musste ich schon fahren, damit sie noch das Gefühl hat, das Schreien hilft. Denn wenn man das nicht mehr hat, ists Zeit sich aufzuhängen. (Obwohl man das auch dann noch nicht tut, sondern “weiter = lebt”.) —

Ich war mit Nobel ein paar Stunden spazieren heute Morgen.

Dein Franz.

Heut Abend sind wir bei Eugen.

[29.9.21.]

Liebes Gritli,  es war ein sonderbarer Abend bei Eugen. Ich wusste ja nicht, dass Graf für Eugen eine “wichtige Persönlichkeit” ist, so legte ich ganz unbefangen los, und verdarb dadurch Eugen ein Stück Stellungspolitik. Überhaupt war ich richtig dumm und ärgerte mich über Pater Probes katholische Offizialitäten von der allerscholastischsten Scheusslichkeit, statt zu merken, dass er nur abgründig klug war. Nachdem mich aber Eugen – und Edith mit ihrem Sinn für Kirchlichoffizielle – belehrt haben, kapiere ichs nun. Du hättest dich aber amüsiert.  Die Arbeiter sind grässlich; und doch spricht man unwillkürlich für sie und auf sie hin. Sie sind “S.M. das Volk”, um das es geht. Das ist im Lehrhaus besser. Wenn ich da mit Koch rede, gehts nur noch um ihn, und die Leute mögen zusehn was mit ihnen wird.  Ist das Programm nicht herrlich? Ja und du? wirst du können? Sei nicht traurig, wenn du nicht kannst. Das “Christentum” wird mitstenographiert, die Bibelstunde wirst du schon mitmachen können, und die Wiss. von Gott weisst du –

Ich rufe dich heut Nachmittag an. Wenns von Fahrplans (und vor allem von Mutters) Gnaden geht, so besuch ich dich Freitag von Vormittags bis nach Tisch. Sehr komisch wärs, wenn Deine Mutter und ich auf die Weise aneinander vorbeiführen. Du darfst nicht fest rechnen, dass ich kommen kann; denn Mutter ist ja unberechenbar. Wenn sies schon übel nimmt, dass ich von den 2 1/2 Tagen ihr noch 3/4 Tag entziehe, so muss ichs eben lassen.

Ich habe schon Programmpläne für das 2te Trimester, und einen “grossartigen Finanzplan” für den Verein.

Mir gegenüber (im Speisewagen) sitzt ein Ostjude, der den üblichen “Odol” = Zahnstocherbehälter als Aschenbecher benutzt und eben seinen Stummel auf die Zahnstocher gelegt hat – oh Europa, oh Sitten und Gebräuche.

Ich bin in Unruhe um meinen Überzieher, den ich im Coupé gelassen habe. (Was ist nun schlimmer? der Zigarettenstummel auf den Zahnstochern oder der vermutliche Mitteleuropäer, der meinen Mantel stehlen wird bzw. schon gestohlen hat?).

Vielleicht schreibe ich für Nobel auch die “Orthodoxie im Judentum”, d.i. der erste Hauptabschnitt der Broschüre Wesen des Jud. (die Kassler Vorträge voriges Weihnachten), die ich ja diesen Winter schreiben möchte.

Dein Franz.

[auf der Rückfahrt von Säckingen? Ende September 21?]

Liebes Gritli,  schon dicht vor Mühlheim und im Coupé ist es dunkel. Ich war so vergnügt, dass ich auch auf der Rürckreise nur an der Häuslichen Feier gebosselt habe. Du kriegst doch nochmal einen Ehrenbügerbrief von Jerusalem.

Ich mag dir aber heut Abend auch nichts schreiben, nichts als das doch immer wieder eine – dieser Sturm bricht ja immer wieder auf und -: Homer sagt: λύτογούνατακαίφιλονήτος.

Es ist nicht anders.

Dein Franz.

Oktober 1921

2.[1.?]10.21.

Liebes Gritli,  während der Doktor grad bei Mutter drin ist und “schmiert” wie alle Abende, sitze ich in meinem Zimmer; ich fahre ja heut Nacht noch. Es war nicht sehr schön mit Mutter. Von deiner Mutter war sie natürlich sehr entzückt und ich bin ihr auch sehr dankbar, dass sie sich zu dem Besuch freigemacht hat. Aber sie selber leidet jetzt unter der Vorstellung von der Zwecklosigkeit dieses ganzen Kur = Sommers, an dessen Ende sie schlimmer dran sei wie am Anfang; ich glaube das ja nicht; merke auch, wie es mit dem Laufen wieder vorangeht; sie stiefelt schon ganz lustig los und braucht gar keine Stütze. Nur eben das Alleinsein, davor graut ihr. Mir fiel ein, dass eigentlich Lotti wenn sie will, am Montag kommen könnte und bis Göttingen hier bleiben; ich werde es jedenfalls Eugen morgen vortragen; ich denke ja, ich sehe ihn; ich habe ihm meine genaue Ankunftszeit geschrieben und dass wir um 5 nachmittags von Hause weggingen.

Nun aber die Sensation: Hans hat mir auf die Nachricht, dass ich ihn Sonntag Morgen besuche, das Manuskript geschickt, das er eigentlich mir und Eugen hatte vorlesen wollen. Es ist der Anfang des Idealismusbuches, hat Dialogform (Freund und Feind des Idealismus). Das Stück handelt von Fichte und scheint die Hälfte davon, also dann 1/6 des Ganzen, das danach etwa 20 Bogen werden mag. Und das wird nun nicht mehr und nicht weniger als – das erste gute Buch, das einer von uns schreibt. Ein vollkommen möcht ich sagen materialgerechtes Buch, ganz Buch, gar nichts andres, nicht gesprochen, nicht in Stein gegraben, sondern eben einfach Buch. Alles mit der grössten Einfachheit und Treffendheit hingesetzt. Vollkommen schön im Styl. Überall das Genie dahinter spürbar, aber das Buch selbst nicht genial, sondern – was viel schwerer oder jedenfalls seltener ist – schön!

Nicht etwa leicht; es ist durchaus ein wissenschaftliches Buch; trotzdem so dass man es sicher auch mit Freude lesen kann ohne es zu verstehen. Mutter hat die ersten 30 Seiten gelesen und war ganz stark angetan, obwohl sies doch sicher nicht verstanden hat. Es ist eben die Reife von 10 Jahren alten Entwürfen; die letzte wirklich gefundene Form nach vielen vielen Versuchen. Das ist eine grosse Zeit, in der er jetzt ist. Wenn er noch 5 Jahre aushalten sollte an der Universität, würde er Professor.

Ich schriebe dir am liebsten Stellen daraus ab. Es sind nämlich zwar grossenteils lange Reden, fast Referate, aber dazwischen immer die blühendsten, geistreichsten kurzen Wechselworte. Hör nur dies:

Freund: … Wenn die Menschen zu schwach waren, die Ideen eines Fichte zu verwirklichen, wessen Schuld ist es?

Feind: Fichtes! Doch ich sehe, wir sind noch lange nicht so weit, uns zu verstehen. Lasst uns deshalb erst einmal…

Es ist eben eine Zeit der Früchte: Hansli, die Fermente[?], dies Buch. Wenn Eugen dies läse, würde er für mich noch die Kassler Vorträge dazu stellen, aber das das ist Unsinn. Wenn mir je nach der allzuleuchtenden (so empfand sie ja auch die Susman) Blüte des * noch Frucht reifen sollte, so wird es viel später sein.

Wie wenige “gute Bücher” giebt es überhaupt grade von den grossen Philosophen. Von Hegel keins, von Fichte keins, von Kant höchstens aus seiner vorkritischen Zeit (der Geisterseher z.B.), von Nietzsche, obwohl er im Ecce homo ein Kapitel überschreibt: “Warum ich so gute Bücher schreibe” eigentlich wohl auch keins.

Der Doktor kam eben nochmal zu mir; er ist wirklich ein ganz besonderer Mensch, ein richtiger Trost.

Dein Franz.

[Sonntag 2.X.21 ?]

Liebes Gritli,  also heute Morgen bei Hans; er war natürlich sehr froh über meine Begeisterung. Ich sah auch schon den Anfang der Fortsetzung, es bleibt natürlich auf der Höhe. Dabei wirklicher Witz, kein flauer wie im Büchlein, sondern ganz echter, sozusagen gründlicher[?].

An Kurtz werde ich nun also doch schreiben mit der Anonymität. Ich habe zwar etwas schlechtes Gewissen, nachdem auch Strauss selbst gegen die Anonymität mit Nein votiert hat (“Jaja, neinein”)

Ich finde aber: objektiv kanns nützen, nicht mir aber den Lesern. Mir nützt es nur die 2000 Mark. Ausserdem aber hindert mich das anonyme Büchlein nie, es mal viel besser zu schreiben. Es giebt ja zahllose Methoden, das selbe zu sagen.

Dass das letzte Kapitel ganz ernst ist, habe ich dir wohl nicht gesagt. Es ist so geschrieben, wie ich das Ganze geschrieben hätte, wenn ichs im Ernst geschrieben hätte. So ist es eigentlich ein Bouquet von 3 ganz verschiedenen Gewächsen.

Im übrigen – sogut wie Hesse den Demian anonym geschrieben

hat –

Die Flauheit des Anfangs wird beim ersten Lesen von niemandem gemerkt. Und mehr als einmal soll mans garnicht lesen.

Ich las heut Morgen ehe ich Ehrenbergs aufstörte, im Wartesaal Stücke aus Bismarck III über Wilhelm II. Es ist das Ungeheuerlichste an geschärfter Giftpfeil = Litteratur, das mir je vorgekommen ist, eine ganz dämonische Ruhe, die sich schliesslich, wie es recht ist, gegen den Rächer selber kehrt, kehren muss.

Liebe Seele – Dein

4.10.21

Liebes Gritli,  der Werktag hat gleich kräftig eingesetzt heut Abend: ich hatte eine Besprechung mit Rothschild und Frau Nassauer über meinen Finanzplan, bei dem Rothschild mir die kleinlichsten Schwierigkeiten machte; ich kann ihn von seiner vereinsmeiernden Behandlung der Dinge (unter der natürlich das Lehrhaus schwer leidet) nicht abbringen; er glaubt mir einfach kein Wort. Die Folge ist natürlich, dass ich mich lächelnd aus diesen Sachen zurückziehe und die Gesellschaft ihrer Pleite überlasse. Schade nur über die Gedanken, die ich darauf verwendet habe: es waren leider nicht wenig.

Ich sollte dir gar nicht davon schreiben; aber ich bin noch geladen davon; ich komme grad heim.

Es waren schöne Tage. Nobel hat über alle Begriffe herrlich gepredigt. “Gepredigt” ist eigentlich ein dummes Wort dafür.

Ich will dir nur schnell wegen Eugen schreiben. Es ist gut, dass er ausspannt. Ich hatte es ihm schon neulich an der Bergstrasse gesagt.  Er hat den Schrecken mit Frau Deist gebraucht, um es einzusehen. Das ist natürlich ein unsinniger Vergleich; aber er hat ja die gute Folge gehabt. Dass währenddem Sturmfels allein wurstelt, schadet nichts; er wird sich ein bischen totlaufen dabei; opponieren ist leichter als regieren. Red Eugen also nicht ab. Die Hauptsache ist, dass er erst wieder in Stand kommt. Diese Kombination von geistiger und administrativer Tätigkeit ist aufreibend; im kleinen habe ichs heute Abend an mir selbst gespürt.

Ich bin nach Mannheim zu 3 Vorträgen aufgefordert. Ich werde “die Rel. d. Vern. aus d. Qu. d. Jud.” vorschlagen. Sonst vielleicht Glauben und Wissen.

In der Königsteiner Strasse hat Lazarus aus dem “erhabenen Buch eines neueren Denkers, dessen Verfasser unter uns weilt” gepredigt. (Er “weilte” aber bei Nobel!)

Dein Franz.

5.10.21.

Liebes Gritli,  so ein Tag vergeht fast in Briefeschreiben. Die Nobelfestschrift macht schon jetzt tüchtig Arbeit. Bisher ists gelungen, die Bonzen in eine eigene Schrift abzulenken, die vielleicht – auch sehr hübsch wird, weil auch sie wissen, wer er ist. Überhaupt solls eine grosse Feier geben, mit Bankett, Aufführungen u.s.w.

Der Billetverkauf hat begonnen, genau wie immer. Ich gebe allmählich die Hoffnung auf, diese Trägheit zu durchbrechen.

Eugen – du brauchst gar nicht besorgt zu sein; es ist nur das Zuviel an vita activa bei doch nicht ausgeschalteter vita contemplativa. Nicht sein Herz, sondern trotzt allem nur die Hände seines Herzens sind müde geworden. Selbst wenn er selber es so empfände, als wäre es sein Herz selbst, – das wäre ein Irrtum. Also einfach mal heraus; damit er, wenn er zurückkommt, die Kraft die er sich angeschlafen hat, nicht gleich wieder hineinbuttert, sondern sie dazu verwendet, sich innerlich und äusserlich anders einzurichten, den Lehrern und Schülern und Ausschützen[?] gegenüber. Das ist dann deine Sache, da einzuwirken. Ich tue es auch. Er muss sich zwingen, einen Teil seiner täglichen Beziehungen rein routiniert, ohne Kraftaufwand, “abzuwickeln”. Dieses Sichzwingen selber erfordert Kraft und die (keine andre) soll er sich jetzt holen.

Sehr freue ich mich über Hedi, dass sie nun endlich gefunden hat. Man konnte ja schon etwas bange um sie sein. Die Verrücktheit mit dem “Nichtverloben” ist ein kleiner Schönheitsfehler, nicht mehr. Der dumme Junge wird schon zugreifen; es braucht nur erst mal ein andrer am Horizont zu erscheinen.

Ich war übrigens erstaunt, dass es so schlimm neulich für deine Mutter war. Meine war sehr zufrieden, nur zu kurz. So ists freilich viel wahrscheinlicher. Hennar Hallo – ja das ist ein widerspruchsvolles Kapitel. Im ganzen glaube ich doch an das Aufwärts bei Mutter.

Ilse bleibt zu unsrer Freude noch über den Versöhnungstag. Von Nobel bin ich immer noch ganz betrunken.

Dein Franz.

6.10.21.

Liebes Gritli,

in “zweiter Lesung” bin ich eben mit meinem ganzen Plan fast unverändert durchgedrungen! Es waren in der Sitzung alle andern dafür, so dass Rothschild nachgab. Überhaupt war es ganz nett.

Dann habe ich den übersetzten Hymnus fast fertig; nur eine Strophe fehtl.

Morgen muss ich nun, das habe ich von meinem Eifer – den Tag wieder beim Drucker zubringen. Überhaupt die Zeit –

Das “Büchlein” ist an Kurtz abgegangen; er schreibt bedauernd über die Pseudonymität, möchte es aber gern sehen.

Ich bin müde. Gute Nacht

Dein Franz

[7.10.21.]

Liebes Gritli,  ich sitze also schon wieder beim Drucker und laufe in Frankfurt herum, damit die Einladungen man möchte

Förderer des Freien Jüdischen Lehrhauses 

werden, herauskommen. Dich werde ich auf jeden Fall dazu machen; es ist das Rentabelste in deinem Fall, da du ja ausser der Bibelstunde immer noch irgend eine andre hören wirst mindestens. Ausserdem wirst du damit automatisch auch gleich – Mitglied der Gesellschaft für jüdische Volksbildung. Und das wenigstens hättest du dir vor 4 Jahren, als du den heiligen Franz auf mich aufmerksam machtest, nicht träumen lassen. Ich weiss jene Zeit auch noch wohl. Dies Jahr hatte ich vorher an den 4.X. gedacht, am Tag selber hatte ich ihn aber ganz vergessen, er war da durch den 2.Tischri zugedeckt. Obwohl du wohl auch vom Standpunkt des heil. Franziskus mit der Predigt, mit der Nobel unsre Jahrestage feierte, hättest zufrieden sein können. Dass ich dir davon keinen Widerschein mitgeben kann. Er sprach dabei zu Anfang grade das aus, worunter ich die Tage litt, und ja nicht bloss die Tage, aber diesmal so besonders stark,;ich hatte mir so besonders stark eingebildet, diesmal würden unsre Hoffnungen erfüllt, ich weiss nicht warum, und nun war es wieder nichts. Und Nobel fing an vom erfolglosen Gebet. Ich merke eben: es war am ersten Tag. Er holte es aus 1 Sam.,1 heraus. Am zweiten sprach er von der Ewigkeit und etymologisierte das Wort mit dem Wort für Jungfrau ( das in der berühmten Jesajas = Profezeiung steht) zusammen: Ewigkeit die ewige Verjüngung. Der Schluss war ein Gebet (oder schon kein Gebet mehr sondern eine Beschwörung), um neue Profeten. “Wenn ihr wollt” sagte er, und es klang nicht nach “Willen”, dies “Wenn ihr wollt”.

Nachher war er wie ein Aschenhaufen, und so ist er noch heute, – ganz heiss innen, wenn man hineinstochert, aber von der Flamme, die aus ihm heraus es gewagt hatte bis an den Himmel zu schlagen, keine Spur mehr!

Morgen spricht er, und vielleicht über – das Sabbatlied, das ich nun fertig übersetzt habe, ihm zu Ehren.

Dein Franz.

8.10.21.

Liebes Gritli,

es war ein hübscher Tag. Gestern Abend war der hübsche jüngere Seligmann und seine Schwester da. Er hat den * wirklich aufgenommen, (er ist ein ziemlich stark philosophisch geschulter junger Arzt) und etwa auf Seite 60 kam ihm das Verständnis. Er bedauert, dass es nicht mit dem zweiten Teil schliesst! das hat mir noch niemand gesagt, das ist doch fein!

Heut früh eine mehr normale Nobelsche Predigt, worin er wirklich über den Sabbathymnus gepredigt hat, den ich grade gestern so ziemlich fertig hatte; seine Übersetzungen brachten mich aber nun fast zum Lachen; er wird sich sicher freuen. Eduard, der heut Nachmittag lange hier war (und seinen sehr guten – für seine Schreibverhältnisse sehr guten – Beitrag zur Festschrift, den Anfang seines Buches) brachte, war ganz begeistert davon und von dem Sabbatweihespruch, den du schon kennst und der jetzt den letzten Schliff hat, so dass glaube ich nichts mehr dran zu machen ist, während ich den J. Halevi noch etwas in die Mache nehmen muss, aber nicht mehr viel.

Rothschild war heut Morgen nach der Synagoge bei Nobel und war sehr eklig protzenhaft. Heut Abend kommt Ernst, dann arbeiten wir an der Festschrift.

Von Hans Mosbacher kam die Kritik, die im Referatteil schlecht ist, in der Einleitung den Eindruck der Leute wieder giebt und im Nachsatz meinen Eindruck. (Gut ist vom Referatteil grade der Schluss, der ihm nicht recht war.)

Ich lege es bei, aber schicks bitte gleich zurück.

Ernst kommt. Also –

Dein Franz.

9.[?].10.21.

Liebes Gritli,

wir waren nachmittags im Taunus, bei diesem ganz warmen Wetter und dabei das Laub so herbstlich, es war sehr schön. Um 1/2 6 landeten wir bei Blaus, trafen da Driesens, die Frau ist Französin, fein, unfrankfurterisch (natürlich). Driesen war wieder, wie er ist. Er fand tolle Gleichnisse für seine Pläne, verglich sich mit Ignatius von Loyola!, woran etwas ist. Dabei ist er ein Sammelsurium, aber das sind wir ja schliesslich alle, und es vertrüge wohl keiner von uns, dass man sein inneres Inventar aufstellte, da wären die merkwürdigsten Sachen friedlich beieinander.

Den Juda halevischen Hymnus habe ich nun abgeschrieben und wohl endlich fertig, eine Strophe habe ich noch beim Abschreiben ganz umgeschmolzen. Er ist schön geworden.

Von Eugen hatte ich eine Karte. Die Hauptsache bleibt doch, dass er den Urlaub hat; dass die Karte selber sehr beruhigt klang, ist schön, hilft aber nichts. Er muss einen Kraftvorrat hierher mitbringen.

Driesen hatte seinen Aufsatz in der Volkszeitung sehr gut gefunden.

Driesen ist nur 10 Jahre älter als wir.

Ich bin müde.

Dein Franz.

10.X.21.

Liebes Gritli,  es ist 1/2 1, Ernst Simon ist hier und bleibt zur Nacht, ich habe mit ihm seinen Nobelfestschriftbeitrag “Platon und die Tragödie” umgearbeitei; er ist nun wunderschön geworden, aber es war ein schweres Stück Arbeit. Er ist aber in diesen Monaten irgendwie vorwärtsgekommen, etwas aus den Eierschalen heraus, spricht fast unsre Sprache.

Die Anna war endlich heut bei uns! Sie hat 1 1/2 Stunden hierher gebraucht, weil sie sich verlief, hat schliesslich auf der Strasse geweint. Die Käte unterrichtet sie scheints ganz gern.

Dann war Kracauer Nachmittags da, und hat mir doch recht gut gefallen. Auf der Treppe nachher in Rembrandscher Beleuchtung sah er sogar –schön aus.

Dann war Frau Flake mit Ate da. Ate kommt also Freitag zu uns.

Aber ich muss schlafen gehn.

Gute gute Nacht.

Dein Franz

11.10.21.

Liebes Gritli,  ich schreibe den ganzen Tag Briefe. Gestern Abned war also Ernst Simon da. Er hat plötzlich den richtigen Sinn bekommen. Wir haben zusammen seinen Beitrag für die Nobelschrift in Form gebracht. Nun ist es wirklich hübsch geworden.

Anna ist wieder bei uns gewesen. Entweder langweilt sie sich sehr oder sie will wirklich was lernen.

Wie Kracauer gestern da war, wurde mir plötzlich hellseherisch deutlich, dass auch hier der Lump, der Michel, seine kleinen Intrigantenpfoten im Spiel hat. Was sind das für Menschen! Kracauer ist aber eine ehrliche Haut und die Journalisterei unverhältnismässig wenig verdorben. Ausserden war der hässliche Mensch so rührend selig, wie die kleine Ate ihm von selbst die Hand gab. Ate war kostbar mit ihrer 4 jährigen Erwachsenheit. Von unsrer Wohnung sprach sie ganz selbstverständlich per “Turm”!

Heut ist ein ungeregelter Tag: 1/2 12 Mittag, 1/2 5 Abendessen.

Hier erzählen mir die Leute von meinem eigenartigen Entwicklungsgang, auf Grund der Darstellung – meiner Mutter! Was die der Frau Geiger erzählt hat (du weisst, wie sie diese Dinge erzählt), das geht nun als authentischer Bericht von Frau Geiger aus weiter. Mir muss es aber recht sein, wenn überhaupt von mir gesprochen wird. Ich fürchte sehr, meine Vorlesung bleibt diesmal ganz leer. Und vor 10 oder 20 Menschen möchte ich sie nicht halten. Die Sensation vom vorigen November ist erschöpft und man weiss nun, dass ich weder “schön” noch angenehme Dinge rede. Und bei der Wissenschaft von Gott denken vielleicht grade die besseren, es gäbe so eine Art von jüdischem Religionsunterricht. Ich habe etwas Angst vor dem Anfang.

Dein Franz.

12.10.21.

Liebes Gritli,

nur rasch ein Gruss nach dem schönen Tag heut.

Abends fand ich eine unglaublich taktlose Karte von Rudi vor, die er von Lotti hatte unterzeichnen lassen!! Bezeichnend leider für beide, die vollkommene Verroztheit in menschlichen Dingen für Rudi, die Abhängigkeit für Lotti (die das sicher allein nicht gemacht hätte, schon aus Erziehung). Ich hatte auf Mutters Wunsch eine gleichzeitige Anwesenheit von Lotti und Ehrenbergs zu verhindern gesucht (zugleich auch in Lottis eignem Interesse, der dadurch die Zeit für ihren Göttinger Aufenthalt verlängert würde, wenn sies schon dort erfuhr), und hatte die selbstverständlichen Höflichkeitsformen angewendet (“Sehr geehrtes Fräulein Hüssy” und “Ihr ganz ergebener” glaube ich), die sich sowohl aus der Schriftlichkeit wie aus meinem mündlichen Gebrauch ergaben; ich habe sie auch mündlich, wenn ich Sie direkt anrede, immer “Fräulein Hüssy” angeredet, intimere Wendungen wären mir, da ich kaum 100 Worte in diesen ganzen Wochen mit ihr gewechselt habe, ganz unnatürlich gewesen, und ihr (die unsre Einladung uns zu besuchen, so oft sie wolle, einfach unbenutzt gelassen hatte) sicher genau so. Dies der Boden, auf dem Rudi sie vor den beiliegenden “Witz” vorspannt. Was sie für ihn ist, ändert doch nichts daran, dass sie für mich Dame ist. Aber es gehört auf dieselbe Linie wie sein Hahnenkrähen in dem Brief an Tante Dele.

Verzeih, dass ich dir so ausführlich damit komme. Aber du sollst die Tatsachen kennen, ehe sie in entstellter Form an dich gelangen. Rudi antworte ich natürlich mit keinem Wort, und Lotti gegenüber habe ich die Sache, die ihr selber, wenn sie zu Bewusstsein kommen wird, mal peinlich genug sein wird, einfach zu vergessen; wir haben alle mal Ungehörigkeiten begangen, in dem Zustand, in dem sie jetzt ist. Ich musste lebhaft an gewisse Primaneraffereien von mir denken, über die ich mich später noch Monatelang geschämt habe, mehr als die Sachen wert waren.

Dein Franz.

14.10.21.

Liebes Gritli,

Ilse und Erna Jäckh sind fort und Ate ist da. Sie füllt die Wohnung mit ihrer Existenz und ist ebenso klug als komisch. Mein Samtkäppchen hat sie sehr bewundert. Dagegen als ihr Edith mitteilte, dass der Onkel noch nach Tisch ein Liedchen singt (wir wollen sie doch nicht gegen den Willen ihrer Mutter theologisch infizieren), war sie nicht sehr einverstanden; als ich aber anfing, sagte sie plötzlich zu Edith: wohl ein Kirchenlied? Ich konnte vor unterdrücktem Lachen fast nicht mehr weiter.

Der Käte macht das Unterrichten Spass, obwohl sie für die “Katholen” nicht viel übrig hat (wenn sie krank sind, dann kommt die barmherzige Schwester und die betet so lange bis man stirbt) (“Juden gibts bei uns in Bebra auch, aber die sind gar nicht anders als wir, sie können sich sogar taufen lassen”). Übrigens ist Käte auch mit Ate sehr nett.

Das Theater gestern war herrlich, nachdem man erst mal über die ersten Szenen weg war. Dass das 1836 nicht verstanden werden konnte, ist ja klar. Hab ichs nicht im Krieg auf deine Veranlassung uns gelesen, es kommt mir so vor.

Und am Morgen war ich mit Erna bei Athene, dieser einzigen schönen Frankfurterin (und das ist natürlich auch keine “hiesiche”).

(Edith fragt eben, beim Kaffee: Gehst du nachher in die Synagoge? Darauf Ate: “ich war auch schon mal in einer.” – ?? – “Ja, ohne Kirchenturm”)

Mittag und Nachmittag waren wir zuhause und haben geschwätzt; es war nett, Erna viel gelöster als zuhause.

Es ist ein Durcheinander, ich kann nicht recht schreiben.

Dein Franz.

15.X.21.

Liebes Gritli,  Ate ist herrlich. Also gestern war ich mit ihr beim Frisör, um sie etwas an die Luft zu führen; sie war gleich sehr lebhaft mit den Frisören; schliesslich fragt sie einer: wie sie hiesse. “Das sag ich dir nicht.” Draussen frage ich sie, warum. “Mein Name ist doch viel zu schön!” Hinter netten Männern ist sie doll her. Ernst Simon hat sie aufgefordert, doch bei ihr zu schlafen. Mit den Füssen streichelt sie wie wenn es Hände wären. – Wir hatten viel Besuch zu und nach Tisch. (Gestern Abend nur Kracauer.) Ernst Simon blieb zu Abend und wir haben wieder an der Festschrift gezimmert. Edith blieb heut Morgen zu haus; ich war mit Nobels spazieren.

Mutter? es ist mir nicht recht klar. Ich bin ja Freitag bis Samstag Abend bei ihr; da werde ich sehen. Und vorher wirst du von Lotti über sie hören. Mit Else war die Freundschaft gross.

Strecke ich denn nicht mehr die Zunge heraus? Es hats freilich, auch früher glaube ich ausser Hedi niemand gesehen.

Kracauer ist ein halbgarer Mensch. Es war ein anstrengender Abend mit ihm, sehr philosophisch. Für wen eigentlich? Die Unnützheit meines Tuns hier wird mir immer deutlicher. Es ist schade um jedes Wort, das man nicht – schreibt. Geschriebnes kann warten, bis jemand kommt und es aufnimmt. So verexplodiere ich mich vor ein paar dicken Weibern, denen mit Surrogat besser gedient wäre. Es sind noch nicht viel über 50 Anmeldungen (=25 Menschen) im Vorverkauf gewesen. Nun kommen noch 2 Vorverkaufstage. Danach kann ich mir ausrechnen, wie gross die Pleite sein wird. Schliesslich ists weiter nichts als ein Eigensinn. Die, denen ich dienen will, denen ist mit mir gar nicht gedient. In 100 Jahren machen sie grossen Klimbim um mich. Heut, wo sie mich haben könnten, scheren sie sich den Teufel darum.

Dein Franz.

16.10.21.

Liebes Gritli,  es ist kurz vor dem Fest (morgen und übermorgen), ich war eben bei der Schopenhauergesellschaft und habe einen Vortrag mitangehört, der ganz lustig war. Onkel Wurzmann, von dem ich die Einladungskarte hatte, präsidierte. Es waren komische Typen da, kein Frankfurt, mehr – na, Fellnerstrasse 3. Erschrick übrigens nicht, wenn du nächstens deine “Fördererkarte” kriegst, ich habe dich zu beiden Sträussen und zu meiner Vorlesung angemeldet.

Bei dem Lessing, so hiess der Vortragende, wurde mir übrigens wieder klar, dass ich es viel besser kann.

Ate ist kostbar. Aber es ist zu viel zu erzählen. Ich hole nach. Freilich ists eine grosse Anstrengung für Edith. Heut Morgen trat sie schon um 1/2 7 an und da war es zwar sehr lustig, aber natürlich kein Schlafen mehr. Zuletzt hat sie mich – rasiert; genau wie sies vorgestern beim Frisör beobachtet hatte, mit allen Chikanen, Messerabziehen und allem.

Ist eigentlich Eugen in Kassel? ich denke.

Hete Caspary (die voriges Jahr im Sommer in Kassel bei uns war) ist über das Fest bei uns zu Besuch. (Es ist für Edith jetzt eine Erleichterung, keine Erschwerung; denn so ist ihr Ate etwas abgenommen). Edith ist übrigens so reizend mit Ate, dass es mir doppelt schwer aus Herz fällt, dass wir allein sind.

Kommst du wirklich zum 25ten? Förderin!

Dein Franz.

18.10.21.

Liebes Gritli,  der unvorstellbare Festtag, wenigstens die beiden ersten Tage, ist herum. Wir wollen gleich noch in die Loge, so nur ein paar Worte.

Wir haben wieder einen Gast, einen sehr netten, das schrieb ich wohl schon: Hete Caspary.

Lotti war gestern Mittag bei uns. Von der Karte habe ich keinen Schimmer mehr, die Überschrift war mir also nicht aufgefallen. Sonst hätte ich natürlich “Liebes Fräulein Lotti” geschrieben aber die “ganz ergebene” Unterschrift wäre ihr auch so nicht erspart geblieben – so bin ich nun einmal. Übrigens aber danken wir beide also dem lieben Lotti sehr für die schönen Blumen, die wir erst nachher entdeckten; bitte richt ihr das aus, wenn sie kommt.

Eine wunderschöne (so weit ich in der Eile sah), Besprechung des *, wohl von dem jüngeren Seligmann, der neulich bei uns war, hat in der Zeitschrift seines Vaters gestanden. Überhaupt kriege ich jetzt durchschnittlich 14 tägig einen Essay über “Rosenzweig”  vorgesetzt, teils *, teils Hegel.

Morgen schreib ich dir mehr. Dies soll nur fort.

Dein Franz

20.[?]10.21.

Liebes Gritli,

schreibst du nicht an jüdischen Feiertagen? Aber für euch gilt ja das Gesetz nicht.

Ich bin auf der Reise nach Heidelberg = Mannheim. Auf den Vortrag freue ich mich etwas. Wenn es über 100 Menschen sind, wird er gut. In der Wiss. v. Gott hatten sich in den 4 ersten Vorverkaufstagen nur 7 Leute gemeldet (du warst noch nicht dabei). Trotzdem hoffe ich auf 30, und das würde, wenns die Richtigen wären, genügen (aber, ich fürchte, Frau Nobel ist dabei!) Zu Salzberger waren schon 50 Voranmeldungen da. Die Arb.gemeinschaft kommt vielleicht überhaupt nicht zu stande. Dann meldest du dich, wählst ein Thema, und ich komme jede Woche eine Stunde zu dir!

Die Reinschrift der Häuslichen Feier ist auch bald fertig. Ich begegne dabei dem Problem der jüdisch revidierten Lutherbibel. (Das ist nämlich die einzige Möglichkeit einer “jüdischen Bibelübersetzung” ins Hochdeutsche. Nur ins Ostjüdische lässt sich neu übersetzen. Das weiss aber noch kein Mensch. Überhaupt, wie stehe ich noch im Winkel! Und bin dabei schon seit 1918 “entdeckt”. “Do helpt nun nüx!”

Gestern bekamen wir Befehl, die Wohnung innerhalb 8 Tagen zu räumen, sonst Zwangsräumung. Der Rechtsanwalt hat aber, als ich verzweifelt ankam, nur gelacht. Darauf konnte ich am Abend ganz lustig den Vortrag vorbereiten. 800 M für 2×3/4 Stunden, ausser der Reise, ist doch kein Pappenstiel.

Freitag und Sonnabend bin ich in Badenweiler. Ate geht morgen.

Unter den Angemeldeten zur Bibelstunde ist – Lisel Wurzmann.

Dein Franz.

[ca 22.X.21]

Liebes Gritli,  ich werde dir Sonntag vormittag von Frankfurt aus telegrafieren: “Komm baldmöglichst her. Anna bedarf dringend Aufsicht. Edith.” Ich schreibe es dir im voraus, damit du eventuell schon mit dahingehenden Sorgen vorstimmst. Mutter lässt dir sagen, sie käme nachmittags um 359. Es wäre sehr schade, wenn du grade Straussens erste Stunde versäumtest, sie wird sicher sehr merkwürdig. – Mit dem Abholen wirds nicht ganz leicht sein (ich weiss zwar nicht genau wann der Zug kommt), wir haben doch wieder Feiertag. Edith wird aber wohl können. Sonst im schlimmsten Fall alarmieren wir Wurzmanns. Er hat neulich Schopenhauer in der Frkft. Ztg. so für seine Menschenfreundlichkeit gelobt, dass man es wagen kann.

Mutter leugnet Stein und Bein ab, dass sie der Pichtschen Verwandten überhaupt etwas dahingehendes erzählt habe, und ich muss übrigens grade nach dem Brief sagen, dass ich mich nun auch mit ihm wirklich keine Spur mehr “ineiner Sekte” fühle. Es liegt wirklich ein Abgrund zwischen mir und dem womit man sich ihm “beweist”. Aber von diesem Persönlichen und Grundsätzlichen abgesehen – wie wenig weiss dieser Mensch doch von Eugen! Nach 3 Jahren scheinbaren Verstehens plötzlich ein Vorwurf, so schematisch (“semitischer Intellektueller”), so ahnungslos über Eugens Wesen und nun viel gefährlicher, als er vordem gewesen wäre, denn nun glaubt Eugen, ihn ihm glauben zu müssen, und – erlebt Beweise. Es ist schon weit mit uns allen gekommen; wir warten nicht auf die Parodien des andern, wir parodieren unser Leben schleunigst selbst. Muss das nun wohl sein? Ich glaube ja, es muss.

Helene, um dir das noch zu erzählen, hat ihr Herz, mangels andrer Aussprache, in einem grossen Brief an – Mutter ausgeschüttet. Sie wird dir ja davon erzählen, wenn du ein bischen anklopfst. Übrigens meint Mutter, Lotti empfände für Rudi “überhaupt nichts”, sie moquiere sich über ihn und sei hauptsächlich mit Helene zusammengewesen; ich habe sie ruhig dabei gelassen, lass sie auch dabei. Sie hat aus Helenes Brief nur Rudis Engagiertheit entnommen. Die Hülflosigkeit, zu der sich Helene selbst voriges Jahr (und damit uns alle) verdammt hat, führt sie jetzt zu diesem wahnsinnigen Schritt (Mutter selbst fiel es auf: sie habe noch nie zu ihr von diesen Dingen gesprochen), Hülfe zu suchen bei irgend jemand. Wer den Glauben verwirft, wird nicht “frei”, wie er möchte, sondern verfällt dem Aberglauben. So geht es ihr.

Wir sollten jetzt alle unsre ganze Lebensenergie darauf verwenden, nicht künstlich  dem Verhängnis, das uns uns jeden Tag weiterauseinanderleben lässt, rettungslos, entgegenzubocken, sondern das neue Leben, das jedem von uns als Einzelnem gelassen oder geschenkt ist (dies neue Leben, das freilich vom Lebensmittag nur gesehen Tod, aber für sich doch Leben, abendliches Leben ist – “am Abend schätzt man erst das Haus”) zu pflegen, nichts weiter. Wäre das nur leichter. Und fielen wir nicht alle wieder immer wieder ins künstliche Jungseinwollen zurück. Das Leben selber stellt eigentlich alle “Lebensaufgaben”, man braucht gar keine von aussen zu suchen; Altwerden, Altsein, Aufwachen, Erwachsen, – das sind alles richtige und die einzigen richtigen Lebensaufgaben, die es giebt. Aber ich verfalle in die Vorlesung, die ich nach Weihnachten halten werde, die Wiss. vom Menschen.

Die in Mannheim war gut, aber bloss vor 30-40 Leuten. Dafür aber 1000 M Honorar und – ein wunderschöner Brief von Else, die ich neulich mitgeschleppt hatte.

Hier mit Mutter wars nicht sehr schön. Dies Sprechen von sich selbst ist so furchtbar. Aber morgen bei dir wird sie abgelenkt sein durch Hansli. Mit deiner Mutter und auch mit Lotti glaubt sie gegenseitig sehr gut zusammen gewesen zu sein.

Der Zug kommt.

Dein Franz

Dezember 1921

16.12..21.

Liebes – die Möbel sind da. Um 8 kommt der Wagen! Ich kann jetzt nicht mehr schreiben.

Das Plakat wird herrlich, ich war ganz hingerissen.

Morgen schlafen wir in der Schumannstrasse Nr 10 !

Dein Franz.

17.12.21.

Liebes Gritli,  also der erste Abend in der neuen Wohnung oder ja in der ersten Wohnung! Und grad heut musste der Tischdank ankommen! (Einiges ist übrigens nun doch auch im Reindruck noch prudelig[?] und schief geblieben, trotz höher und heiliger Versicherungen des Verlegers).

Es wird alles sehr schön. Trotz allerlei Übereilung (sonst könnte manches noch schöner werden können [sic]; so ist nur mein Zimmer wirklich schön. Es waren so Odysseus auf Ithaka Gefühle heut, ich war manchmal ganz dumm und hatte vergessen, worum es sich handelte. Ganz hats mir wirklich erst der Tischdank wieder ins Gedächtnis gerufen.

Ich erlebe doch jetzt immer so kleine komische Providentialitäten, – so neulich das mit Ruth Nobels Bercher[?]decke, so heut dieses.

Dein Franz.

23.12.21.

Liebes Gritli,

wir fanden Mutter sehr schlecht aussehend, obwohl momentan ganz verjüngt. Sie ist ganz dünn, wiegt 122 Pf.!! und hat ein 70 jähriges Gesicht. Ich meine allerdings, da sie jetzt die Grenze erreicht hat, die ihr der Heinecke[?] dummerweise damals gesagt hat, so wird sie jetzt wohl wieder zu futtern anfangen. Wir fanden den “Amerikaner” da, einen braven Jungen, der in Berlin auf die Dirigentenschule geht und schön Klavier spielt. Einen wirklich grossen russischen Komponisten Rachmanikoff habe ich dabei kennen gelernt.

Den Ebner habe ich nachts angefangen. Es scheint nur * II,2 zu sein; noch nicht mal II 3, gar nicht II 1. Aber endlich ein Buch, das ich Koch schenken kann und vielleicht auch Nobel, um sie so, von hinten gleichsam, mit der Wahrheit zu überrumpeln, die sie ja von vorn von mir nicht annehmen würden. Die dritte Person (“da steht es“) ist eben doch unentbehrlich, weil die erste (“ich sage dir“) eben nur in Momenten und auch da nur momentan geglaubt wird.

Ich denke noch viel über mein Vorlesungsdebakel nach. Vielleicht werde ich schon im Sommer bei Epstein anfangen und zwar: “Die Jugendentwicklung grosser Männer” (Schiller, Goethe, Hegel, Friedrich d. Gr., Bismarck oder andre, die ich grade kenne), also auf das Pädagogische Biographologische und Jugendbeweglerische hin.

Ich habe auf der Fahrt das letzte Gedicht noch recht hübsch überarbeitet und ein neues Stück, etwas aus dem Abendgebet, das ich schon lange umstrichen hatte, sehr glücklich übersetzt. Vielleicht lege ichs noch bei.

Feiert schön und “seid gesund”.

Euer Dreie

Franz.

Hier ist herrliches Wetter!

[24.XII.21.]

Liebes Gritli,

der Amerikaner hat mir immer besser gefallen, er wird im März zu uns kommen. Er hat noch herrlich gespielt, ist dabei sehr verständig, bescheiden und tüchtig. Er fühlt sich deutsch, ist aber schon sehr amerikanisiert. Heut früh ist er fort.

Eine schöne Geschichte von ihm: Shaw nach einer Premiere vor den Vorhang gerufen; alles klatscht, einer zischt. Shaw winkt Schweigen und sagt: Dem Herrn scheint mein Stück nicht zu gefallen. Mir auch nicht. Aber was können wir zwei machen!

Mutter ist doch besser, gar nicht so nur mit sich beschäftigt.

Ich war wieder fleissig. Der Anfang des Abendgebets, im Styl und wohl auch in der Zeit noch den Psalmen nahstehend, und den ghaselmhaftenhaften Hymnus über die Glaubensregel, in stengem Rhythmus, mit zahllosen Zäsuren, so (durch 13 Zeilen durch alle auf “eit”, dazu noch ein paar Binnenreime):

— u— u— // — u— u—

Dann habe ich viel Ebner gelesen. Viel Schönes, aber doch etwas ungebildet, wirr, nicht sehr gründlich, wirklich “Fragmente”, also mit dem * doch nicht zu vergleichen, auch abgesehn von der engeren Fassung des Stoffs. Nur eben viele einzelne Stellen, die gut im * stehen könnten – und meistens auch wirklich drin stehen.

Es ist eine aufregende Lektüre für mich, zu denken dass der gleichzeitig daran gesessen hat. Es ist ein intuitives, aber kein “erfahrenes” Buch (ich meine aktiv, nicht passiv erfahren). Grade diese Reife der Vielerfahrenheit ist doch ein Vorzug des *. Er ist sicher etwa 5 Jahre mindestens jünger als ich und hat nicht den Dusel meiner langen Lehrzeit hinter sich gehabt.

Morgen also 35! in dem Alter sind Rafael und Mozart schon gestorben! Ich wollte gern alle meine noch zukünftigen Geisteskinder geben für ein leibliches. Das ist freilich kein grosser Einsatz, und deshalb wohl nicht das rechte Gelübde. In Wahrheit lautet es wohl anders, und da kann ichs nicht geloben.

Dein Franz.

[25.XII.21.]

Liebes Gritli,

das war nun ein Geburtstag ganz ohne ein Wort von dir oder von Eugen. Vielleicht liegt ihr beide?

Sonst war es aber hübsch. Ich habe schöne Sachen gekriegt, Kuchen, Zigarren, den Wang = lun, Salins'[?] griechische Kunst, den Hirschschen Pentateuch, 3 lateinische Bände Spinoza, La Bruyère Caractères, eine Vergrösserung von Onkel Adams Bild, die neue kurhessische Geschichte.

Auch wieder ein neues Gedicht.

Ich kriege vielleicht Grippe, ein bischen erhöhte Temperatur und Husten habe ich schon. Wenns morgen schlimmer ist, fahre ich nicht nach Dortmund.

Den Ebner lese ich mit bleibender Spannung weiter. Die Ähnlichkeit mit dem * geht auch dahin, wie er seine schönen Sachen sagt: immer etwas verdutzend, grade da wo man sich fürchtet, jetzt würde es arg abstrakt.

Edith ist auch erkältet.

Wer ist wohl der Meisinger[?] von der das antibibelkritische Weihnachts = Feuilleton in der Frkft. Ztg. war?

Schreib mir ein Wort, wie es euch geht.

Dein Franz.

26.XII.21.

Liebes Gritli,

heut habe ich nicht gedichtet, Edith hatte es verboten. Sie hatte wahrscheinlich recht, dass mir das Letzte gestern Abend, (nicht das vom Vormittag) überkünstelt war. Morgen reise ich also (Rabbiner Dr.Jacob, Dortmund, Arndtstrasse 73).

Nachmittags war ich bei Tante Julie; sie war ganz wunderbar. Sie sagte selbst, dass sie Tante Emmy gegenüber sich zusammennehme und nicht weine. Es lässt sich ja nicht wiedergeben, was sie sagt, obwohl es durchaus nicht bloss das Wie ist, sondern auch das Was.

Der Ebner ist doch auch erfahrener, als ich anfangs dachte. Z.B. in Sachen Wahnsinn. Die Doubletten zum * finden sich alle paar Zeilen. Er hat doch nun nicht von Eugen gestohlen. Woher hat ers?

Rudi hat sich greulich bei Tante Dele über schlechte Behandlung beklagt, als sie von Frankfurt kam sie gleich gefragt: ihn habe man ihr dort wohl als schwarzes Untier geschildert? Er war übrigens scheints wieder von zartester Diskretion zu ihr: jedenfalls wusste sie über sein innereheliches “Problem” vom August genau Bescheid! Dabei hatte sie komischerweise ganz parallele Gefühle in seiner Gegenwart diesmal wie du im Sommer. Ich werde ihn ja diesmal nicht sehen.

Dein Franz.

[28.XII.21.]

Liebes Gritli,

noch vor der Abreise kam dein Brief. An die Gefahr für Frau Michel hatte ich gar nicht gedacht. Hoffentlich geht alles gut.

Hier ist schlechtes Wetter aber ein nettes Haus, eine reizende Frau und nette Kinder und er der komischste Kindskopp alte Junggeselle und doch Ehemann, den man sich denken kann. Ich sehe ihn nun freilich auch in oll [sic] his glory. Denn es ist etwas entdeckt und entziffert, das (wenns keinen Haken hat) die grösste archäologische Entdeckung ist, die je gemacht ist, eine gradezu schauderhafte Entdeckung. Wir fahren heut Nachmittag zu dem Entdecker, einem Professor in Münster. Jacob ist ganz aus dem Häuschen und findet “alles Quark” was ich von ihm will, wird es aber doch machen, denn aus den Flugzeug = Ausgrabungsreisen von denen er dauernd spricht, wird ja nichts werden. Und die Sachen, die ich von ihm nun gesehen habe, sind wieder glänzend, und nachdem ich nun gemerkt habe was für ein dummer Junge in diesem alten Schulmeister steckt, verstehe ich auch, wie es überhaupt möglich ist, dass grade er so schöne Sachen schreibt.

Ich will mich noch etwas ausruhen. Jacob muss grade einen beerdigen.

Dein Franz.

[29.? XII.21.]

Liebes Gritli,

die grösste Entdeckung aller Zeiten war die Fata morgana eines deutschen Professorengehirns. Es ist auch gut so. Aber es war ein sehr merkwürdiger Besuch. Überhaupt nette Tage.

Wie mag es inzwischen bei euch gehen.

Ich lese weiter Ebner. Er ist der christlichste Christ der mir je vorgekommen ist. Er weiss weder, dass Gott die Welt geschaffen hat noch dass er sie erlösen wird. Aber von der Offenbarung weiss er. Und nur von ihr. In seiner Sprachlehre kommt die 1. plur. überhaupt nicht vor! Dagegen die herrlichsten Sachen über die 1. und 2. sing.

An dem Jacob sah ich wieder, dass wirklich schon alles in der Bibel steht; man muss sie nur lesen können und dabei die nötige Portion Erdenrest haben. Die hat er. Die moralische Frage der heimlichen Wegführung der Fundstücke nach Deuschland im Flugzeug (an die er allen Ernstes dachte, ehe wir gestern sahen, dass das Ganze ein Phantasieprodukt ist) erledigte er mit einem “Stehlen darf man!” Da kann man wohl die Bibel kommentieren. Zunächst will er freilich leider nur ein Andachtsbüchlein schreiben; der erste Aufsatz den er mir vorlas, ist ganz prachtvoll.

Ich sitze schon 5 Stunden in Schwerte; es ist Streik.

Dein Franz.

30.XII.21.

Liebes Gritli,

ich bin erst heut um 11 über Hannover zurückgekommen. Man ist gar nicht mehr an diese Technik gewöhnt wie vor 3 oder noch 2 Jahren.

Hier fand ich eure Nachrichten vor. Vor allem ists ja gut, dass Frau Michel aus der Gefahr heraus ist. Ich bin zufrieden, das Eugen etwas auf Koch eingeredet hat; ich konnte es ja nicht mehr.

Hansens Aufsatz gefällt mir sehr bis auf den unglücklichen vorletzten Absatz, der auch im Ton völlig herausfällt und wie ein nachträgliches Einschübsel klingt. Ausserdem ist er ganz falsch. Wo sage ich denn: “aus derPhilosophie ins Leben”? Das wäre freilich eine verbotene Überrumpelung des Lesers im letzten Augenblick und nicht ein Abschied an den Leser, der doch – hoffentlich – zuletzt nicht mehr an “Philosophie” gedacht hat, sondern an das Buch im ganzen einerseits und den Inhalt der letzten Seiten andrerseits (der aber nicht “Philosophie” ist).

Schafft im Jugendring,  – warum nicht? da ist weiter nichts zu überlegen, sondern irgend einer, den du kennst, also etwa

Pf. Weigert oder Michel oder sonst wer vorzuschicken.

Ein falsches Datum ist bei Kochs Vorlesung stehen geblieben.

Sonst noch eins?

Dein Franz.

31.XII.21.

Liebes Gritli,

es ist eine furchtbar zermürbende Zeit diesmal mit Mutter. Sie lässt sich hemmungslos an uns aus. Edith, die schon vorher etwas nervös war und nun durch den Streik leider nicht nach Berlin kann, kommt ganz herunter. Man kann kein vernünftiges Wort mehr mit ihr reden; immer nur sie, sie und nochmal sie. Meinst du, ich hätte ihr von Münster erzählen können? Statt dessen, wie ich anfangen wollte, hat sie mir (zum dritten Mal) erzählt, die Schwägerin von Jacob würde von ihr unterstützt, und nun dazu: seine Schwiegermutter hätte es sich zur Ehre gerechnet mit meiner Grossmutter verkehren zu dürfen (was vermutlich nach allem was ich von meinen Grosseltern und ihrer durchaus kleinbürgerlichen Stellung hier weiss, eher umgekehrt sein wird, denn jene Schwiegermutter war eine Frau Dr., was ja damals unter Juden noch was Besonderes war, und ausserdem zugegebenermassen auch eine nette Frau). Dazu die schreckliche Lügerei und dann immer wieder Schabbes, Schabbes, Schabbes. – Ich schreibe im Schlafzimmer, Edith hat sich schon gelegt, damit niemand sie mehr holen kann.

Für Schafft wäre es vielleicht wirklich gut, nach Frankfurt zu kommen. Schon weil bei dieser Gelegenheit vielleicht das Abhängigkeitsverhältnis zu seiner Mutter gelockert werden könnte; er hat ja einen Bruder in Hanau oder Hersfeld.

Gestern Abend waren wir bei Pragers. Heut Nachmittag ich bei Tante Julie.

Ich dachte schon, wir liessen uns durch euch ein Telegramm schicken, und kämen zurück. So wird man wie zerrieben. Ich kann dir auch jetzt nicht recht schreiben.

Von Scholem hatte ich eine scharfe Ablehnung meiner Häuslichen Feier.

Für Mutter wäre ihr bestgehasster Schabbes wirklich die heilsamste Erziehung gewesen, sich wenigstens einmal die Woche zusammenzunehmen. Denn ihre Hysterie ist so ungebändigt nur, weil sie nie ein Gesetz über sich gespürt hat.

Dein Franz.