Gritli Letters (Gritli Briefe) 1923

[von jetzt an nur noch von Edith, teilweise auch Margrit, korrigierte und vervollständigte Schreibmaschinen-Briefe, ab 1925 nur noch diktierte Briefe]

[1923 ?]

Liebes Gritli, Edith stellt mir, um mich zu begeistern, die Erschaffung Adams neben deinen Brief; sie nennt es übrigens weniger poetisch Anna van Bebber, eine Beleidigung, deren ganze Grösse du als Nichtmehrfrankfurterin nicht beurteilen kannst; aber es ist der pure Neid. +)

Frau v.Bendemann hatte ich grade geschrieben; auf ihren Brief wegen der Coheneinleitung. Sie sollte sich doch wegen “meine Feindin” nicht aufregen; sowas war bei Cohen leicht gesagt und nie so tragisch gemeint; er war doch nicht mit Anerkennung verwöhnt und deshalb verschnuckt darauf.

Apropos öffentliche Meinung: die neueste jüdische Literaturgeschichte, eine grässliche Literatenmache, die also grossen Erfolg haben wird, schliesst mit folgendem monumentalen Satz: Emil Bernhard, ein Meister wohlgesetzter Rede, und Franz Rosenzweig, ein fanatisch Aufgewühlter, virtuoser Reimmechaniker dazu, dichten, jeder auf seine Weise, Jehuda Halevi nach und sind, wie alle Verkünder jüdischer Geistigkeit in fremden Zungen, geborene Apologeten. Sie glauben an die gärende Riesenkraft, an die Auferstehung der jüdischen Religion.

Da habe ichs. Im Literaturverzeichnis ist übrigens der Stern genannt. Aber dies imagohafte (Beethoven, die Gräfin Stepanski und der Kapellmeister Pfuschini) “O, jeder in seiner Art, sie ergänzen einander” ist doch herrlich! Erzberger und Tillesen – sie ergänzen einander, denn ohne Erzberger wäre Tillesen kein Mörder und ohne Tillesen Erzberger nicht tot.

Was sagt denn Eugen zu E.Simons Brief? Er hat mir übrigens Eugens noch nicht geschickt. Er hat nicht nichts-, aber bewusst wenigsagend geantwortet, – was man ja eigentlich respektieren muss. Ausserdem wird er eben katholisch, – da ist nichts mehr zu machen.

Dein Franz.

  1. x) [Anmerkung von Edith:] stimmt, wenn man 8 Monate in Frankfurt eingesperrt ist und im Augenblick noch Stubenarrest hat, kann man Schweizer Badebilder schlecht vertragen. Ich kann das Bäderblatt auch nicht lesen.

[1923 ?]

Lieber Eugen, also mit meiner Belegstelle hatte ich offenbar unrecht; es ist aber vielleicht wie manchmal in so Sachen, dass trotzdem was dran ist. Ich will versuchen, es dir unaggressiv zu sagen.

Wissenschaft braucht immer zwei Sprachen. Die eine vertritt den Wissenschaftler, die andre seinen Stoff. Auf die Weise ensteht der Eindruck der “Objektivität”, der ja den wissenschaftlichen Stil macht. Nichtwahr, der Mensch spricht e i n e Sprache, der Gelehrte muss zweizungig sein, damit der Fiktion Ich-Es Rechnung getragen wird. (Der Propagandist muss sogar p o l y glott sein, damit die Wir in seinem Geschriebenen anwesend sind. Nun zurück zum Gelehrten und zu dir.

Die eine, die Forschersprache ist in deinem Fall natürlich die nachfühlende, intuitive des Philosophen. Aber welche Sprache zaubert dir deinen Gegenstand aufs Papier? Da sind (bei den Dingen von denen der Tataufsatz, ich meine der aus dem Buch, handelt) soviel ich sehe zwei Möglichkeiten. Die eine, z.B. von Cohen in seinen religionsphilosophischen Sachen, auch im Nachlasswerk, noch angewendet, ist die Sprache der geschichtlichen Kritik, also die Sprache dessen der es immer “besser weiss”, die Sprache der Interessantheit. Das Ergebnis ist dann also: Interessantes gesehen mit dem Auge der Intuition. Die andre Möglichkeit, von mir im Stern ausgenutzt, ist die Sprache der “Legende”, des Nichtbesserwissenwollens, des Teilhabens, des Dabeiseins. Das Ergebnis ist dann: Tradition durch Intuition gesehen. Das sind beides legitime Methoden. Illegitim aber ist die Vermischung. Tradition und Kritik abwechselnd beschworen, um den Gegenstand vorzustellen – das geht nicht. Also z.B. es geht nicht, kühnste kritische Hypothesen wie die vom unehelichen Kind oder die über den Prozess, wonach Jesu “Gotteslästerung” in der (bei fast allen Propheten zum Normalbestand der Profezeiung gehörigen) Untergangsweissagung  für die “Gottesstadt” bestanden habe, zu erfinden und dann wieder in den Gewässern der Tradition und Legende unbefangen herumzuplätschern und Jesus die Kirche gestiftet haben lassen, was auch wenn das T u es Petrus bei Matthäus ganz autentisch ist, wie es unter der Innenkuppel von St.Peter herumläuft und wie es jeder Katholik versteht, auf jeden Fall Legende ist. Diese beiden Elemente vertragen sich nicht miteinander und dass du sie in dem Aufsatz durcheinander brauchst, das wirst du jetzt vielleicht selber merken. – Wahrheit ist aber zum guten Teil bedingt von der Ungemischtheit der Methoden. Wahrheit oder jedenfalls der Eindruck der Wahrheit. Daher –

[1923?]

Lieber Eugen, du verdirbst dir den Nutzen, den du aus meiner Kritik ziehen könntest, indem du sie weitreichender nimmst als sie gemeint war. Sie bezieht sich nur auf dein theologisches Dilettieren. Darauf aber auch wirklich. Gewiss habe ich unter dem ersten Eindruck die Schuld einfach aufs Christentum geschoben, wie andre – du kannst dich darauf verlassen, es werdens auch andre die dir nahstehn empfinden – auf den “Convertiten”. Beides, den jüdischen wie den protestantischen Verdacht, halte ich für unerlaubt (nicht weil mit Sicherheit unzutreffend, aber weil Verdacht. Was den jüdischen angeht, so habe ich ihn ja gleich tätig annulliert, indem ich in meinem Brief dich mit lauter jüdischen Sachen en pair behandelt habe. Mehr Vertrauen kannst du nicht verlangen als dass ich dich forderungsweise mit mir und Cohen gleichsetze. Du hast das nicht recht verstanden.

Es ist mir lästig, dir zeigen zu müssen, dass die Unehelichkeit zwar im Toldoth Jeschu und in Häckels Welträtseln steht, aber weder im dogmatisch noch im kritisch gelesenen NT. Im Dogma heisst es mit Lukas: de spiritu sancto, in der Kritik heisst es mit Mattäus: Sohn Josephs. Die von dir zugrundegelegte Lukasstelle ist für das Dogma ein Irrtum Josephs, für die Kritik ein auf dem Grund des schon ausgebildeten Dogmas gewachsenes Märchen; nur für den Toldoth Jeschu und Häckel ist es die Wahrheit. Ferner: ich habe ja gar nichts gegen dein Suchen nach einem verständlichen Urteilsgrund; ich finde nur den im Text vor dem Kleiderriss des HP angegebenen viel verständlicher als den von dir erfundenen. Kurzum, ich habe die Idee, du müsstest einmal geduldig die liberale Theologie zu dir nehmen. So wie ich geduldig meinen Wellhausen, Cornill, Duhn, Gundel usw. zu mir genommen habe. Hätte ich das nicht getan, so würde ich wahrscheinlich mit deinen und meinen Eltern glauben, Moses hätte die Speisegesetze aus Gründen der Hygiene gegeben und wie hier seine prec[?]eptischen Kenntnisse von der Trichinose, so hätte er [in?] Stiftszeit das Wissen der egyptischen Priester um die Elektrizität verwertet. Wenn man die gelehrte Kritik seiner Zeit ignoriert, fällt man der populären in die Arme. Dass ich Wellhausen kein Wort glaube, weisst du ja. Dass du Jesus für “die Katastrophe des Judentums” hältst, ist ja allgemeinchristliche Legende, dagegen habe ich dir nichts zu sagen.

[1923?]

Lieber Eugen, das vorige mal hattest du im Besonderen Recht, diesmal vielleicht in dem Allgemeinen was du schreibst, obwohl ich es nicht verstehe. Aber mit dem Besonderen bestätigst du gradezu meinen Angriff. Du glaubst mir das nicht, solange nur ich es sage; aber es wird dir ja vielleicht auch mal jemand anders sagen und dann wirst du es glauben. Deine Bibel steht nicht in der Bibel. Du bist da, wenn du nicht ein “kühner Kritiker” sein willst, einfach leichtsinnig wie ein aufgeklärter Volksschullehrer. Wissenschaftlich ist kein Grund, den jüdischen Schmähungen auf den “Bastard” mehr Gehör zu geben als dem Dogma der Kirche. Und dass der hohe Priester wegen einer Unheilsverkündigung über Jerusalem die Kleider zerrissen hätte, davon steht nichts da. (Da hätte er bald kein ganzes Kleid mehr gehabt.) Das ist aber Jesus “der politische Revolutionär!” – auch wieder so eine Voksschullehrerbibelkritik. – Nebenbei, wieso pneumatisiere ich das Judentum? ich der die erste apneumatische Theorie gegeben hat. Und von der Entstehung des Christentums handle ich im Stern bloss deshalb nicht, weil ich da überhaupt nicht von Entstehungen handle. Mündlich in Vorlesungen habe ich es genug getan.

[von Margrit korrigiert, auf Rückseite ihr eigener Brief an Eugen]

1.XI.23.

Lieber Eugen,  der Pindar, an den ich neben dem allgemeinen Wunsch, rasch noch die grossen Versäumnisse meines geistigen Lebens nachzuholen, eigentlich nur durch die technische Bequemlichkeit der Ausgabe gekommen bin, (gibt es von Aeschylos auch so eine?) (ohne Übersetzung kann ich doch höchstens Homer lesen, richtig lesen) gibt mir nicht bloss im Einzelnen, sondern auch im Allgemeinen viel zu denken. Nämlich der Dornseiff hat recht, – und trotzdem hat “der Hölderlin” auch recht. Alle anständige Kunst ist im Enstehen ganz und gar soziologisch bedingt, wie der gute Junge mit so ehrlichem Schrecken bei Pindar entdeckt. Denn die Kunst geht nach Brot und singt des Lied, des Brot sie essen möchte. Aber das wird natürlich anders wenn der Künstler kein Brot mehr braucht, weil er mit dem Trauermarsch zu reden keinen Rotwein mehr trinkt. Dann entsteht auf ganz legitimem Weg die “reine Kunst”, und zwar durch einfache Umwandlung der ursprünglich unreinen. Reine gleich ursprünglich machen zu wollen, ist das Symptom des Verfalls. Also um auf Pindar zu kommen, so hat er nicht bloss den flachen Sinn geschrieben den seine Auftraggeber von ihm verlangten, sondern auch den erhabenen Unsinn, für den er berühmt und mit dem er wirksam ist. Wieso aber beides: Hier hört die Sache doch auf, witzig zu sein, das ist dann eben doch die “grosse Kunst”, zugleich die Kinder der Welt, der eigenen Welt, und die Frommen, nämlich die, schon aus Unkenntnis der Umstände, immer zur Andacht neigene Nachwelt zu befriedigen. Worin besteht sie? Hat jedes Wort zwei Seiten? Eine dirkte und eine posthume? wobei allerdings das sonderbare ist, dass grade die direkte die verhüllte, anspielende, also eigentlich indirekte sein muss und die posthume die allgemeingültige, jedem verständlich oder wenigstens jedem fühlbar gesagte, also grade direkte. Ob Geschriebenes druckbar ist, ist schon eine Entscheidung darüber, ob es diese Doppeltheit der Sprache hat. Für einen und für jeden, für einmal und für immer, für hier und für alle Welt. (Methaphysik des Verlagsvertrags, der zweiten Auflage und des Übersetzungsrechts!)

Dein Franz.