Gritli Letters (Gritli Briefe) 1924

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Februar 1924

12.II.24

Lieber Eugen,  Kochs Brief ist natürlich sehr schön. Es wäre ja auch zum Verzweifeln, wenn er nicht hin und wieder so gescheit wäre wie er wirklich ist. Denn das ist das Malheur: er glaubt, zu guten Zwecken sich dumm stellen zu dürfen oder zu müssen. Das kommt aus der Sprechstunde, von der er nie recht weiss, wo sie aufhört. Und dass er das nicht weiss, kommt von der Vaihingerei. Er muss sich schon sehr genieren, vor dir z.B. oder vor dem Leser der Frankfurt. Zeitung, um sich nicht dumm zu stellen. Ich habe ihn seit ich weiss nicht wie lange immer nur dumm genossen. Die letzten Male einfach so dass ich keine Lust nach Wiederholung habe. Dabei billige ich ihm als Arzt ja alle Medizinmannsmaskentänze, die der Kult dieses Berufs verlangt, zu. Ich habe ihm ein halbes Jahr das Vergnügen gemacht, den gläubigen Patienten zu spielen – das soll mir mal einer nachmachen. Aber ausserhalb – und es muss ein ausserhalb des Alsob geben – möchte ich ihn lieber gescheit sehen, obwohl ihm meine Krankheit gewiss es schwer macht, sich einen Augenblick nicht in der Sprechstunde zu fühlen.

Das jüdische ist vielleicht gar nicht gut für ihn. Er sollte vielleicht Lehrhaus und alles aufgeben und den Geist auf die Bahnen lenken, wo ihn seine Frau nicht bemerkt – als Geist nicht, als Handlung und Wissenschaft schon – und also duldet. Wenn ich denke, wie belämmert, wie wirklich albern er neulich war, als er hier zufällig mit Buber zusammentraf, – den er trotz entgegengesetzter Information krampfhaft für einen orthodoxen Juden hält, so schüttelt es mich.

Seine Schlussbemerkung über das Lehrhaus – na ja! die Trennung vom Ausschuss und die Auseinandersetzung mit Hallo scheint mir, nach dem Kraftaufwand, den das eine, und dem Herzblutverlust, den das andre gekostet hat, doch noch wesentlich zur Rosenzweigschen Geschichtsperiode zu gehören. Die Vertilgung und Vernichtung denke ich seiner Bequemlichkeit nicht zu gestatten. Also ebenfalls noch Rosenzweigsche Periode.

Überhaupt wäre das Lehrhaus übel dran, wenn es auf Koch angewiesen wäre. Wirklich prompt und rationell arbeitet nur Buber. Koch glaubt an Wunder oder vielmehr an Heinzelmännchen. Die Lotte Fürth, die das Lehrhaus seit Dezember technisch einfach trägt, behandelt er wie ein Gassenjunge. Du weisst doch, die von der Michel damals sagte, sie hätte das einzige vernünftige Wort in der Diskussion damals gesprochen.

Aber jedenfalls danke ich dir für die Zusendung des Briefs, die wie du siehst sehr nötig ist – wie auch die Artikel der Frkf. Ztg. -, damit ich immer wieder Veranlassung habe, mich auf den wahren Koch zu besinnen.

Es ist Mittwoch geworden und gestern abend grade war Koch noch da und bemühte sich erfolgreich, meinen Brief zu widerlegen. Freilich war eben auch zufällig nicht vom Lehrhaus die Rede. Das Jüdische ist für ihn schädlich, weil er – ähnlich wie Rudi Hallo – dazu sagt: wasch mir bitte bitte den Pelz, aber mach mich um gotteswillen nicht nass. Wie Beckerath seinerzeit mit dem Christentum. Mit andern Geistern, der Kunst etwa und der Wissenschaft, lässt sich ja wirklich so umspringen, aber die Tümer sind anspruchsvoller. Und deshalb macht ihn sein entdecktes Tum verlegen und also dumm.

Nun kann ich, solange ich es auch, zuletzt noch durch die lange Kochiade, hinauszuschieben suchte, nicht mehr daran vorbei, auf das andre in deinem Brief vom Januar einzugehen. Grade heut morgen kam ein Brief von Gritli, wo ziemlich dasselbe drinsteht. Der macht mir also das Schreiben nicht schwerer, aber auch nicht leichter. Die Todesprofezeiungen vom Herbst 1920 hatten doch einen ganz bestimmten Anlass und ein ganz bestimmtes Ziel. Auf das sind sie wörtlich eingetroffen. Das würde wohl heut keiner mehr von uns allen leugnen, auch Rudi und Helene selber nicht. Dass nun der Profet das was er metaforisch sagt, selber unmetaforisch darstellen muss, ist ja normal. Das ist das Wesen des Zeichens. Freilich auch das tote Kind vom Februar 21 war ein solches Zeichen. Aber ein Zeichen ist keine Folge. Ein Zeichen ist wirklich nur ein Zeichen. Meine Krankheit ist erst ein volles Jahr später verhängt. Also gar nicht in ursächlichem Zusammenhang mit meinen Profezeiungen. Bei denen war ich doch ganz passiv, wirklich wie ein Profet. – Nun illam und istam. Das ist wahr, aber doch nur Mittelgrundswahrheit. also die unwichtigste von allen. Dass du die Hintergrundswahrheit   siehst, ist nicht zu verlangen; die sieht man immer nur selber. Aber die Vordergrundswahrheit müsstest du und müsste Gritli sehen und ihr dürftet nicht versuchen, sie euch durch die Fiktion einer Aktivität meinerseits zu verhüllen. Ich habe niemals einen Schritt weg von irgend jemandem getan. Wie sollte ich denn dazu kommen. Mein Anteil ist nur meine Krankheit. Freilich ein reichlicher Anteil, aber doch ein ganz unaktiver. Da hat Gritli eben eines Tages dann “nicht mehr gekonnt”. Nicht mehr schreiben gekonnt wenn sie weg war, nicht mehr sprechen gekonnt wenn sie da war, (ich habe bisweilen wochenlang noch nicht mal ihren Aufenthaltsort gewusst, weil sie selbst überhaupt nicht mehr sprach), nicht mehr fragen gekonnt (so radikal war dies Desinteressement, dass sie z.B. die “18 Hymnen und Gedichte, usw.”, die am 1.1.23 zum Verleger gingen, vollständig kannte – sie fielen eben noch in ihre Zeit – aber von den “60 Hymnen und Gedichten usw.” die am 1.7. abgingen, nichts mehr). Das sind an sich Kleinigkeiten, die ich noch vermehren könnte, wenn es zur Gedächtnishülfe nicht genügt, denn nur dazu sind sie da. Schliesslich doch noch das Symptom der Symptome: dass dies Jahr des Desinteressements in Wahrheit ja nur ein halbes Jahr war. Die andre Hälfte hat sich Gritli erholen müssen. Hier kann doch wirklich ich nicht aktiv gewesen sein. Sie hat das sicher noch nie so gesehn. Denn es waren natürlich im Vordergrund jedesmal andre besondere Gründe. Wie ich auch deine Frankfurter Pläne in diesem Jahr immer mit dem Wissen begleitet habe, dass nichts daraus werden würde; obwohl ihre Grundlagen richtig waren und ihr sicher wieder herkommen werdet, aber – später.

Ihr werdet doch hoffentlich aus diesen einmal anzuführenden Einzelheiten nicht euch einen beleidigten Franz konstruieren. Ich habe sie wirklich nur angeführt, um meine Passivität zu zeigen. Aber damit meine ich warhhaftig nicht, dass Aktivität auf Gritlis Seite vorläge. Eher zu wenig. Ich nehme das “Nichtkönnen” ganz ernst. Natürlich weiss ich, dass man es auch psychologisch nehmen könnte und dass das in diesem meinem Fall ja besonders nah läge; denn ein Vergnügen ist der Umgang mit mir sicher nicht mehr; das weiss ich selbst genau so gut wie andre Leute. Wenn ich sage, dass ich ihr Versagen ganz ernst nehme, so meine ich damit, dass ich unbeschadet dieser Vordergrundsgründe, die mich eben weiter nicht interessieren, mich frage warum diese Vordergrundsgründe über sie Macht gewinne durften. Darauf habe ich die Hintergrundsantwort für mich freilich ganz sicher, – aber für sie? das ist mir rätselhaft, wie allerdings wohl immer das was dem andern in dieser Schicht zustösst. Das ist die eigentliche Trennung, wenn man nicht mehr zusammen in die Hölle oder den Himmel zu kommen erwarten darf. Dass ich bei allem Begreifen, dass mich dies letzte auch noch treffen musste und dass bei mir keine einschränkende Bedingung wie doch bei Hiob sogar statthat, auf die ich Esel im ersten Jahr meiner Krankheit noch rechnete, sondern dass mir wirklich alles genommen wird, nicht bloss der Weg vom Wunsch zur Wirklichkeit, sondern auch der Wunsch selbst, – dass ich mich bei aller verzweifelten Einsicht, dass dies zu meinem Heil ist, gegen dies mein Heil eben so verzweifelt sträube, das siehst du ja schon daran, dass ich, als mir allmählich – denn anfangs mochte ich es natürlich nicht glauben – die Wirklichkeit dieses Unglaublichsten unbezweifelbar wurde, nicht radikal gewesen bin, sondern es gemacht habe wie immer in dieser Krankheit: genommen was der andre mir nun noch geben konnte, wirklich in diesem Fall nicht bloss um des andern willen (wie ich etwa Rudi das befriedigende Bewusstsein verschaffe, mich besucht zu haben, wenn er nach einjährigem Verschollensein zur Essenszeit ohne vorherige Anmeldung anrückt, zitternd vor Angst, dass die Chose lang dauern könnte) sondern in diesem Fall wirklich auch um meiner selbst willen. Ich verzichte auf den Schein von Selbsttätigkeit, den ich mir dadurch verschaffen könnte, dass ich die paar Fäden zu denen meine Kraft noch etwa langen würde aus dem reissenden Strick an dem ich hänge selber noch zerrisse. Ich nehme gar nichts “auf meinen Willen”. In meinen W i l l e n nicht. In meine Liebe ja, in meinen Willen nicht.

Du gibst diesen Brief ja Gritli. Wenn nicht – aber warum nicht -, so schreib mir, damit ich Gritli dann extra antworte, und dann natürlich nichts von dem, was in diesem Brief steht, – einmal und nicht wieder.

Dein f

25.II.24.

Lieber Eugen,  ehe mein Schnupfen ausgebrochen ist, muss ich dir doch noch antworten. Denn das was du schreibst, trifft auf das Geschehene gar nicht zu, grade weil es alles auf schon früher Geschehenes vollkommen zutrifft. Das weiss ich gewiss und habe es lang anerkannt. Das wäre nichts Neues und Entsetzliches. Das wäre gewiss der Himmel noch über der Erde, wie er es ja auch nach 1920 war, von welchem Datum du recht redest. Was 1923 geschehen ist, ist etwas ganz andres, etwas, was wirklich den Himmel verschlossen hat, von dem du sprichst. Denn eine Ewigkeit, die aufhört, ist nie eine gewesen. Männerfreundschaften werden wohl immer unter der Klausel rebus sic stantibus geschlossen, deshalb entwertet mir Rudis jetziges Verhalten nichts Vergangenes. Aber hier ist es anders. Dass einer versagen konnte – ganz einerlei wer, nach dem Geschehenen muss ich es ja für möglich halten, dass im umgekehrten Fall auch ich es hätte sein können, es ist ja nun alles möglich – also dass einer versagen konnte, macht alles Vergangene zur Illusion. Die Liebe ist kein Wagen wie die Freundschaft, wo einer herausspringen kann und es bleibt immer noch der Wagen übrig; Paolo und Franceska fahren nicht auf einem Wagen; – wenigstens eine Liebe, über der einmal das Wort der Ewigkeit genannt ist. Mit diesem Wort bin ich früher immer sparsam gewesen, vielmehr ich habe es nie ausgegeben. Meine Liebe hat früher immer ihre Leidenschaft aus dem Gefühl ihrer Vergänglichkeit genährt; wenn sie vergangen war, war sie durch das Vergangensein nicht verleugnet. Nun habe ich das höchste Wort des Lebens auf einen Wechsel geschrieben, die Firma ist bankerott, ich kann ihn nicht einlösen.

Das ist also kein Gegenstand zu klugen und an sich richtigen Bemerkungen. Sondern ganz etwas andres. Ganz wacklig ist übrigens der Nagel an dem du deinen Brief aufhängst. Für meine Notstandsarbeiten erwarte ich selbst kein Interesse. Für den Cohen und den Cohn jetzt sowenig wie früher für den Hegel. Ich bin doch nicht verrückt. Aber der Jehuda Halevi ist eben, wie du sehen wirst, etwas ganz andres. Nichts “nach dem Stern”, sondern vor dem Tod, mein direktestes persönlichstes Buch, was ich je gemacht habe. Das wird dir Gritli für die ersten 18 und ihren damaligen Eindruck bestätigen. Und damit erübrigt sich ja der objektive Beweis, den ich dir eben zu geben suchte. Wärs Notstandsarbeit gewesen, so doch schon 1922, und nicht erst 1923. Aber nur als unzweideutiges Symptom hatte ich es angeführt. In meiner Lage sieht man ja an sich leicht Gespenster.

Koch in der Förstersache war hochkomisch. Näheres mündlich. Er hat direkt erzwungen, dass er kommt, offenbar weil er nachher Angst vor seiner eigenen Kurage vor Geheimratstronen [?] gekriegt hat. Um Mutters willen ist es ja gut, wegen des Après.

Der Beckersche Vortrag hat mich interessiert, der verstümmelte Schlusssatz, der mich, dich, Hans, Buber zu Orientalen macht, noch mehr als das. Vielleicht ist es ja wahr.

Vor dem Versinken in die Schnupfenhölle

Dein Franz.

Gritli dank für ihren Erzählbrief, den ich mir von Edith geben lassen habe, weil ich ahnte, dass er für mich bestimmt war; Edith hätte ihn mir von selber gar nicht gegeben, weil sie meinte, es stünde nichts Interessantes drin für mich!

[Edith dazu:] So stimmts nun nicht. Franz forderte den Brief von mir, als ich ihn grade gelesen hatte. Ich hätte ihm wohl aus dem Inhalt erzählt, wenn auch nicht gezeigt, denn ich habe stets eine Scheu, Briefe, die an mich gerichtet sind, zu zeigen, selbst Franz, in diesem Fall sicher zu Unrecht. Aber dass ein Brief an mich geschrieben, aber für Franz bestimmt war – auf diese komplizierte Geschichte wäre mein simples Gefühl nicht von selber gekommen.

Entschuldige das böse Papier.

Deine Edith.

März 1924

9.III.24

Lieber Eugen,  soll ich dir nochmal antworten? nachdem du mir standhaft dasselbe schreibst, was ich schon in meinem vorigen Brief abweisen musste. Ich kann dir nur wiederholen, dass du 1919 mit 1923 verwechselst. Für 1919, 16.Februar ff. sind wir absolut einig. Dein Kommentar zum Sternschluss ist einfach autentisch. So habe ich damals die beiden Worte gemeint. Wie erstens philologisch aus dem Zusammenhang hervorgeht, wo das Wort Leben als Gegensatz zu Heiligtum und Schau gebraucht wird, also Alltag und Wirken bedeutet, und zweitens biographisch aus der Tatsache, dass ich 14 Tage danach mit den energischsten Bemühungen um eine Stelle, in der ich mich in Kleingeld zu wechseln hatte, begann (die Redaktion des misen grünen Blättchens), die dann Anfang 1920 zum Erfolg führte. Du aber schreibst, als hätte ich mir Haus und Beruf 1923 gegründet, nicht 1920. Damals habe ich erlebt, was du krampfhaft in das 1923 Geschehene hineinzuinterpretieren versuchst.

Liebes Gritli, soweit hatte ich Sonntag abend geschrieben, und am Montag kam dein Brief, der es mir ja nun erspart, weiter auf Eugens Konstruktionen einzugehen. Weshalb umnebelt er sich eigentlich so gern? Der Sturz aus der Ewigkeit in die Zeit, der ja gewiss schmerzhaft ist – ich habe im Spätjahr 1920 vernehmlich genug au geschrieen – ist doch nimmermehr eine Verleugnung der Ewigkeit, im Gegenteil, wenn man ihn überlegt, ihre Bestätigung, sogar ihre einzig mögliche Bestätigung, denn wie sollte die Ewigkeit sich anders bestätigen als durch ihre Bewährung an der Zeit. Das war also wirklich nicht gemeint. Die Erde ist keine Widerlegung des Himmels, aber die Hölle ist es, weil sie zugleich eine Widerlegung der Erde ist. Sogar nur an der Erde kann sie ansetzen, den Himmel direkt kann sie nicht erreichen. Aber indem sie [die] Erde, die verwandelter Himmel ist, verleugnet, verleugnet sie auch den Himmel, der in diese Erde hinabgestürzt ist. Ich bin wirklich froh, dass du diese bequemen Konstruktionen nicht mitmachst, nach denen mein letztvergangenes Jahr ein Jahr des “Wirkens” gewesen sein müsste. Was in Wahrheit geschehen ist, ist doch eben, dass ich angefangen habe zu stinken und da hat es eben Aljoscha nicht mehr ausgehalten. Posthum ist das ganz berechtigt. Die Bestattung hat immer sehr viel von einer Beseitigung, die sie ja im Grunde auch ist. Was Sigune, glaube ich, mit Schionatulander tut, ist grotesk. Aber hier ist es eben trotz aller dagegensprechenden Symptome noch praehum.

Lieber Eugen,  dieser Brief kommt nicht zur Ruhe. Heute Mittwoch vormittag, kam dein Brief. Ich war zuerst nur entsetzt über den Plan, nicht wegen Abgeordneter – diese oder eine ähnliche Selbstwiderlegung deiner komischen Professoralitätsendgültigkeitssprüche hatte ich erwartet und hätte sie dir, wenn der vorstehende Brief an dich sein natürliches Ende erreicht hätte, auf den Kopf zugesagt – also nicht wegen Abgeordneter sondern wegen Zentrum. Mindestens musst du es deinen Aufstellern kolossal schwer machen. Schade dass du nicht mehr Diakon bist, das würde dir das Schwermachen erleichtern. Und auf jeden Fall frag Picht, und tu es nicht wenn er Bedenken hat. – Es ist schon eine Aufgabe, das was man ist und das was man scheint, zusammenzuhalten, wenn man dasselbe ist wie man scheint, – geschweige wenn, wie du in diesem Fall, nicht.

Liebes Gritli, ich fahre fort, wo ich gestern abend aufgehört habe, in der stillen Hoffnung, jetzt den Brief fertig zu kriegen. Wenn ein Mensch tot ist, dann sagt er es schon selber, die andern können ihn wohl für tot erklären und demgemäss behandeln, aber mit diesem bürgerlichen Tod ist der physische durchaus nicht eingetreten. Ich verlocke gradezu zu solchen Toderklärungen, das ist ja klar, ich sehe eben von aussen viel töter aus als von innen. Da ich mich selber an sich wie jeder Mensch nur von innen sehe, muss ich mich fast mit Gewalt immer wieder erinnern wie ich wirke, damit ich keine unerfüllbaren Ansprüche stelle. Aber genug davon.

Das Wesentliche ist, dass es uns beiden hundeübel dabei ist, nicht bloss mir. Für mich ist ja alles, was 1917 -1922 war, etwas so biografisch Unzeitgemässes, etwas was, wenn Mutters lauter und Trudchens schweigender Protest dagegen heut durch dies Ende recht behalten sollten, und das Ganze eine blosse “angenehme Erinnerung” werden würde, mir nach 1913 so Unerlaubtes dass ich nur mit Scham darauf zurücksehen könnte. Eugen wird das nicht verstehen, aber du. Ich habe um einen zu hohen Einsatz gespielt, um mich jetzt mit Anstand zurückziehen zu können. Ganz so wirst du es nicht empfinden, aber doch ähnlich. Deshalb meine ich, wir halten uns, nachdem es einmal zur Aussprache gekommen ist (eines von Eugen erwähnten Worts von dir vor Jahresfrist erinnere ich mich nicht, nur eines, und natürlich noch gegenteiligen, vom Oktober 22, das herausgefordert zu haben, vielleicht frevelhaft von mir war) nicht mehr bei den Warumfragen auf. Komm nochmal hierher, nicht erst zum Packen, also nicht erst in der Woche vor Ostern, sondern schon eine Woche früher. Edith ist auch erholungsreif, sie beschimpft mich nachts, wenn sie nicht weiss was sie sagt, wie ein Rohrspatz. An der Arbeit wie du meintest liegt es nämlich nicht, ich habe erst angefangen, so jeden Augenblick mit dir zu arbeiten, als ich merkte, es wurde dir schwer, zu mir zu sprechen; ich wollte dir doch nicht das Zimmer verbieten. Also komm. Wenn wir so lange gekonnt und gemusst haben, wird es uns auch erlaubt sein, einmal zu wollen.

dein Franz.

Ist das schöne Hellas – Buch noch rechtzeitig angekommen? ich verdanke die Kenntnis Putzi, dem Griechen.

[Edith:] Liebes Gritli – Deine Edith

30.III.24.

Liebes Gritli,  nein, ich sehe es doch genau so an wie du. Dein Ferngefühl hat dich nicht getäuscht. Auch schreiben möchte ich jetzt aus dem selben Grund wie du nicht. Eugen war hier wirklich ein schlechter Vermittler. Wir haben erst lange aneinander vorbei gesprochen, weil er nicht begriff, dass es mir wirklich nicht auf theoretische Erklärung des Geschehenen ankam, auf die vielleicht richtige seines jetztigen Briefs sowenig wie auf die sicher falsche seiner vorigen. Und ich begriff nicht die Wichtigkeit, die er sich selbst in dieser Sache beilegte. Er war ja gar nicht gemeint. Als ich es begriff, tat er mir sehr leid, aber zu einer Übertragung der ganzen Not auf ihn war und bin ich nicht fähig; das kommt mir künstlich und ertheoretisiert vor. Im Zusammenhang von dieser Überschätzung der Bedeutung seines psychologischen Briefs sprach er nun von “jetzt doch alles gut” und von den bevorstehenden “Festen” mit dir. Dies Wort lehnte ich ab, weil es meiner Stimmung sowenig entspricht wie deiner. Ich bin ganz zaghaft, – wie sollte ich anders sein, alle Erklärbarkeiten können das nicht ändern. Das Jahr Loch wird davon nicht ausgefüllt, für dich nicht und für mich nicht. Wieviel ist ganz einfach beschwiegen in der Zeit zwischen uns, wieviel wissen wir nicht von einander. Also meine Freude ist nur die “mit Zittern”, keine andre.

Dein Kommen erst im Mai wird ja Edith sicher gut passen. Über Rafael wirst du dich wundern. Er ist liebenswürdiger und erziehungsbedürftiger als je. Ich werde mir einen Prügelaparat erfinden, weil es Edith nicht übers Herz bringt. Die Wahrheit des salomonischen Grundsatzes spüre ich jetzt tief, in beiden Hälften, dem Liebhaben und dem Züchtigen.

Ich schicke den Brief noch nach Freiburg.

dein f

April 1924

5.IV.24.

Lieber Eugen,  deine Widmung an mich umhüllt schamhaft die mehralsödipodeischen Greuel, denen das angewandte Seelenkündlein seinen Ursprung dankt, denn zwar ist es mein Enkel, aber dadurch nicht bloss dein Kind, sondern zugleich dein Urenkelkind. Apollon, Apollon! eine hansische Feder würde sich sträuben, dies näher zu verfolgen.

Nachdem ich nun so die Verwandtschaft anerkannt habe, muss ich freilich sagen, dass ich, wenn ich gekonnt hätte, verhindert hätte, dass du das arme Wurm in diesem Zustand in die Welt hinausschickst. Vielleicht irre ich mich ja – Weizsäckers Entsetzen, das mir Gritli heut schreibt, ist mir kein ganz zuverlässiger Eideshelfer, denn er entsetzt sich sicher auch vor dem Stern und vielem anderen -, aber mein Eindruck jedenfalls war: die ersten vier Kapitel fahrig und unwirksam, das Mittelstück nicht gewichtig genug (geschrieben), der Schluss infolgedessen auch nicht zwingend. Was er nämlich sonst wäre, weil du ja im Politisch – Juristischen immer solider wirkst, auch bei den grössten Kühnheiten, als im Philosophisch – Psychologischen. Ich bin traurig, dass du dein Pulver wahrscheinlich in die Luft geschossen haben wirst. Und was für Pulver! ein Jammer. Die Scham des Werdens, die biografischen Katastrophen, und so fort, eins am andern. Alles unwirksam, weil nur aforistisch. Gewiss, Orakel zu spucken, ist herrlich für unsereinen; ich habe mich diesem Genuss in den Anmerkungen zum JH genug hingegeben. Aber der pythische Styl ist nur glaubhaft, wenn er auf dem Gerüst eines sorgfältig wahrgenommenen Kults, sozusagen als Arabeske aufgetragen wird; nicht für sich allein. Die programmatischen Trompetenstösse wirken so bramarbisierend, so bombastisch, dass selbst ich mich diesem unmittelbaren Eindruck des Styls gegenüber immer wieder mit Gewalt meines besseren Wissens – nämlich dass es keine Prahlereien sind, sondern ganz bescheidene Anzeigen eines wirklich vorhandenen nur noch auszumünzenden Reichtums – erinnern musste.

Dies ist nun nach Hansens Tragödie u. Kreuz, Cohens Nachlasswerk, (im System hat er Ansätze zur Lehre von den Tempora), dem österreichischen Pneumatologen, dem Stern, Ich und Du, dem Feuerbachtaschenbüchlein, der siebte Versuch, das harte Herz der Zeit für die Grammatik schlagen zu machen. Vielleicht wird der achte, Hansens Fichte, es fertig bringen; denn ich glaube, er ist der beste. Nicht grammatisch – das ist auch nicht nötig -, aber in der Aufmachung und Einführung. Das Wirkliche wird ja erst durch ein grosses zwei- oder dreibändiges Buch geschehen, das dann logisch, psychologisch, sprachvergleichend, ästetisch und politisch gleich gepolstert sein muss. Eine grosse Arbeit, aber für dich leichter als für irgend jemand. Mit den Nebeneinanderstellungen ist es nicht getan; z.B. müssen Person, Tempus, Genus, Verbi, Casus usw. etwas Verschiedenes bedeuten; verschieden innerhalb des einen, was sie auch bedeuten. Ferner: es dürfen nicht mein und Bubers Ich – Du, dein Ich – Ich, Bubers Ich – Es, dazu Ich – Wir, Ich – Ihr, unverbunden nebeneinadner stehen bleiben, als ob nicht immer ich gesagt würde; in solchen scheinbaren Differenzen steckt grade das System.

Seit 1781 war die Luft voll von Dialektik, seit den späteren 90er Jahren erschien wohl jedes Jahr ein dialektisches Buch, trotzdem war sie eine unübersehbare Tatsache erst mit Hegels dreibändiger Logik 1812-16. Also!

Dein Franz.

12.IV.24

Liebes Gritli,  ich lege für Eugen den Artikel von Briefs aus der Frkf. Ztg. bei, wegen des Citats; er kriegts sonst vielleicht nicht. – Bis heut früh war Trudchen hier. Fast eine Woche. – Lass dir mal in einer Buchandlung die Anzeige im Börsenblatt zeigen, da wirst du sehen was an den Gedichten ist. Die Anmerkung zu Lohn war ursprünglich ganz anders, theoretischer und gepanzerter, und darum weniger glaubhaft. Die aforistische Form ist ja das Geheimnis der Anmerkungen; jede tut so, als wenn vor ihrer Frage nichts gefragt wäre. – Ich habe übrigens für etwa dreihundert Mark, also dreifünftel des Honorars, Freiexemplare verschenkt und mich so für alle Aufmerksamkeiten dieser Krankheitsjahre revanchiert. Haben werden ja die meisten nichts davon, aber doch die guten Absichten sehen. – Der Cohen ist auch raus, aber die Sonderdrucke wahrscheinlich verbummelt. Schade, da ich zuletzt, durch das Cohenbuch von Kinkel, noch auf den Geschmack an meinem Gemäch gekommen war. – Ist mir Eugen eigentlich böse, dass er garnicht schreibt?

Dein Franz

15.IV.24.

Liebes Gritli,  Hans hatte deinen Brief nach Hamburg nicht bekommen, wir erzählten ihm davon. Inzwischen wirst du ja von ihm gehört haben, denn er hat an Eugen wegen der Zeitschrift geschrieben. Er war sehr voll davon, und doch wohl mit Recht. Freilich ob der Fluch der Erfolglosigkeit, der über uns allen liegt, ihn diesmal verschonen wird? Aber die Besorgnisse um ihn im Pfarrerberuf sind damit fast gegenstandslos, er ist dann eben nicht bloss Pfarrer, und auf zwei Beinen kann man immer stehen.

Übrigens enthält der Buchschluss, den ich dahatte als du dawarst, etwas sehr Merkwürdiges; den Grundriss seines Systems, entwickelt als Gegenstück zum Stern, (von dem er so tut als wenn er auch nur als Möglichkeit existierte). Natürlich wird er es dann nie schreiben, und der Stern der Erlösung wird dies Nachplagiat, das “Siegel des Lebens” – so heisst es! – ebenso fressen wie das Vorplagiat, das Kreuz der Wirklichkeit. Habent nicht bloss s u a fata libelli. – Das Komische an den beiden “Gegenstücken” ist, dass Hans sie so konstruiert, dass sie den ganzen Raum der Möglichkeit ausfüllen, – tertium non datur. (Hoffentlich ist der Exorcismus noch nicht ganz gelungen, damit du das viele Latein verstehst, was mir da in die Maschine rutscht.)

Hans war übrigens gestern noch mal hier, weil sein Vater Angst vor den Franzosen auf der Darmstädter Strecke hatte!!

Ist der Briefkasten s o gross, dass nächstens der Jehuda Halevi als Drucksache reingeht? Er ist, Eugen zum Tort, mein grösstes Buch geworden, – wunderbar ausgestattet. Ich habe ihn schon seit 8 Tagen, also werden die weiteren Exemplare ja auch mal kommen.

Dein Franz.

[April 24?]

Liebes Gritli, den Zweig legte mir die Schwester gleich im Bett über die Knie. Noch ehe ich wusste von wem er war.

Am Sonntag kommst du am besten den ganzen Tag, denn es ist verschiedenes nicht zu verschiebendes los. Am Vormittag vielleicht ein Mensch der im Lehrhaus lesen will und mir zu jung und gescheit ist, am Nachmittag vielleicht Goldner, der sehr nett ist. Denn das Programm geht Montag zum Drucker.

Dein Franz.

24.IV.24.

Liebes Gritli,  Mutter war bis heute da, so komme ich erst heute zum Schreiben. Mit deinem vorigen Brief hat sich ja meiner gekreuzt. Die Festtage waren nach allerlei Schreckschüssen doch noch richtig. Am ersten Abend hat es Epstein gemacht – ich weiss nicht, ob du ihn kennst, der Junge, der s.Z. vom Gymnasium flog, weil er einem Lehrer eine Ohrfeige wiedergegeben hatte, dann zu Kauffmann in die Lehre, dann wieder zurück auf die Schule, jetzt nach Freiburg, um Philosophie und christliche Theologie zu studieren und jüdischer Lehrer zu werden. Am zweiten Eugen Mayer. Ehrenbergs waren an beiden Abenden da, am zweiten noch Goldner. Und Rafael war am ersten Abend vor und am zweiten nach Tisch dabei. Am ersten war er bald eingewöhnt, aber am zweiten geschah etwas Merkwürdiges. Gleich wie ihn Edith reingeholt hatte, guckte er Mayer, der links neben mir sass, fest und mit Augen, die er noch nie gehabt hatte, an und war nicht wieder abzubringen. Es war klar, er sah etwas was wir nicht sahen, denn an Mayer war nichts was er nicht gewohnt war. Alle merkten es, ausser Edith, die nämlich hinter ihm sass und deshalb die Rolle Bileams spielte; obwohl sie nicht auf ihm sass, sondern er auf ihr; sie gab ihm dauernd zu essen, um ihn still zu halten, und er nahm es minutenlang nicht an, der Fresser und Säufer! ich habe so etwas nicht für möglich gehalten in dem Alter; es lohnt also alle Mühe, die man mit dem Haushalt hat, doch; denn ohne diese Gelegenheitsmacherei wäre es ja schwerlich geschehen. Die Tage seither ist er wie immer, aber in den Minuten war er von einer hingerissenen und hinreissenden Schönheit.

“Apropos mies” – auch Eva ist schön geworden, der Kopf, und zwar gerade weil man ihm ihr Alter stark ansieht.

Rudi war hier, durch eine von Kochs üblichen ungläubigen Missverständnissen (der Patient will .., nun ist Rosenzweig Patient, also will er ..). Es ist traurig mit ihm. Er weiss die einfachsten Dinge nicht mehr. Es ist doch eigentlich nicht nur für Helene blamabel, dass er so verkommen ist, sondern auch für Lotti. Sag ihr das aber nicht. Z.T. trägt auch die alberne Biologie Schuld daran, gegen die er einfach wehrlos ist, – was nicht ein “Gleichnis” in ihr hat, existiert einfach nicht. Und schliesslich sicher auch der verdammte Barth, der das Christentum so unbequem macht, bis es schliesslich vor lauter Unbequemlichkeit die bequemste Sache von der Welt wird.

Deine Grossmutter hat dir aber das märchenhafte Wohngefäss nicht richtig gesagt; lass es dir von Eugen sagen, es ist Grimms plattdeutsches vom Fischer und siner Fru. Nein, Essig nicht!

Der Zweig war von unten welk geworden, nun ist er einen Fuss kürzer gemacht und scheint nun zu halten. Zwei grosse Kallas stehen auch auf dem Tisch und Rafael macht ihnen haaaa.

Dein Franz.

Mai 1924

4.V.24.

Liebes Gritli,  Rudi “ahnt” nicht nur, sondern weiss sehr genau; ich zeige dir mal seinen Brief, den er nachher schrieb. Aber es ist bezeichnend dass Lotti nichts davon ahnt; das habe ich ja eben gemeint. – Ich bin übrigens noch nicht zum schreiben an ihn gekommen, vor Arbeit und Besuch. Weizsäcker war da, am andern Tag noch mal einen Augenblick mit seiner Frau. Er war reizend. Edith wird noch ganz antisemitisch und hat heut morgen deutschvölkisch gewählt; sie gesteht es mir nur nicht ein. Aber übrigens trotzdem tut Weizsäcker Rudi sicher unrecht. Hans sieht er ähnlich, wie du diesmal schreibst. – Mutter – da habe ich eigentlich nicht viel getan. Jedenfalls nichts verglichen mit 1918 vom April bis September, wo ich ihr, wie ich jetzt erst gemerkt habe, wirklich Briefe geschrieben habe, wie man nur schreiben kann. Und damals war alles in den Wind. Ich war wirklich ein guter Sohn damals. Jetzt habe ich, seit voriges Jahr Fräulein v.Kästner hier war und ich sie fragte ob es vielleicht helfen würde wenn ich mehr schriebe, eben geschrieben, aber so nur geschrieben. Und trotzdem hilfts mehr als damals wo ich mir die Seele aus dem Leib schrieb. Vielleicht.

Der J.H. ist inzwischen sicher da. Denk er kostet nur 6 M. Wenn nichts auf dem schönen Papier gedruckt wäre, würde das Buch sicher reissend abgehen. So wird es eine Weile dauern, bis die 1500 Exemplare verkauft sind.

Dein Franz.

[Edith:]

Liebes Gritli, eigentlich wollte ich dir richtig schreiben, aber ich scheine doch nicht dazu zu kommen, so nur einen Gruß und eine Frage. Kannst Du wohl schon beurteilen, wann Du herkommst. Nicht, daß es mir so eilt, es geht mir jetzt, wo ich die Strapazen der Feiertage überstanden habe ganz gut. Aber Hannah Karminski, mit der ich gern zusammen gehn möchte, muß ihren Urlaub danach richten und es möglichst bald wissen.

Herzlich grüßt Euch

Eure Edith.

22.V.24.

Liebes Gritli, es geht einfach nicht mit Elisabeth, die Koscherté wird zur Fiktion. Es ist schade um Hanslis mutterererbtes Müssen. – Von der zweiten Auflage des Industrievolks schrieb mir Buber, der Eugen ausführlich schreiben will. Übrigens, wenn er noch jetzt nicht einsieht, dass sein Brief damals Nonsens war, mindestens auf dich und auf mich bezogen, aber vielleicht auch auf ihn selber, so kann ich ihm und mir nicht helfen. Ich habe seither nicht mehr daran gedacht, da könnte er es eigentlich auch aus seinem Magen abführen. – Was ich arbeite? An den Achtundachtzig Hymnen u. Gedichten d. J.H. deutsch. Mit einem Nachwort u. mit Anmerkungen (Der Sechzig H. u. Gedichte zweite Auflage). Oskar Woehrle Verlag Konstanz. Ich habe den Ehrgeiz, es auf Hundert usw. zu bringen, aber vorläufig mache ich erst mal die 88 fertig, an denen ich seit Februar arbeite; ich bin bei den Anmerkungen zum zweiten Siebent. – Viel Besuch war da. Jacob, der famos war, ein katholischer Theologieprofessor aus Bonn (Englert) und noch andre. Der Bonner, der übrigens trotzdem nett und sogar rührend war, will jüdische Lebensbilder zu antiantisemitischen Traktätchen verarbeiten und hatte mich auch für eins aufs Korn genommen, weil ich doch ein so lieber Mensch, ein so tiefer Mystiker bin und so schwer leide. Ich habe mich dieser vorzeitigen Heiligsprechung nur durch den Hinweis auf mein Nochnichtgestorbensein entziehen können. Also Taufen ist garnicht mehr nötig.

Dein Franz.

Juni 1924

11.6.24.

Liebes Gritli, nun wird es also doch gehen. Mir war der Aufschub ja eigentlich ganz recht, weil ich mich vor den Tagen aus technischen Gründen graule. Es ahnt ja niemand, um welche Punkte mein Leben gravitiert; eben garnicht die normalen, die ich mir nur künstlich beibehalte, sondern ausschliesslich die beiden Schlusspunkte der Verdauung. Die sind allmählich zu Beherrschern meines Lebens geworden, und da weiss ich nicht recht, wie es mit einer Nachtschwester, die kein Wort versteht, und dem Ass, für das ich bloss das unangenehme, aber doch schwer ersetzbare Mittel bin, in vierstündiger leichter Arbeit sich den Lebensunterhalt zu verdienen – die schwere tut ihr Dienstmädchen Edith – werden soll; aber schliesslich wird es auch gehen wie alles. Nur verspreche dir nicht viel von mir; denk immer, dass ich in der Lage eines Menschen bin, der – nun ja, Wilhelm Busch. Durch die, ja einzig vernünftige Aufrechterhaltung der Fiktion Geist Seele Leib verdecke ich die tatsächliche Zentralstellung des dritten. Ich quäle mich mehr als man weiss.

Dabei fällt mir mein “Arzt” ein. Er war also neulich mal wieder hier; zufällig hatte mir Prager am Tag davor genau geschrieben, was Förster jetzt sagt. Koch also kam, um mir zu erzählen, dass Förster ihm geschrieben habe, das Ergebnis der Untersuchung sei negativ; nun wusste ich von Prager das Gegenteil; also nur weil man den Patienten anlügen muss. Da Koch es weise so eingerichtet hatte, dass ich nicht schreiben konnte, wie alle meine “Entscheidungen” in der Försterschen Affäre von Koch auf Samstag Vormittage verlegt sind, so konnte ich ihm nichts sagen; und die Anstrengung eines Briefs lohnt ja bei diesem Menschen, der alles schon weiss und nichts glaubt, nie. In ihn habe ich alles vergeblich hineingesteckt, was ich hineingesteckt habe. – Aber schliesslich wenn man so rechnet, bleibt vielleicht überhaupt nicht viel vom Leben übrig; deshalb soll es für die Vergangenheit ungesagt sein; aber für die Zukunft gilt es.

Hoffentlich bist du doch nach Mecklenburg mitgegangen und nicht nach dem langweiligen Landeshut. Lieber als Neutrum bei Männern als als Schwägerin in Familie.

Mutter hat auch gerochen dass die Seelenkunde nichts ist. Nun bin ich neugierig, ob es Gegeninstanzen gibt. Was schreiben die Kronprinzen? was Scheler: was – aber nein, Picht schimpft ja sicher auch. Es ist schade.

Dein Franz.

20.VI.24

Liebes Gritli, ich hatte von Förster, als er hier war, ja auch den Eindruck, dass er geschickt untersucht und kein Charlatan ist; aber sein Benehmen nachher war freilich typisch charlatanhaft. Und dass er hier wieder sein Allheilverfahren als einziges in Erwägung zieht, ist auch nicht grade vertrauenerweckend. Wenn es einen richtigen unspezialistischen Doktor gäbe wie Koch, so könntet ihr ja den unbedenklich hinzunehmen oder auch einen Kinderarzt. Natürlich nur, um Gewissheit zu haben, dass der tollgewordene Spezialist nichts versäumt. Aber vermutlich ist ja nichts zu versäumen, und es nimmt, gut oder böse, seinen Weg. – Prager ist übrigens durch meine Geschichte so weit irre an seinem früheren Abgott geworden, dass du von ihm sogar einen vernünftigen Rat haben kannst. Freilich vertraue ich ärztlich nicht viel auf ihn.

Wir haben eben Koch angerufen. Er sagt, es sähe sehr nach Diphterielähmung aus. Förster könne kaum etwas versäumen. Es müsse aber ein Kinderarzt hinzu; er wird mit Grosser sprechen, wer. Dann wird er euch schreiben.

Bitte schreibt uns, was ihr erfahrt. Koch sagt, es kann nicht lange schleierhaft bleiben.

Euer Franz.

[Edith:]

Liebes Gritli, am Telefon das war ich; beide Male; Es war sehr undeutlich. Wir wollen nun nur wünschen, daß alle Angst umsonst ist.

Herzlich Deine Edith

Sehr in Eile

Das ist Rafaels Brief [Zeichnung]

Juli 1924

4.7.24.

Liebes Gritli, Koch schimpft wie ein Rohrspatz über die schlechte Behandlung, die Förster ihm angedeihen lässt. Es ist ja wirklich ein starkes Stück. Aber wenn er Hansli gut behandelt, so soll ihm verziehen sein.

Prager schreibt, dass Ihr bei ihm wart und dass Eugen und Heinemann sich als “unzünftige Zünftige” entdeckt hätten. Ist Eugen wirklich auf Heinemann reingefallen? Zwar ist er nicht der schlechteste, aber doch ganz akademisch (mit Geschmack akademisch, aber doch). Prager schreibt auch, dass Eugen ihm den Cohendruck mitgebracht hat; eigentlch sollte er ihn doch nicht meinen, sondern seinen Leuten geben; wem hat er denn noch einen gegeben, damit nun keine Verdoppelungen vorkommen. Übrigens habe ich nach Berlin geschrieben, dass er die drei Bände von mir zum Geburtstag kriegt; sie werden ja zu spät kommen.

Rafael ist jetz im Stadium der Eigensprache. Sein Hauptwort ist dabbe; das versteht ausser mir kein Mensch; rat es einmal! Zur Erleichterung gebe ich dir noch an, dass es anfangs manchmal dapfell und auch dabbae heisst. So, wenn du es jetzt noch nicht geraten hast, bist du eben so dumm wie Edith, die es erst beim Verbessern merken wird.

Er ist besonders reizend.

Dein Franz.

11.7.24

Liebes Gritli, auf meine Heinemannfrage antwortest du ja schon. Besser als ein deutscher Professor von heute ist allerdings ein Rabbiner leicht. – Die Begeisterung der Leute über die Seelenkunde ist mir nur recht; man schreibt doch für die Leute, nicht für die Nächsten; das haben wir allerdings bisher immer getan; aber das war eben der Haken. Übrigens aber würde mich doch interessieren, welche. Was sagt Picht, was Rang – hast du eigentlich sein Buch gelesen, es lohnt -. Was Michel, was Paquet, was Fritz, was usw. usw. Warum hat Eugen es Strauss nicht geschickt? – Rat einmal, was ich jetzt wieder lese, ein Buch. – Die Deutung von dabbe neulich ist mir übrigens inzwischen wieder unsicher geworden. Dagegen sagt er komischerweise mir, und zwar als wirkliches Wort des Besitzens und Begehrens!

Dein Franz.

August 1924

18.8.24

Liebes Gritli, Hanslis Geburtstag glaubten wir schon am 10. vergessen zu haben, als also noch reichlich Zeit gewesen wäre. Es war doch sehr nett, dass er hier war; übrigens weiss ich nicht, ob Ihr Rafaels Wüstheit richtig verstanden habt; sie war viel feiger als sie aussah; er probierte nur, wie weit ihn Hansli gehen liess; immer beim ersten Schlag sehr zaghaft und nachher erst wüst. – Vor Jahren schrieb mir Eugen aus Florenz, wo er mit Thea zusammen hauste, zum Erziehen gehörten eben zwei, ein Mann und eine Frau; darunter leidet Rafael jetzt, ich bin ja für ihn nur ein Hampelmann, allerdings ein herrlicher.

Hans war hier. Verhindert ihn doch nicht, zu euch zu kommen. Er ist ja jetzt gar nicht geistig, sodass Eugens Reconvaleszenz von der Geisteskrankheit des Semesters nicht gefährdet wird. Er ist jetzt nur Pfarrer, wie im Krieg nur Offizier. Ich habe noch nie jemand gesehen, der so von Gestalt zu Gestalt rüberwechselt und dabei garnichts vom Schauspieler bekommt. Im Gegenteil, er bleibt in der komischsten Weise er selber. Er spielt eben nicht, er lernt. Auch der sozialistische Agitator und der Professor gehören in die Reihe.

Fritzsches Brief und das Renitentenblättchen schicke ich zurück. Fritzsche hätte ich doch nicht gedacht. Messen denn alle mit andern Massstäben wie wir? Eugen selbst ja miteingerechnet. Es hat mich so erschüttert, dass ich das sel. Büchlein vom gesunden u. kranken Menschenverstand wiederhervorgeholt und gelesen habe, um zu sehen, ob da auch ein falsches Etepetete war. Ich finde es aber trotz der sehr schönen Sachen, die leider hineingeraten sind, noch ebenso zum Rotwerden wie damals. Ich werde es im Herbst Buber zeigen, um zu sehen, ob er auch das gutfindet; dann kann er es ja anonym verschicken, meinen Namen würde ich auch heute noch nicht dafür hergeben. Da der Stern ja nicht bekannt geworden ist, wird mich niemand erkennen. – Ich studiere jetzt grade an einem eben von der Universität gekommenen Philosophen den Zustand von heute; es ist nicht besser wie zu meiner Studentenzeit, sogar schlimmer; ich habe doch meine Professoren wenigstens nicht für Philosophen gehalten; daran hinderte mich schon mein Masstab, die Alten. Aber er macht die ernsthaftesten Unterschiede zwischen meinetwegen Nicolai Hartmann und Cassierer. Und kein Ding kann er selber sagen, sondern immer heisst es: “Riekertsch gesprochen”, “Husserlsch gesprochen”. Husserl muss übrigens doch auch ein Esel sein; ein, übrigens begeistertes, erstes Semester erzählte mir haarsträubende Sachen.

Der vorige Absatz ist eigentlich für Eugen, nur aus Kurgründen an dich; du kannst es ihm ja kurgemäss rationieren.

Berg und See durch Radio? ich lese mit blödsinniger Andacht die Bädernummern der Frankf.Zeitung, das ist ja was ähnliches.

Die Bauleute lege ich bei. Viel anfangen werdet ihr ja nicht damit können, aber es ist ja hübsch geschrieben.

Dein Franz.

25.8.24

Lieber Eugen, Muffs Brief ist wieder ein absoluter Beweis, dass du recht hattest und wir unrecht.

Dass dich die Bauleute interessieren würden, dachte ich eigentlich nicht; es war mehr eine Laune, sie beizulegen. Sie sind ja keine Theorie des Gesetzes, die liegt vorweg, die habe ich im Stern gegeben. Dieses allgemeinjüdische, nicht allgemeinmenschliche Muss stelle ich nicht noch einmal in Frage. Das Problem der Bauleute ist ein viel engeres; ein Generationsproblem, oder allenfalls ein Jahrhundertproblem: nämlich wie “Christjuden, Nationaljuden, Religionsjuden, Abwehrjuden, Sentimentalitätsjuden, Pietätsjuden, kurzum Bindestrichjuden, wie sie das 19.Jahrhundert geschaffen hat, ohne Lebensgefahr für sie und für das Judentum wieder – Juden werden können. Daher ist das Können hier der Grundbegriff, und das Müssen, sowohl das metaphysische als das biographische nur vorausgesetzt. Für den “Priester”, also in diesem Fall für den normalen Juden, gilt das freilich alles nicht; für ihn ist Müssen – und – Können in unlöslichem Amalgam Voraussetzung, die nicht weiter beredet zu werden braucht; nur das Einzelne interessiert ihn. Es gilt also alles nur für den Bindestrichjuden, der heimkehren will; du weisst aus der Coheneinleitung, dass es für den “Mann der Heimkehr” einen alten Ausdruck gibt; aber heut ist er der Träger eines ganzen jüdischen Jahrhunderts, also praktisch gesprochen einer Generation (denn die Verwirklichung säkularer Wenden [sic] geschieht im einzelnen immer in einer Generation) geworden. (Die Generationen verteilen sich über das Jahrhundert, dadurch kommt die heilsame Langsamkeit der historischen Entwicklung und manches andre.) Für Rafael z.B. wird, wenn Edith nicht schlapp macht, die ganze Frage nicht mehr existieren; er wird schon wieder in der normalen Alternative des Menschen unter dem Gesetz stehen, also: halten oder übertreten. Das Anormale der von mir erlebten und gemeinten Situation ist ja grade, dass diese Alternative garnicht mehr besteht, sondern an ihrer Statt die: zurück oder heraus. Also eine biographische statt jener moralischen Alternative.

Und nun geben die Bauleute eine Hygiene des Zurück. Ihre Pointe ist nämlich die Warnung vor dem Salto mortale ins Gesetz, der grade infolge der vorangehenden biographischen Krise nahe liegt. Sondern trotz der grossen Krise sollen immer wieder kleine, mehr oder weniger kleine, Ereignisse abgewartet werden, die durch ihre biographische Energie ein neues Ich – kann aktualisieren. So dass der Heimkehrer die ihm nun einmal gewohnte – unjüdische – Lebensform während der ganzen Heimkehr nicht aufgibt und dadurch am Leben bleibt.

Mein Plan war nicht unnötig, sondern, soweit meine Informationen über die Absichten des lieben Gottes reichen, war ich für meinen Plan unnötig. Das ist sehr was andres. Jetzt wird ihn eben ein andrer ausführen, wahrscheinlich E.Simon. Der hat ihn nämlich, ohne von meinem zu wissen, in genauester Übereinstimmung. Übgrigens zu deiner Frage: vor einem Jahr hat er die Bauleute, zu meiner schon damaligen Verwunderung, als den genauen Ausdruck seiner Situation empfunden: inzwischen ist er weiter nach rechts gerückt und will das Heimkehren nur als eine biographische Epoche gelten lassen.

Nochmal der Plan. Obwohl er im Keim erstickt wird, ist er in dieser keimhaften Gestalt das einzige, was von mir wirksam geworden ist. In all den Jahren hat niemand etwas andres an mir gesehen. Was Ihr seht, ist für alle Juden, mögen sie den Stern gelesen haben oder nicht, ganz unsichtbar geblieben. Doch auch für Strauss natürlich und auch für Koch. Beinahe auch für Buber, – mindestens hat ihn am Stern nur der dritte Teil interessiert. Und für Hallo, E.Simon und gar für alle die andern bin ich nur der Mensch, der das Gesetz wieder zu halten begonnen hat. Also ungelebt ist das garnicht, im Gegenteil viel gelebter als mir lieb ist. Diese Wir zu nennen, habe ich aber also doch ein gewisses Recht, zumal die andern mir doch in den letzten beiden Jahren sich äusserlich und innerlich etwas verflüchtigt haben.

Nun die Völker. Da ahnst du doch nicht, w i e anders alles Jüdische ist. Renaissancen, Lehre, Lernen, Gesetz – alles hat einen andern Stellenwert, auch wenn es die gleiche Zahl ist. Auch die Wirtschaft. Die ist zwar die Stelle des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen Juden und Völkern, und gewiss eines revolutionären. Der Sabbat i s t eine Weltrevolution, – daher der Name Marx.

Dienstag. E.Simon schickt mir den Brief zum Lesen und Weiterschicken, deinen auch noch, aber er lag noch nicht bei.

Rudi sag, dass ich ihn bitte, nicht zu kommen.

Rang, Muff und Gide lege ich bei. Gide ist Calvinist, du weisst.

Strauss hat mir die Bapperterwiderung gebracht. “Oh Eugen“!

Dein Franz.

September 1924

[12.IX.24]

Lieber Eugen, liebes Gritli, ich kam nicht zum Schreiben, vorige Woche aus Befinden, diese wegen Andrangs von Grosseltern noch bis Freitag. So nur das Eilige. Wir erwarten also Eugen am 17. Wegen R. an Mutter, die den Namen dabei zum ersten Mal hören würde herangehen ist doch unmöglich; ganz abgesehen davon dass sie “Papiere verkaufen” müsste, – nach kapitalistenscher Denkweise ein Unglück, dem man zwar um Försters schöner Augen willen, aber nicht aus vernünftigen Gründen sich unterzieht. Aber einen Monat können wir selber; wir haben ja wieder was auf der Bank.

Also bis zum 17.

Euer Franz.

16.9.24

Liebes Gritli, Eugen in seiner neuen Schule der Weisheit, du in deiner alten Schule der Torheit! Ich schreibe dir nach Säckingen, da findest du es bei deiner Rückkunft.

Es war wirklich schön an Rafaels Geburtstag. Er nahm den mirakelhaft geschenkreichen Tag höchst selbstverständlich; merkte zwar durchaus, dass es etwas Ausnahmsweises war, war am nächsten Tag nicht etwa enttäuscht dass es nun nicht mehr weiter ging. Er hatte das gleiche Kränzchen auf wie voriges Jahr, diesmal schon eitel. Sein Tisch stand in meinem Zimmer. Am Abend war noch ein massiver Esel von Strauss gekommen, den sollte er nicht mehr kriegen, aber bei seinem letzten Auftreten hatte er ihn gleich auf dem vollen Tisch entdeckt und begrüsste ihn als Mu. – Zu Hanslis aktiver Liebesgeschichte hat er schon ein passives Gegenstück geliefert, mindestens ebenso erstaunlich. Zwischen Elsa und Anna hat es neulich einen grossen tränenreichen Eifersuchtsausbruch über ihn gegeben; Elsa stürzte schliesslich weinend fort und verschwur das Wiederkommen; nach zwei Stunden kam sie, fiel Anna um den Hals und erklärte, sie hätte unrecht gehabt!

Ich habe übrigens zu seinem Geburtstag seinen Sprachbestand wissenschaftlich aufgenommen, – ein ernsthafter Spass, zu dem ich die schmerzfreien Stunden der Vorwoche verwendet hatte.

Über meine Fichtekommandierungen kommen von Mutter, Trudchen und dir so übereinstimmende Hilfeschreie, dass ich mich wohl geirrt haben werde. – Als ich jetzt den Stern las, war ich grade über den ersten Teil erstaunt, und von einigem im zweiten enttäuscht.

Die Bauleute sind mir, wohl durch Rafael, noch ein Stück lebendiges Fleisch, das noch weh tun kann. Ich merke es an meinem Verhältnis zu E.Simon, vielleicht dem einzigen wirklich noch in alter Weise schmerzensreichen, das ich noch habe. Etwa Rudi Hallo oder, um noch grösseres zu nennen, Rudi Ehrenberg verspüre ich nur wie man Schmerzen unter leichter Morphiumwirkung verspürt, – man weiss objektiv wohl, dass sie da sind und wo sie sind, aber es tut nicht weh.

Dein Franz

[Edith:]

Liebes Gritli, nur in aller Eile ein paar Worte. Der letzte der Feiertage ist am 21. Okt. Wenn Du also etwa am 17.,18. kämst, könnten wir die Tage doch gut zum Einlernen nehmen, sodaß ich gleich am 22. weg könnte. Freitag kommt Gertr. Hallo und wahrscheinlich gehe ich dann noch vor den Feiertagen ein paar Tage nach Schwalbach. Ich habe die Nachtschwester gleich bis Anfang November; ich brauche eine Ausspannung so gründlich wie es eben geht, denn ich bin maßlos herunter. Die Wochen ohne Schw. F. (Samstag kommt sie wieder) waren schön ruhig, aber sehr anstrengend. Denkst Du an den Rucksack? Wenn Du ihn findest, schick ihn mir bitte, ich brauche ihn vielleicht.

Grüß ganz Säckingen

Deine Edith

[von jetzt an nur noch diktierte Briefe]

November 1924

17.XI.24.

Liebes Gritli,

eben habe ich Deine letzten Überreste beseitigt, indem ich den Brief an Dienemann, den Du noch angefangen hattest, fertig geschrieben habe. Daraus siehst Du schon, wie besetzt die Tage waren. Mutter, Weizsäcker, Prager, Buber, Simon, dazu noch Fertigmachen von Gedichten für Buber. Und dazu Rafael, der doch bei der richtigen Mama noch mehr im Zimmer ist als bei der Vize.

Von Eugen kam ein neues Buch, ich habe es noch nicht gelesen.

Auch Du möchtest Dir also das mit der höheren Etage einreden. Alle tuen das, oder fast alle, um mich vor sich selber für ihr Nichtanmichherankommen zu entschädigen. In Wahrheit lebe ich doch auf der gleichen Etage wie “ihr”, nur in einem Käfig. Das mit dem andren Niveau stimmte nur 1922. Damals, etwa bis zum Beginn des Jehuda Halevibuchs, habe ich wirklich in täglicher oder genauer gesagt, wöchentlicher Erwartung des Todes gelebt; seitdem und jetzt ganz und gar nicht mehr, obwohl natürlich mein Verstand ganz genau weiß, daß jeden Augenblick das Klingelzeichen zum letzten Akt kommen kann. Aber das Auge in Auge hat aufgehört. Von Eigenschaften des lieben Gottes habe ich jetzt höchstens die, daß ich die Absicht merke, ohne verstimmt zu werden. Damit beantwortet sich ja auch Deine Frage. Es war, in aller Resignation auf das Unmögliche, doch schön, daß Du hier warst.

Dein Franz.

[Edith:]

Liebes, ich wollte Dir schon längst schreiben, aber es ist eine Hetz, Besuch, Arbeit und – die Nächte, denn Schw. Dina mußte zu ihrer kranken Mutter und kommt erst morgen, statt am 15. Die neue am 23. Also auf bald mehr.

Deine Edith.

23.XI.24.

Liebes Gritli,

Buber war hier zur Vorlesung. Es waren beglückende Tage für mich. Auch die Vorlesung (über Jes.53) scheint diesmal etwas ganz Besondres gewesen zu sein. – Ich habe Buber das Uboot für Düsseldorf lesen lassen; er fand es zu gradlinig, zu ohne imprévu, und das Gleichnis – es heißt doch Ein Gleichnis in einem Akt – mehr aus einer Predigt als aus der Bibel selber. Vielleicht hat er ja recht. Er will es aber noch dem Mann vom Bau zeigen.

Woran hat denn Hansli die Bosheit Gottes entdeckt? An den Damen? Die zu vermissen ist ja Eugensches Erbe; die Tochter! Oder muß man gar auf Tante Paula zurückgehen? Übrigens ist Rafael das von ihr geweissagte Kind, das Mapa sagt. Wirklich!

Dein Franz.

Dezember 1924

8.XII.24.

Liebes Gritli,

Bubers letzte Stunde ist mitstenografiert, aber ich fürchte, du würdest die Pointen nicht merken; es ist eben wirkliche Exegese, geniale Philologie. Warum lernst Du auch Englisch! eine Sprache, die der liebe Gott nie gesprochen hat, sondern nur Greda Picht.

Laßt Euch von der Bibliothek das im Handel vergriffene erste Heft der Zeitschrift Neue Deutsche Beiträge, hrsg. von Hofmannsthal geben. Es steht Rangs großer Aufsatz über Goethes Selige Sehnsucht drin, der zum Größten gehört, was ich kenne.

Ich lege Dir einen Brief einer Deiner Vorgängerinnen in Eugens Gunst bei, damit Du ihn ihm zeigst und er sieht, daß er Glück gehabt hat. So ein Mangel an jedem Realitätssinn, vorne, hinten und in der Mitte! Dabei diese Verbonztheit schon jetzt. Wo soll das hin, wenn sie erst gar nicht mehr die Frau eines sterblichen Privatdozenten ist. Ich habe ihr nur auf diesen Satz geantwortet, mit absichtlichem Mißverstehen ihrer Meinung, aber philologisch genau – Du kannst die Stelle in der Coheneinleitung nachlesen, Seite 59. Bitte beides gleich zurück.

Hansli gute Besserung.

Dein Franz.