Lenzerheide bei Chur 1. Januar 1928.
Liebe Tante Dele,
Die Zahl 1928 habe ich da oben zum ersten Mal geschrieben. Jedes Jahr kommt schneller heran und wird schneller verlebt und verschrieben. Aber doch ist es nicht gleichgültig, wie man sie anfängt und endet. Dies Jahr also beginne ich mittags um 12 mit diesem Briefe an Dich, nachdem Gritli Lotti Hansli und ich eben zusammen gefrühstückt haben. Dir und Fräulein von Kästner wünschen wir alle ein gutes Neues Jahr. Ein gutes. Die einzelnen Güter des Lebens die zu wünschen sind, fühlen wir wohl, aber soll man sie einzeln pausbäckig ausbrüllen? Ich glaube nicht, Denn „nur auf Mischung kommt es an.“ Wie es auch ist, das Leben, es ist gut—wenn wir es zu leben vermögen. Rudolf Bindings „Erlebtes Leben“ ist ein erquickendes Buch eben deshalb.
Dear Tante Dele,
I just wrote the number 1928 for the first time, up top. Every new year arrives, is lived out, and is written away more quickly than the last. But the way you end and begin them is important, so I begin this year with a letter to you—around noon, after Gritli, Lotti, Hansli, and I all had breakfast together. We all wish you and Fräulein von Kästner a good new year. A good year—what we probably mean is: all the individual good things in life worth wishing for, but should we shout them out one at a time like some obstreperous child? I don’t think so, since “only the true mix makes it happen.” Whatever life is like, it’s good—if we are only capable of living it. That’s just what makes Rudolf Binding’s “Life Experienced” such a refreshing book.
Mein Wiederauftreten in Cassel ist auch schon fixiert. Die Wuppertaler Geistlichkeit hat die Kühnheit gehabt, mir bereits jetzt für September 28 einen Vortrag aufzutragen. Ich habe angenommen, um so eine Reise „in den Westen,“ wie man in Breslau sagt, sicher zu haben. Hierbei fällt mir Dr. Prager ein, mit dem ich neulich nach jahrelanger Pause in Breslau wieder zusammentraf. Wir freuten uns beide. Er sekundierte mir in einem trostlosen Milieu (Schulreform), wo ich mit einem Vortrag über Erwachsenenbildung unangenehm auffiel. Ich liess mir gleich von ihm Mitarbeit an der Bubergabe versprechen. Diese ist ja nun wieder ein originaler Einfall, von dem ich…
My next appearance in Cassel is already set. The religious eminences of Wuppertal have been so bold as to book me now for a lecture on September 28th. I accepted, so as to be sure of what we in Breslau call a “trip West.” And that reminds me that I recently met Dr. Prager again after many years, in Breslau, and we were both glad. He stood by me in a hopeless environment (school reform), where I came to unpleasant notice with a lecture on adult education. Right away, I talked him into taking part in the Buber gift. This is another really original idea, and I look forward…
…gespannt den Ausfall erwarte. Ich war so stolz auf meinem Beitrag, dass es mich wurmt, dass Franz ihn nur eben duldet. Es ist komisch, dass es zwischen ihm und mir ewig so gesetzt ist, dass ich niemals eine Ahnung habe, wie er das oder jenes beurteilen oder ansehen wird. Wie es bei Galsworthy über den Franz so unangenehmen Rabbi Jesus von einem Reverend gesagt wird: He is incalculable.
Übrigens wie ich heut aufwachte, musste ich denken: komisch ist es doch, dass die Juden ihrem Mitbürger Jesus nun schon schon 1927 Jahre—mit Rafael zu reden—„bees“ sind. Ich ziehe daraus den Schluss, dass mir gewisse „Ämter und Zünfte“ auch nicht so schnell sich geben werden, wie ich manchmal naiv erwartet habe. Das „bees“ sein…
…eagerly to seeing what comes of it. I was so proud of my own contribution that Franz’s mere toleration of it rankled. Oddly enough, that’s just the way things seems to be between him and me, for ever and always: I never know how something will strike him or how he will judge it. As a Reverend in Galsworthy says of the Rabbi Jesus, so uncongenial to Franz: “He is incalculable.”
By the way, when I woke up this morning I found myself thinking: isn’t it funny, that the Jews have been—as Rafael would say—“middit” their fellow-citizen Jesus for 1,927 years. I conclude that certain “offices and guild-memberships” will not be offered me as quickly as I have sometimes naïvely expected—it’s confoundedly difficult to get really “middit” someone…
…zu erzielen, ist as sich eine raffiniert schwierige Sache. Hat man es erzielt, so wankt und weicht es nicht. und das Leben kennt keine Auflösung dieser geschürzten Knoten. Sie bleiben gesschürzt. Ich rechnete früher ja immer mit Harmonie, Versöhnung, Freudengeschrei am Schlusse des Dramas. Aber nein, sie bleiben „bees.“ Bei des Schimpfmatadors Below Tod musste ich das wieder denken. Er ist nun vergolten, unverprügelt, unwiderlegt gestorben.
Lotti hat uns Shakespeares Sonnette geschenkt. Da steht eine andere unwahrscheinliche Behauptung drin, die man wohl erst nach langem Leben beurteilen kann. Nach jahrelangem Zwist mit seiner Geliebten dichtet Shakespeare:
…but once you’ve managed it, there’s no swaying it or soothing it away. Life knows of no release for these tangled knots—they just stay tangled. I always used to count on the drama ending in harmony, reconciliation, and cries of joy. But no, people just remain “middit” each other. That was what occurred to me when Below died—that old matador of abuse has now passed on: well-rewarded, still un-assaulted and un-refuted.
Lotti gave us Shakespeare’s Sonnets. And they contain another improbable statement, which one can probably only judge correctly after a long life. After many years of acrimony with his beloved, Shakespeare writes this:
O benefit of ill! now I find true
That better is by evil still made better.
And ruin’d love, when it is first built new
Grows fairer than at first, more strong, far greater.
Dieser Vers macht mir viel zu schaffen. Meine Erfahrung widerlegt ihn. Andererseits bin ich doch geneigt, die Wahrheit beim Dichter zu suchen, „until his ink were tempered with love’s sighs,“ wenn seine Tinte mit Liebesseufzern durchtränkt ist, wie in den Sonetten. Und noch etwas kommt dazu. Shakespeares Behauptung, dass der Wert des Bösen darin besteht, das Bessere herauszureizen, und dass wieder erneuerte Liebe schöner wächst, kräftiger und grösser, berührt sich mit einem Gedanken in meinem Alter der Kirche, in “Leben, Lehre, Wirken,” wo ich gegen Franz polemisiere. Ich sage dort, dass der Erwachsene nicht imstande ist, einfältig zu wandeln mit seinem Gotte. Er könne vielmehr nur wieder einfältig wandeln. So kann auch der…
This verse continues to trouble me. My experience refutes it—on the other hand, I am inclined to search for truth among the poets, “until his ink were tempered with love’s sighs” as it is in the Sonnets. And there’s something else: Shakespeare’s statement that the benefit of “ill” consists in its tearing up the better, and that renewed loves grows in greater beauty, power, and scope, touches on a thought in my Alter der Kirche, in “Life, Teaching, and Influence,” where I polemicize against Franz. I say there that the adult is not capable of walking humbly with his God. He can at most walk humbly again. Just the way an…
…Erwachsene nicht ein Kind sein, sondern nur werden (was nicht das selbe ist wie „sein“) wie die Kinder.
Und hinter dem Sonnett und meiner Abweisung der Franzschen These, als sei das Leben nach der Schau des Sterns der Erlösung (letztes Wort des „Sterns“) einfach das selbe Leben wie vor der Schau—der Aufsatz ICHTHYS ist als Kommentar zu dem letzten Satz des Sterns vor fünf Jahren entstanden—also hinter diesen Anwendungen steht die grosse theologische These von der „felix culpa“ des Menschengeschlechts, die bei Augustin und seitdem in der Osterliturgie steht: Glücklich die Schuld des Menschengeschlechts, die solch eine Lösung gezeitigt hat!
…adult can not be a child, but only become like a child (which is not the same thing as “being” one).
Behind this sonnet and my dissent from the Franzian thesis that life after the vision of the star of redemption (the last word of the “Star”) could be simply the same life as before the vision—the essay ICHTHYS came to me five years ago as a commentary on the last sentence of the “Star”—behind these uses then stands the great theological thesis of the “felix culpa” of mankind, which is to be found in Augustine and in the Easter liturgy ever since: “Happy the guilt of mankind that required such a solution!”
…und täglich wieder zeitigt!
Dieses Wort von der felix culpa ist den Kirchenstrengen immer anstössig gewesen. In seiner Formulierung in der Liturgie hat es über dies sein Vorbild bei Ovid in einem Liebesgedicht, das sich mit Shakespeares Sonnet in eine Ebene suchen lässt.
Hier kommen nun so viel Widersprüche und Merkwürdigkeiten zusammen: Die Behauptung, dass zerborstene Liebe wieder heil wird, steht gegen alle Erfahrung. Diese lehrt, dass Knoten geschürzt bleiben und dass die Juden seit 1928 Jahren bees sind. Meine theologische Einsicht steht also gegen meine praktische. Eugen gegen Franz, Augustin, Ovid, und Shakespeare stehen zusammen gegen…
…and requires it anew every day!
This word of the felix culpa has always been a stumbling block for strict church people. Beyond that, its formulation in the liturgy has its precedent in a love song of Ovid’s, which may be found on the same level as Shakepeare’s sonnet.
So many contradictions and curiosities converge here: The claim that shattered love can be whole again goes against all experience. Experience teaches us that knots stay tangled—and that the Jews have stayed “middit” Jesus for 1,928 years. So my theological insight runs contrary to my practical insight. Eugen against Franz, Augustine, Ovid, and Shakespeare—they all stand together against…
…die Orthodoxie, Persönliches und Allgemeines mischen sich so, dass ich bedaure, nicht das „felix culpa“ darstellen und in irgend einer Form an den Mann bringen zu können. Es wäre der bessere Beitrag für die Franzfestschrift voriges Jahr geworden. Deswegen erzähle ich Dir diese etwas verwickelte, aber nur scheinbar bloss philologische Geschichte. Ich glaube, die „Liebe wird in der Tat grösser und besser,“ nur nicht immer zwischen den Selben.
Lotti fährt Donnerstag, ich Sonntag. Gritli und Hansli bleiben noch und haben dann hoffentlich den Schnee, der bisher fehlt. Aber schön ists trotzdem hier. Anna, die verheiratete, freilich zieht es zu ihrem Manne. Sie wird uns im Lauf dieses Jahres endgültig verlassen, eine wahre Revolution für unsern Haus- und Lebensstand. Wie lautet der nächste Akt? Mit diesem Fragezeichen schliesst zweckmässig der Neujahrsbrief
Deines alten
Eugen
…orthodoxy. The personal and the general are so confused that I am sorry not be able to portray the “felix culpa” and in some form get it across. It would have been a better contribution to last year’s Festschrift for Franz. That is why I am telling you this somewhat complicated, but only apparently merely philological, story. I believe that love does in fact become greater and better, just not always between the same two people.
Lotti is leaving Thursday; I leave Sunday. Gritli and Hansli are staying on and will, I hope, have the snow that we have missed so far. But it is beautiful here for all that. Of course Anna [Beinert Henke, their housekeeper since 1923], as a newly-married woman, feels drawn to her husband. She is finally going to leave us in the course of this coming year—a real revolution in the state of both our house and our lives. What does the next act look like? That question mark brings to a convenient end the New Year’s letter of
Your old
Eugen