Gritli Letters (Gritli Briefe) 1914

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März 1914

[März 1914?]

L.R.,

wissen Sie, dass meine Handschrift von Ihren nächsten Verwandten für die Ihre gehalten wurde?

wissen Sie, dass Rudis Handschrift von seinen Schwägerinnen mit meiner (scil.: Handschrift) verwechselt wurde?

wissen Sie – aber das wissen Sie wohl noch.

An all diesem bin ich unschuldig.

Nicht unschuldig hingegen bin ich an meiner Briefverbummelei, die Sie vergebens durch kräftige postalische Rippenstösse mit obligaten Strafportoentziehungen zu stören suchten.

Das schrecklichste aber ist, dass ich auch heute mich zu diesem Brief genaubesehen nur aufschwinge in Entgegensehung einer sofortige Antwort Ihrerseits. Nämlich die Leipziger Universitätsbibliothek, die Allah verbrennen möge, verlangte von mir am 8. August die binnen vierundzwanzigstündige Rückgabe des 11. Bandes von Hegels Werken (enthaltend den ersten Band der “Geschichte der Philosophie”) – welches Verlangen Mitte Februar via Kassel an mich abgesandt wurde. Darauf ersuchte ich, nach so langem Warten auch noch 14 weitere Tage zu warten, weil ich erst dann in Kassel nachsehen könne, ob das Buch noch in meinem Besitz sei. Das ist es nun nicht. Und ausser einer sehr möglichen Schlamperei der betr. Leipziger Behörde sehe ich nun nur noch die eine Allenfallsmöglichkeit, dass ich das Buch bei meiner wie stets plötzlichen u. traumhaften Abreise seiner Zeit Ihnen anvertraut habe. Dass etwas derartiges, nämlich Zurückgabe einiger Ihnen gehörigen Bücher an Sie und gleichzeitiger Übermittelung des betr. Bibliotheksbandes an Sie meinerseits, stattgefunden habe, schwebt mir mit einer etwas verdächtigen Bildhaftigkeit vor. Sollten Sie bei Öffnung Ihres inneres Auges ein ähnliches Bild erblicken, so schreiben Sie es mir, damit ich dann die Leipziger auf April vertröste. Schreiben Sie mir also darüber, positiv oder negativ, auf jeden Fall; an Tinte leidet auch unser “Säculum” keinen Mangel.

Soviel von Geschäften. Ihre Kritiken habe ich gelesen und sehr gut gefunden; reizend ist die Epitaphierung Krammers. Die Gierkesche habe ich mir durchgesehen. Auf O.Viktor hat sie natürlich Eindruck gemacht. Beckerath sagt, der junge Gierke wäre als Esel bekannt.

Stutzens Anmerkung ist eine grosse Kanone.

Kantorowiczens 10 Gebote – optime! es gehörte die ganze Jungfräulichkeit eines Erst = im = August = Dazugekommenen dazu, um diese Forderungen an Sie zu stellen und durchzusetzen. Heil ihm! aber ich habe seine Eltern gesehen und verstehe nun alles, was ich an ihm nicht mag.

Rudolf samt Helenen kommt um den 15. von seiner Paris betreffenden Hochzeitsreise hierher, zwecks Arbeiten auf der Kgl. Bibl. (für einen Beitrag zu den “Ergebnissen der Physiologie”), und bleibt bis Anfang April.

Sie kommen im April? Die Worte Ihres Herzens über Beckerath sind Ihnen nicht entfremdet; ich habe diese Münze nicht ausgegeben und gebe sie Ihnen hierdurch mit bestem Dank für freundliche Überlassung wieder zurück.

Ihr Freund Putzi kommt im Sommer hierher; ich sah ihn neulich in Kassel; er ist um vieles angenehmer geworden. Allerdings bedeutet das zu grösserer Ruhe und sachlicher Fülle Kommen bei ihm zugleich eine arg geschwinde Verakademisierung. Aber bei seiner ganzen doch = wohl = Bedeutungslosigkeit ist das ja wohl die bessere Unschädlichmachung gegenüber der anderen Möglichkeit des Journalistentums. Wieviel Gedichte auf Christus er inzwischen gemacht hat, hat er mir nicht verraten.

Mit Hans hatten Rudi und ich einen gleichschenklig = dreieckigen Briefwechsel von ziemlicher Merkwürdigkeit. Wenn Sie herkommen, kriegen Sie ihn (wenn Sie mögen) z.T. mitgeteilt. Schriftlich ist es ein bischen umständlich, denn es geht über fast 4 Monate, etwa jede Woche ein Schuss aus allen drei Geschützen. Überhaupt habe ich, trotz Brieffaulheit, mehr an Sie gedacht als Sie an mich und kenne Sie nun in Ihrem voritalienischen Zustand recht gut. Ob Italien viel geändert hat (ich vermute: nein), darauf bin ich nun neugierig; schreiben Sie mir genau, wann Sie vermutlich hierher kommen, damit ich es mir einrichte, dass ich dann auch hier bin. Und halten Sie das Fetzenhafte dieses Briefs zugute dem heutigen Kopfweh

Ihres F. Rosenzweig.

[Poststempel:16.5.14]

Was sagen Sie zum Wetter?

Ich komme 4[:?] 27

Der Staat war wirklich einmal, so wie Sie dachten. So primitiv ist er erst seit kurzem (1789 – das “19. Jahrh.” war nur eine Kamphereinspritzung).

Wenn man die Plengelektüre einige Zeit hinter sich hat, vergrössert sich das “beinahe” des um den Hals fallens. – Ich lese immer noch Schweitzer – da ist kein “beinahe” dabei.

Auf Wiedersehen

auf Schimpfen

auf Beschimpftwerden

Ihr

F.R.

August 1914

[Anfang August 1914?]

Dienstag.

L.R., die Sache läuft. Zwar Schmidt war wirklich “feige”. “Die Verantwortung ist mir zu gross”. Er glaubte schliesslich mir etwas Gutes zu tun, wenn er sich den Brief ausbat, um ihn an – Jung (der nat.lib. Esel von Leipzig) zu schicken, noch am gleichen Abend. Ich ging sehr deprimiert fort, traf bei Beckerath Gerlach (Priv.doz., Herausgeber des Staatsbürger), wir entdeckten unsre Herzen, ich nahm ihn beim Schopf, schleppte ihn, von 1/2 1 – 7 nachts 4ter Klasse, nach Berlin, Dousche, Marmelade, Naumann x). Dem war die Sache neu, er versprach schliesslich, von Gerlach furchtbar bearbeitet, die Sache sich zu überlegen u. in der Fraktion zu besprechen. Heut früh hat er noch einen Brief von Gerlach gekriegt – er solle es aber auch tun und – “Sie müssen” – auch mit Nat.liberalen sprechen. Dann vergeblich versucht Paasche zu finden, Bassermann zu treffen (war nicht da), Erzberger liess sagen: kommen Sie schriftlich. Paasche, den Gerlach von seinem Sohn her kennt, bekam einen Brief mit dem praktischen Hauptpunkt (nicht Slawen, sondern Moskow.), von Rudi kuvertiert u. unterschrieben mit Zusatz à la “doppelt hält besser”. Endlich war Gerlach bei Kiessling (kathol. Geistl., “Geschichte der Centrums-partei”): “ich habe eine andre Idee: Annexion Polens als Reichsland” {!!!!} Gerlach: “da wir also im wesentlichen einig sind, so gehen Sie zu Erzberger”, was er nach vielem Sträuben endlich auch versprach. Die Kurie würde schwer schnell etwas tun, wäre noch misstrauisch gegen Preussen wegen Breslau. Erzberger speziell sei überhaupt ohne spez. kirchenpolit. Verständnis.

            So war also, trotz Schmidts Versagen, gestern Abend, ziemlich das Beabsichtigte getan.

            Gerlach wird mit mir oder neben mir das Flugblatt schreiben (er denkt: nur Thesen). Peters suchte ich in Lpz., er kann nicht. Aber er u. Beckerath zusammen werden durch den Antihauptmann die Zeitungssache dort deichseln.

            Jetzt werde ich folg. Text durch das Pressebüro des Ausw. Amts oder durch v. Kessel an die Zeitungsredaktion zu bringen suchen – wie weiss ich noch nicht, aber spätestens bis morgen.

            | Es ist dringend erforderlich, dass die gesamte Presse in der

| nächsten Zeit ganz abgesehen von ihrer Stellung zum

| slavischen Rasseproblem den realpolitisch momentan unbedingt

| notwendigen Unterschied zwischen Slawentum (Polen u.s.w.)

| und Russentum (“Moskowiter”) durchführt. Über ein Fünftel

| der beiden verbündeten Armeen ist slawischer Rasse; vor uns

| liegt Polen. “Panslawismus” heisst in russischem Munde

| nichts weiter als Herrschaft der moskowitischen Knute über

| die slawischen Kulturvölker

x) ich hier wie beim folgenden nie selber mit, sondern bloss hinter der Szene instruiert.

[Schluss fehlt]