Contents
- Januar 1917
- Februar 1917
- März 1917
- April 1917
- Mai 1917
- Juni 1917
- Juli 1917
- August 1917
- September 1917
- Oktober 1917
- November 1917
- Dezember 1917
Januar 1917
[Eugen:]
1.Januar 1917
Lieber R
Ich schrieb Ihnen gestern de persona auctoris Putziani. Heut komm ich zur Sache selbst, die ich unrecht hatte, gestern weniger zu betreuen als ihren Ort zu betrachten: Was wird aus der Deutschen Schule, vor allem aus der Reichsschule?? Denn die brauchen Ihre Schrift dringend; im Ganzen und in fast allen Einzelheiten. Wollen Sie den Schatz uns freimachen und gönnen, so brechen Sie den Bann, der darauf gelegt ist durch den Juden. Erlauben Sie dass man diese Stelle tilge und die Schrift als das druckt was sie ist: eine weltliche, geistige Angelegenheit, die seit 1789 1870 1871 ohne geistliche Zutat verhandelt werden kann – wenn nur, ja wenn nur der Verfasser ein Christ ist oder doch sein könnte.
Orthodoxissime, geben Sie Ihr Imprimatur. Wird es allerdings ohne Ihren Fluch abgehen?
Ihr
Eugen Rosenstock
12.I.17.
L.R.,
auszusetzen nicht wie Moses ausgesetzt wurde; ich hätte keine Mirjam in die Nähe gestellt, dass sie sähe was aus dem Kind würde – sondern wie Ismael mit seiner Mutter Hagar ausgesetzt wurde, in die Wüste, auf Nimmerwiedersehn und ohne Zukunft wenn sich nicht ein Engel vom Himmel selber seiner annehmen würde (denn dass, wie es nachher heisst, ihn dennoch beide Söhne, Isaak und der, ältere aber verheissungslose, Ismael, begraben würden, konnte Abraham nicht ahnen, als er Hagar verstiess). Dies ist mein Gleichnis (und nicht Ihr scheussliches von den beiden Geschäften, – warum das?) und deshalb konnte ich meiner Mutter erlauben, für den Fall, “allgmeinen Wunsches” das Putzianum in die Öffentlichkeit zu lassen. Das ging so gut und so schlecht wie es beim Schellingianum oder beim Hegelbuch geht. Der “allgemeine Wunsch” ist freilich Voraussetzung; ich würde so etwas nie dem Publikum aufzwingen, also nie etwas dafür tun. Deswegen kann von mir aus das Sätzchen wenn es so gefährlich ist ruhig fortbleiben; ich hatte es hineingesetzt nicht etwa wie man in Kassel wohl gemeint hat aus Bekennerwut, sondern wie Sie es richtig aufgefasst haben: um die Lücke, die ich lassen musste wenigstens als solche zu bezeichnen. Wenn Sie also meinen, dass es auch so fragmentarisch geht, so ist es gut. Von mir aus ist es ja in jedem Falle Fragment, weil eben alles, wobei man nicht selber dabei bleibt (und sieht was aus dem Kindlein wird) schon dadurch Fragment ist. Übrigens würde die gefährliche Stelle bei Jäckh oder Grabowskij oder selbst bei Naumann oder auch bei Rade nicht so gefährlich wirken wie grade bei Diederichs. Ich habe keine rechte Vorstellung wie lang das Ding überhaupt ist und ob es, sei es auch in Fortsetzungen, in irgend eine Zeitschrift hineingeht. Gegen Kürzungen hätte ich nun, nachdem ich diese trotz ihres bloss negativen Inhalts wichtigste Kürzung zugegeben habe, gar nichts mehr; es ist nun, da ich ja ausserdem pseudonym bleibe und weiter als “einen Bogenschuss” entfernt, gleich was wird (“ich mag nicht zusehn, wie das Kind stirbt”). Auch Absätze können ruhig hineingemacht werden, wenn es nötig ist. Aber wenn Sie wirklich noch weiter die Rolle des Engels spielen wollen, der den Weg zum Verlegerbrunnen zeigt, – so setzen Sie sich mit meiner Mutter in Verbindung, damit es keinen Mus giebt (im Falle Diederichs hat es wohl schon “Mus” gegeben, denn gleichzeitig hat Hans an Buchwald, den Lektor von Died., geschrieben!).
Vielen Dank für den famosen Aufsatz zur Entstehung der Prosa im Deutschen. Aber ich bin froh, dass Sie jetzt so weit sind, das Wesen solcher Dinge auch ohne den Nürnberger Tand der “Anmerkungen” und ausserhalb des Spielwarenladens (für grosse Kinder) Savignyzeitschrift (et hoc genus omne) auszusprechen. Mag die Spielwaren-branche sehen, wo sie dabei bleibt.
Für wen war der gereimte Neujahrsgruss ursprünglich? “Sendschreiben an meine Freunde im Feld” oder “Sylvesterfeier der San. Komp. 103”? Und darf ich es meinen Eltern weiterschicken? Mir selber ist darin nur wieder aufgegangen, wie abwegig ich sitze, sowohl in dem was Sie wissen, als auch in anderem was ich nicht sagen kann. Ich bin so ganz und gar nicht Ihr “Freund im Feld”, sondern nur (trotz aller groben und feinen Anpöbelungen) schlechtweg IhrFreund
- R.
Februar 1917
[Eugen:]
3.II.1917.
Lieber Freund,
Ich muss Ihnen tatsächlich nach dem bösen Brief von neulich abbitten. Für eine Weile ist es meine letzte Proselytenmache gegen Sie. Sie sollen recht bald ein MS. erhalten, worin sie den Grund dafür wiederfinden werden. Ich stehe ganz unter dem Eindruck der U – Boot Note. Sie bedeutet die erste Tat zur Vereinigung Europas einschliesslich Englands zu seiner Gestalt (Siehe Annahme der europäischen – nicht russischen!! – Zeitrechnung in Byzanz): Der Ring von der Gefangennahme Richard Löwenherz über die 5 grossen Revolutionen Europas: 1200-46 Papsttum, 1517-47 Volkstum, 1649-88 Reichtum, 1756-63 Kaisertum, 1789-93 Stadttum (oder: Klerikalismus Nationalismus Kapitalismus Militarismus Sozialismus) schliesst sich mit diesem 1.II.1917, an dem wir England den Krieg erklärt haben; das is der Riesenunterschied gegen 4.Aug.14.
Vergleichen Sie Dante und Schiller, Goethe und Thomas, Avignon und 1804, 1314 und 1789, 1246 und 1870 und Sie haben in der Geschichte das was es sonst nicht zu geben scheint: einen Kreis, [Zeichnung] mit rückläufigen Bewegungen, weil diese erste Bogenhälfte eben nur vorläufige Bewegungen waren. Mein opus heisst Die Christliche Zeitrechnung, und wird allen Mathematikern angelegentlich als neue Rechenart gegenüber der Raumrechnung empfohlen. Das π darin sind die Juden. Europa ist πr. Und jeder Europäer πr[darunter:] x, z.B. Franz Rosenzweig und sein Freund
Eugen Rosenstock
März 1917
[Eugen:]
5.III.1917
- R!
Seit zwei Monaten kein Wort, c’est inoui. Infolgedessen verweigere ich auch jedes Konzil der Ökumene.
E.
[Anfang März 1917]
L.R., vielen Dank für das philosophische Specimen. So ähnlich hatte ich es mir gedacht. Dafür kriegen Sie die Briefe “über” Luther, eine ganz grosse Überraschung nach allem was ich zuvor davon gehört hatte. Komischerweise hat sogar Frau Strauss noch am besten berichtet, weil sie den Roman der darin steckt gesehen hat. Eben weil es Romanform hat, ist es ganz wirkliche Philosophie von heute. Ich bin noch ganz erstaunt, und Sie werden es auch sein. – Scheibert [?] ist herrlich, ich wusste überhaupt nichts von ihm. Haben Sie auch das grosse Buch von ihm, was er damals gelernt [?]? Kann man es noch kriegen?
Also nun zu Ihrer Rede. Ich will Ihnen auf den einen von den beiden Sätzen antworten, wo Sie mich besonders ansahen, und zwar auf den harmlosen. Sie meinen, ein Kenner des Semitischen müsste den gemeinsamen Grund der jüdischen Beschränkung und der “arabischen” Ausbreitung zeigen können. Ich glaube nicht (habe es übrigens doch versucht, aber nichts gefunden), es ist im Gegenteil wahrscheinlich, dass irgendwo da wo die Sprache Begriffssprache wird, die verschiedenen Richtungen ihre Spuren in ihr eingezeichnet haben. Z.B. dass im Judentum der Eigenname Gottes (das “Tetragramma-ton”) Begriffswert bekommen hat (vgl. die üblichen “Übersetzungen” κυριος u.s.w.), während umgekehrt im Islam das Begriffswort Gott mit dem Artikel in grammatisch ungebräuchlicher Weise zum Eigennamen “Allah” – statt alilah – verschmolzen ist. Aber das liegt doch auf einem andern Niveau, es ist sozusagen weniger geheimnisvoll, obwohl genau so jenseits von menschlicher Willkür wie dieursprüngliche prästabilierte Harmonie von Volkssprache und Volksgeist. Dass Sie solche ursprünglichen Beziehungen (gewissermassen aus der Naturphilosophie der Sprache) bei der offenbarten Religion (bzw. bei ihrer Karrikatur, dem Islam) überhaupt nicht leicht auffinden werden, liegt daran, dass die Offenbarung über = “ethnisch” ist. Daher der Volksgeist, den wir in der Sprache erkennen, höchstens die Art bestimmt, wie das Volk die Offenbarung aufnimmt und verarbeitet. Die Offenbarung selbst spricht eine Sprache, die es “noch gar nicht giebt”, die erst dann Menschensprache wird, wenn die Fülle der έθνη eingegangen ist (vgl. den Profeten: “ich will den Völkern eine gereinigte Lippe geben”). Deswegen tun Sie den Arabern Unrecht, wenn Sie sie für den Islam verantwortlich machen; die Araber sind ein geniales έθνος, dem Islam zumTrotz. Wenn Sie z.B. die philosophische Leistung der Araber (auch ein Stück dieses “trotz dem Islam”, wenigstens soweit es gross ist), wenn Sie diese Leistung damit in Verbindung bringen wollen, dass das Altarabische die einzige semitische Sprache ist, die es zu einer der griechischen, lateinischen deutschen gleichwertigen syntaktischen Ausbildung gebracht hat (und zwar, worauf es ankommt, weil sie sich dazu bereitgehalten hatte, indem sie wenigstens mündlich – in der, vokallosen, Schrift kommt es nicht zur Bezeichnung – sich wieder alseinzige unter allen semitischen Sprachen Kasusendungen und Konjunktivformen erhalten (bzw. ausgebildet) hat) – wenn Sie das sagen, dann bleiben Sie in der Naturphilosophie der Sprache. Dahin gehören auch Naturtatsachen, deren Entstehung wir ganz genau verfolgen +) können, wie z.B. die Unmöglichkeit, im Englischen zu philosophieren, weil es, durch die Verarmung seiner Formen, keine Möglichkeit zur Periodenbildung bietet (die Periode ist Gelenkverbindung von Gedanken; Shakespeare baut cyklopisch, d.h. haltbar aber mörtellos, aus Gesichten, vgl. Gundolfs Analyse des Hamletmonologs in dem Shakesp.buch). Hingegen das andre (wie vorhin in dem Beispiel mit den Gottesnamen) dahin gehört alle Sprachbildung, die auf dem schon gegründeten Boden des Geistes (der Gemeinschaft) wächst, wie z.B. um etwas zu nennen, was wir jetzt täglich beobachten, die militärische Amtssprache.
Nun ist es klar, dass dieser “gegründete Boden des Geistes” eben selber wieder auf Sprache, etwa im eben genannten Beispiel, auf der Sprachform des Befehls, gegründet ist, und so alterniert in der Wirklichkeit immerfort Gemeinschaft und Sprache (“Geist” und “Natur”).
Was tuen Sie nun?
Sie bannen diesen Pulsschlag in das Gehäuse eines einzigen Symbols (daheim und draussen, Sprache des Hauses, Sprache der Agora) und tragen rings um dieses Symbol alle Wirklichkeit als Illustrationen zusammen. Das ist ihre Denkform und da Sie mir einen lebendigen Akt dieses Denkens hinlegen, haben Sie ohne weiteres und unwidersprochen Recht. Wer ausgeführt hat, hat immer Recht. Ich kann mir nur klar machen, worin sich mein, unausgeführter, Denkwille von ihrem wirklichen Denken unterscheidet.
Wohl darin: ich nehme die Wirklichkeit gefährlicher, sie muss ganz heran und so “wie sie geritten und gefahren kommt”. Daher fällt mein Denken immer wieder in die historische Form, weil es die einzige ist die “Vollständigkeit” zu gewährleisten scheint. Selbst das Symbol muss dabei so antreten wie es “geritten und gefahren kommt”. Z.B. wenn ich über Sprache denke, so frage ich nach “Ursprung” und “Ende” der Sprache – ich merke, dass ich dies alles Ihnen schon einmal geschrieben habe. Danach muss es also wahr sein.
[Pfeil auf das Geschriebene:] das sind Spritzer von einem mazedonischen Schneeball – immerhin eine Seltenheit.
+) Übrigens gewiss ist die Geschichte ein Experiment, aber man sieht grade daraus, was für ein ungeheurer Schritt es war, als der Mensch das Experiment an der Natur erfand, ein deinon im Doppelsinn des Worts.
7.III.[1917]
Seitdem ist Schnee keine Seltenheit mehr gewesen und dieser Brief ist liegen geblieben; es war arg kalt; wir sind hier über 800 m hoch. Von Ihnen kam Ihr Doppelkartenbiref von Anfang Februar, das darin versprochene Manuskript noch nicht. Nein ich war wirklich nicht böse über Ihren grossen Brief, nur etwas auf den Mund geschlagen, weil es ja eine Abhandlung und kein Brief mehr war. Und auch das ad hominem darin was mir in einem Brief allerdings, nach unserm ganzen Schreiben, erschreckend gewesen wäre, war es in der “Abhandlung” nicht. Denn das erwarte ich gar nicht, dass Ihnen dies Persönliche zwischen uns schon bis in Ihr Gedankliches zwischen Ihnen und der Welt hineinspukt. Dazu ist es, von Ihnen aus gesehn, zu nebensächlich. Ihnen kann und muss es genügen, wenn Sie die Zahl π in Ihre Rechnungen einsetzen (πr = Europa). Für den Juden aber kommt – ich drücke es von Ihrer Mathematik her aus – der besondre Fall r = 1 in Frage, wo also die ganze Mannichfaltigkeit “Europas” wieder auf ihren Ursprung zurückgeschoben ist, und nun lautet seine Gleichung: = π [darunter:]x; er ist also, da x ja die persönliche Variable sein soll, ganz und gar angewiesen auf das π, und dass man dieser Grösse gegenüber nur die Wahl hat, sie entweder so zu lassen oder das ganze Leben und länger auf ihre Ausrechnung zu wenden, lehrt die Geschichte der Mathematik. Dem Christen kann und muss “π” genügen, denn er glaubt das was π bedeutet (die Zurückführbarkeit der Krummen der Schöpfung auf die Graden der Offenbarung (vgl. Jes.40, ca Vers 5) und kann nun damit fröhlich drauflos rechnen und konstruieren. Der Jude aber ist bestimmt (“erwählt” sagen wir, “verdammt” sagt ihr), jenem Glauben, von dem Ihr ausgeht, die sinnliche Bestätigung zu geben, indem er π durch alle Dezimalen hindurch, ohne ein Ende absehen zu können und doch der ständigen Richtigkeit gewiss, auszurechnen hat. Bis (ich weiss nicht, ob hier das Gleichnis hinkt, nämlich ob es vielleicht möglich ist die Aperiodizität eines Bruchs bei unendlich viel Dezimalen zu beweisen) also bis eines Tages der Bruch periodisch wird und die Weltgeschichte in das Reich Gottes mündet.
Können Sie mir mal kurz schreiben, was Ihr Mannschaftshaus eigentlich war? Nämlich hier war offenbar etwas ähnliches beabsichtigt: eine “Vortragstruppe” (teils Ulk =, teils wissensch. Vorträge) “für Truppen in Ruhestellungen”. Ich hatte mich auf die Anfrage gemeldet; allerdings, da ich imKorpsbezirk der Einzige geblieben bin, scheint nichts daraus zu werden. Wenigstens hat sich das AOK auf mein wunderschönes Menü ausgeschwiegen. Aber, immerhin, falls die Sache doch noch in Fluss kommen sollte, wüsste ich gern, was Sie eingerichtet hatten.
10.III.[1917]
Von hause hörte ich, dass wieder etwas an mich unterwegs ist, ein “Putzianum”? Nun soll dieser Brief aber schleunigst fort. Auch eine Kritik über Ökumene wird erwartet; ich bin schon im voraus überzeugt; ich war ohne eigenes Urteil darüber.
Ihr F.R.
Rudi lässt Sie bitten (wenn es Ihnen möglich ist), Ihr Exemplar seiner “Predigten” an Hedis Adresse zu schicken.
11.III.17
L.R.,
Sie haben natürlich recht. Ökumene ist unangesehen gelehrt und “schön”, sodass über dem Vergnügen des Darstellens die ernsthafte Klarheit des Fragens und Antwortens (was Sie naturwissenschaftliche Methode nennen oder vielleicht, aus dem Wissen dass sie bei den Naturwissenschaften leicht zur Wahllosigkeit des Fragens und Antwortens entartet, Methode der technischen Wissenschaften) verlorengegangen ist. Z.T. sind wohl Rankes grosse Mächte schuld daran, obwohl Ranke – weil er nicht nach Jahrhunderten sondern nach Staaten gliedert – viel entschiedener zu seinem Ziele rollt (das kokette “nur, wie es gewesen” ist bei den Grossen Mächten noch sichtbarer eine Unwahrheit wie bei allen andern Rankeschen Büchern; es ist nur aus der Defensivstimmung gegen Leo gesagt und zu verstehen). Dabei stecken wohl dennoch die Fragen und Antworten alle in dem Aufsatz drin, nur habe ich – ohne es zu wollen – meine eigenen Spuren verwischt, aus böser Lust an der schönen glatten Bildfaçade.
Was habe ich denn gefragt? Nicht nach den heutigen Grossmächten zunächst, sondern nach dem Imperialismus, seiner äusseren und inneren Form. Geglaubte Voraussetzung: weil diese Dinge auf unsrer und Gottes Erde geschehn, so müssen sie wiederklingen in den Publizistiken der Kriegsausbrüche und sich abbilden in den Grenzvereinbarungen der Friedensschlüsse. Es wird nach dem Imperialismus gefragt, also fängt die Geschichte da an, wo das Imperium ausgeht und die Staaten anheben und dadurch über das Imperium die Pluralität des Begriffs (“ismus”) kommen kann. Nur kann, durchaus noch nicht kommt. Denn noch reitet der tote Cid “Imperium” zur Schlacht und als Karl V gefallen ist, da suchen die siegreich übriggebliebenen Heidenstaaten noch nach den Stücken seiner Rüstung (Ferdinand, Ludw. XIV.) Erst im 18. Jahrhundert wagen sie es, sie selbst zu sein und ohne die Prunkrüstung der lateinischen Heiligkeit miteinander zu fechten. Und hier könnte die Weltgeschichte +) zu Ende sein und es ist das Wesen der Aufklärung, dass sie es nicht anders weiss als ob es so wäre. (Deswegen sind alle ihre Denkmale und Überreste für uns so verblüffend; es ist fin = du = monde = Stimmung “und kein Ende”.) Aber die Weltgeschichte, die diesem Augenblick sein Denkmal setzte in dem einzigen reinen Bestätigungskrieg, der je geführt worden ist, ist nicht zu Ende, denn nun zeigt sich, dass der tote Cid nicht bloss einen gewaltigen Körper und eine prunkende Rüstung besessen hatte, sondern “auch” eine unsterbliche Seele. Die Seele ersteht jetzt, reine Seele, eine Ökumene nicht des Papstes noch des Kaisers noch auch selbst bloss der Verfassungsorganisation, sondern der idées. Hier ist der Anfang des ewigen Lebens (1789 Anfang des Endes der Geschichte). Diese reine Seele umkleidet sich mit Fleisch, sodass sie beinahe wieder aussieht wie als wenn sie bloss von dieser Welt wäre (187O), aber so sah es nur aus; hat sie nur erst einmal wieder ihr Fleisch beisammen, dann wird sich schon weisen, dass es auferstandenes Fleisch, ökumenische Staatlichkeit ist. 1914. Am Schluss steht natürlich nur ein Doppelpunkt, eine Richtung, denn wir erleben ja einen Anfang, ja was die Sichtbarkeit anbetrifft (Imperialismus), sogar einen vollkommenen Anfang.
So war es gemeint und so werden Sie zufrieden sein.
+) wenn sie Vondieserweltgeschichte wäre
[? Frühjahr 17]
[Anfang fehlt]
Und nun noch etwas “zur Person”. Ich war mit Ihrer Namengebung “Adam Bann” ganz einverstanden. Weil sie von Ihnen, also von “draussen” kam. Ich selbst würde mich nicht so genannt haben. Von aussen heisst es “Bann”, von innen “Bund”. Es hat keinen Zweck zu wiederholen, was wir uns seit dem Sommer geschrieben haben; es ist alles – wie ich Ihnen auch immer wieder gesagt habe – in seiner “konzilienhaften” Deutlichkeit eben doch nur eine Hälfte. Die andre Hälfte, die nicht schriftlich zu machen ist, kann ich Ihnen nicht glaubhaft machen, aber sie ist in mir, und sie ists, die mich jetzt bis zum Platzen anfüllt; ihretwegen und nur ihretwegen ersehne ich für mich den Kriegsschluss als meinen Anfang. Obwohl ich mich fürchte, denn ich weiss (zwar nicht wohin mein Weg, aber) wohin mich mein Weg führen wird. Hier steckt mein – unformulierbares, aber gewalttätig herschendes – Muss. Über das “Hier stehe ich” konnten wir sprechen, über das “Ich kann nicht anders” nicht, das, lieber Eugen (wir wollen uns wirklich Du nennen), kann man nur singen.
Dein F.
April 1917
[30.IV.17]
L.E.,
nun kenne ich also “Europas Darstellung”. Und muss die arme “Ökumene” grundsätzlich in Schutz nehmen. Du siehst, was du glaubst. Deswegen ist für dich “1914-17” voller Sühne und Versöhnung. Und wo die Versöhnung ist, da giebt es freilich keine Ismen mehr und überhaupt keine Gespenster. Aber der Weg zu diesem Himmel auf Erden führt an vielen Gespenstern vorbei und 1914-17 haben sie die Gestalt der “Giganten mit riesengrossen etc.”
Bei dir singen sie schon im höhern Chor, bei mir haben sie noch keine Zeit zum Singen, sie haben noch vollauf zu tun und wenn sie sich ihrer zukünftigen Partie im höhern Chor erinnern und wollen daraufhin ein bischen vorüben, so wird es – “Gedankenlyrik” (“Ismen”!). Du bist hinreissend wirklich in deinen Begriffen (Symbolen, Anschauungen, oder wie du willst, dass man deine Sprachstücke nennt, also, um keinen Streit hervorzurufen: in deinenSubstantiven) und auch noch da, wo du es mit einer durch eigne Notwendigkeit gegliederten Wirklichkeit zu tun hast (also z.B. mit “den” Parteien des Staats), aber erschreckend willkürlich, wenn du auf solche Wirklichkeit stössest, deren Gliederung noch als ein Geheimnis Θεου εν γουνασι κειται, ein Geheimnis, von dem er nur das Dass aber noch nicht das ganze Wie der Offenbarung angezeigt hat. Z.B.: ich rechne mit zukünftigen “Rückläufigkeiten” der Entwicklung, freilich Rückläu-figkeiten nur von uns gesehn, denn geschehen ist geschehen und um die Tatsache der ersten wirklichen Weltreiche wird die Zukunft auch dann nicht herumkommen, wenn diese Tatsache noch einmal wieder zur blossgewesenen Tatsache werden sollte. Vorläufig sind die “Ismen” eben die einzige Gegenwart (in der Geschichte; im Hause, aus dem deine Substantive – ich bin vorsichtig – stammen ist es anders) und kein verzwei-feltes Leugnen hilft gegen die furchtbare Tatsache, dass die gegenwärtigen Menschen für Ismen bluten müssen, also für Fragezeichen, wenn auch richtig gesetzte. Die christlichen Völker sind unterwegs, und nur das Eine, das sie deswegen in “Bann” erklären, blutet, weil es nirgends für sich selber blutet, überall und immer schon in der Gegenwart für das Reich, ohne Umschreibung durch einen Ismus.
Nein, die Welt ist noch nicht fertig und ihre Mächte und Kräfte noch nicht Glieder eines Leibs. Das ist der allgemeine Grund meines Unglaubens an dein Europa. Die besonderen bedeuten dagegen wenig. Russland wegzudenken ist mir schlechthin unmöglich. Gewiss, es hat kein Mittelalter. Aber damit ist es doch nur aus der ursprünglichen Gemeinschaft der Ökumene ausgeschlossen. Es ist ja aber grade der Sinn dieser ursprünglichen Gemeinschaft, dass sie sich erweitert und zwar so erweitert, dass (im Gegensatz zum ausserchristlich Selbstverständlichen) die neu angenommenen Arbeiter im Weinberge nichtschlechter entlohnt werden wie die Knechte die schon vom frühen Morgen an gearbeitet haben. Russland ist die “Vorstellung” geschenkt; es besitzt sie alsoauch, freilich nicht erlebt, sondern “geschenkt”. Aber der Hochmut und Anspruch der Arbeiter vom Morgen an wird den “romanisch = germanischen Völkern” vom Herrn des Weinbergs nicht durchgelassen. – Etwas anderes: ich traue dir die “Raumrechnung” nicht recht zu; denn wenn sie schon mehr als Plan und Vorhaben bei dir wäre, dann würdest du ihr die “Zeitrechnung” nicht mehr so genau parallelisieren wollen. Im Raum ist die Rechnung die ganze Wahrheit oder wenigstens das ganze Zeichen der ganzen Wahrheit. In der Zeit wäre siehöchstens eine Curiosität. Raumgleichheit ist das Wesen des Raums. Zeitungleichheit ist das Wesen der Zeit. Die Ungewissheit quid sit spatium, hätte keinen Augustin je zu verzweifelten Stossgebeten gebracht wie die quid sit tempus. Tausend Jahre können wie ein Tag sein; aber einen heiligen Wetterschlag der Not, der die Unendlichkeit des Raumes dem Menschen in die hohle Hand legen würde, – den giebt es nicht.x) Die Zeitgleichungen, die du aufstellst sind gewiss bestechend, aber Keplers Berechnung der Planetenabstände aus den regelmässigen Körpern und aus den musika-lischen Harmonien zeigte ebenfalls eine bestechende Übereinstimmung mit dem Beob-achteten und war doch falsch und musste falsch sein, denn sie beruhte auf der von Kepler etc. selber zerstörten Vorstellung der Welt als einer wesentlich ruhenden, und erst das “Dritte Gesetz”, das er auf jener Suche nach den Eselinnen seines Vaters Platon schliesslich fand, war grundsätzlich richtig, denn es stellte die Abstände als eine Funktion derBewegungen dar. Ich “lynche” dich also nicht – das wäre, wenn ich mir die Mühe machte, deine Zeitgleichungen zu parodieren (was sicher möglich wäre, denn “Zeit giebts genug und Zahlen auch” sagt Morgenstern), sondern ich zupfe dich nur ganz brav südwestdeutschschulmeisterlich am kritischen Ohr.
Und da ich einmal beim Schulmeistern bin: wenn ich Leutnant und du Unteroffizier wärest, so würde ich dir dienstlich befehlen, das Wort “protestantisch” für Kriegsdauer oder meinetwegen auch länger nicht in den Mund zu nehmen. Immer wenn du “protestantisch” sagst, wirst du aus einem Heidenmissionar, der predigt bis er gefressen wird, zum Grossinquisitor. Was tut es denn, wenn Rikarda Huch etwas “vergisst“. Wundre dich doch, dass sie soviel wie kein andrer Mensch, der seit Nietzsche hat drucken lassen, weiss. Gib doch nichts auf die Automaten à la Planck, die zufällig dein Glaubensbekenntnis herunterschnarren, – hörst du aber statt auf die Worte auf den Ton der die Musik macht, so ist es die alte vertraute Hegelweis – sondern halte dich an die Menschen, die deinen Ton resonieren. Rikarda ist einer, ich bin auch einer, obwohl du mich mit Gewalt (und meinetwegen mit zehnfachem äusseren, nämlich einzelfalligem Recht) zu Hans Ehrenberg hinüberstössest. Mein eignes Bewusstsein (und selbst wenn es sich vor deinen Augen nur ein Mal unter zehn Malen als wirklich zeigt) muss dir da glaubwürdig sein. Ich selber spüre es grade jetzt, wo ich mit Hans wieder viel zusammen-zukommen suche – denn ich will nichts Vergangenes liegen lassen, wenigstens nicht durch Schuld eigener Lässigkeit -; zwischen Hans und mir giebt es heute kein “und” mehr; nur das Komma ist zwischen uns möglich. Mit dir aber stehe ich auf “und“, und zwar inmeinem Sinn der “Vollständigkeit” und in deinem!
Dein F.
x und braucht es nicht zu geben, weil es schon ohne “Not” u. “Wetterschlag” der Fall ist.
Mai 1917
[22.-24.V.17]
L.E., ich brauch die “Chiffre” grade zum Du, weil der Brief damit anfängt, wie ich es auch zum Schluss wieder brauche. Gehörst du auch zu den Leuten, denen das Stimmen zu Anfang und das (forte:) Schrumm Schrumm (das manchmal einen ganzen Satz lang ist) zum Schluss des Streichquartetts x1) auf die Nerven geht und die lieber unmittelbar aus dem Münster wieder auf den Markt treten möchten, statt durch ein grosses zehn Schritte tiefes Portal, das nicht mehr Kirche ist und noch nicht Markt sondern von beidem etwas?
Also “Kepler” habe ich deinem Prodromus gegenüber so “feierlich” schmeichelhaft genannt wie du es aufnimmst. Hinter deinen arithmetischen Geschichts-gleichungen muss etwas Wahres stecken, obwohl sie grundsätzlich unmöglich sind, unmöglich weil es Zahlen (=Grössen, =Strecken) =gleichheit nur im Raum geben kann, weil nur der Raum “stille hält” und sich also messen lässt, während die Zeit “davonläuft”. Ich glaube, hinter deinen Zeitgleichungen stehenLebenszeit = Gleichungen (Gene-rationsgleichungen) und ihre Gesetze musst du suchen. Wie erfahren wir denn Geschichte? Doch eben – im Haus. Nicht von den Eltern (weil nicht an den Eltern), denn die sind uns malgré tout gleichzeitig, sie prügeln uns ja! – und auch nicht an den Kindern – denn die haben wir zu verprügeln und sie dadurch ebenfalls als Zeitgenossen zu behandeln (der Widerstand der “Söhne” gegen die “Väter” und ihr “den züchtigt er” ist zwar geschichtlich, aber nicht innerhäuslich begründet, sondern ein Hineinwirken des Draussen ins Haus). Sondern wir erfahren Geschichte an den Grosseltern und Enkeln. Die sind unsrer Prügelweite und wir ihrer entzogen, sie sind uns Denkmäler und doch dicht bei uns, sie sind keine Zeitgenossen und wir sehen sie doch (und das ist “Geschichte”). Daraus ergeben sich Zeitabschlüsse von 3 oder 5 Generationen. Drei für die eigentliche Erfahrung, das Geschichteleiden, und fünf für das Geschichtewissen (denn das Entfernteste was ich wirklich noch praeteritoperfektal “wissen” kann, ist das, was mir der Grossvater von seinem Grossvater erzählt) und für das geschichtl. Selbstbewusstsein (denn das bewegt sich zwischen meinem Grossvater und meinem Enkel). Und nun sind diese Zeiten nicht in Jahren nachzumessen, sondern in wirklichen Menschen aufzuzeigen. Also z.B.: nicht 1453-1492 = 39 Jahre, sondern das persönliche (“private”) Geschichtser-lebnis Machiavells oder 1453-1563 = Michelangelo. Ich nenne die beiden, weil grade an ihnen Gobineau die Abgeschlossenheit der “Renaissance” aufzeigt, an ihren eignen Erinnerungen und Hoffnungen. Natürlich muss es auch Gesetze der in einer oder der in zwei Generationen geschlossenen Zeit geben und auch ein Gesetz der 6 und mehrten Generationenzeit, jene für ungeschlossene, dieses für die nicht mehr “erlebnismässig” schliessbare Epoche. Die Hauptsache ist eben immer das wirkliche Aufzeigen in den schicksalbeschwerten Leuten, den Machiavells und Michelangelos Gobineaus. Dann wird es auch Gleichungengeben, aber nicht Gleichungen von Sonnenjahrsummen, sondern Gleichungen, worin “links” eine Erfahrungsepoche (drei Generationen) und “rechts” ebenfalls eine Erfahrungsepoche steht oder vielleicht Ungleichungen wo rechts eine Bewusstseinsepoche mit 5 Generationen steht und eben die Ungleichung durch ihr Auftreten darauf hinweist, dass hier im Verhältnis der beiden Epochen zu eineinander etwas “nicht stimmt”. U.s.w. u.s.w. So ist “methodisch” nichts mehr dagegen zu sagen und alles Bestechende an deinen Entdeckungen kann und muss dadurch erst mehr als bestechend werden.
Ich halte die Parteien nicht für wirklicher als die Mächte – um Himmelswillen! Sondern ich meinte, deine Begriffe sind ungezwungener auf sie anzuwenden, weil sie schon als Bewohner in einem sozusagen wirklichen Haus, dem “Einzelstaat”, leben, während ich diesen Charakter der selbst = auch = nur =sozusagen = Wirklichkeit dem Haus Europa abspreche. Und das giebst du mir diesmal eigentlich zu und nennst selber die Mächte weltlich, nachchristlich. Etwas andres will ich auch nicht sagen. Eben deswegen können sie auch nur für ismen, für “Ideen” sterben. Dass sie damit gleichwohl Gottes Wort erfüllen (seinen “Weltplan verwirklichen” wie du schreibst), das glaubt Adam Bund wahrhaftig auch, er traut sich aber nur zu, ihnen ihre Ideen abzuhören und weiss – 1914 bis 1917 – nicht, wie von diesen “Gestalten” der Weg zu der noch ungesehenen Gestalt führt (“ihr habt keine Gestalt gesehen – die Stimme allein habt ihr gehört”). Nur das Vorbild dieser Gestalt kenne ich, aber nicht sie selbst.
Deshalb wie dir die drei Mächte von “Ökumene” zu ungefüge sind, so sind mir die sechs von “Europa” zu gefüge, zu – weisst du, wer von dem Schreibmaschinen-manuskript nicht bloss entzückt x2) sondern wissenschaftlich befriedigt wäre (und wenn du es mir erlaubtest, würde ich es ihm schicken, aber du wirst es nicht erlauben, weil du dich viel zu sehr über diese Voraussage ärgern wirst?) Hans Ehrenberg! Ich will dir aber lieber von meinem eigenen Eindruck schreiben. – Was ich übrigens jetzt eigentlich erst kann; denn erst in der verflossenen Nacht, also erst nachdem ich den ersten Bogen schon vollgeschrieben hatte, habe ich dich wirklich verstanden. Das muss doch an deiner Darstellung liegen, vielleicht daran, dass du – mir gegenüber – die Symbole (Mann, Weib, Sohn, Kind etc.) vorangeschickt hattest und dann gleich die Gliederung der Mächte. Ich sehe jetzt, dass du unbedingt anfangen musst mit der inneren Gliederung der Macht (also Gebiet, Civilisation, Kirche, Recht u. Wirtschaft, Heer, Nationalität), die du entweder an den einzelnen Mächten aufzeigen oder an einer Utopie oder politeia beschreiben musst. Dann das Entstehen der einzelnen Glieder durch die zugehörigen Revolutionen und daraus zu entwickeln ihr Sichkonstruieren zu Grossmächten. Tableau: Europa.
Um nun nochmal anzuknüpfen an das gestern Gesagte und statt der hypothetischen ein wirkliches Beispiel zu geben. 1756-63 = 1864-71, 1848-71 = 1740-63, 1806-1871 = 1701-63, 1786-1871 = 1675-1763. Aber nicht weil 7=7, 23=23, 65 x3) 62, 85~88 ist. Sondern: 1756-63 = 1864-71 weil Werkzeit “=” (“=” im Gegensatz zum mathemat. Gleicheitssymbol das Äquivalenzsymbol, das du für deine Mathematik brauchst) “=”Werkzeit, die Zeit in der ein Mensch ein geschlossenes Werk aufnimmt und in ständiger Weissglut vollbringt; länger “würde ers nicht aushalten”, aber solange hält ers aus. Schiller schreibt mit einem Lungenflügel 1798-1805 seine Dramen x4). Douglas hat es getragen sieben Jahr. Flaubert schreibt einen Roman. Goethe entdeckt die Natur (von der Urpflanze bis zur Farbenlehre). Kant die Kr. d. r. V. (von der “Dissertation” bis zum Buch von 1781). Wagner konzipiert sein ganzes Lebenswerk 1848-56. Und so also hier Friedrich, dort Bismarck. Weiter: 1740-63 = 1848-1871, denn Mannesleben “=” Mannesleben. Von Überwindung des Jünglings (Friedrichs “einziger Gott nun die Pflicht”, Bismarcks Johanna) und erstem siegessicherm Zugreifen zur ersten Mannestat (Friedrichs “wunsch meinen Namen in den Zeitungen zu lesen und ein Etwas, das ich nicht nennen kann”, Bismarck Percy Hotspur die Legitimität) bis zum subjektiven Resignieren auf der Höhe des objektiven Erfolgs (Friedrichs Privat = Tedeum in Potsdam 1763 und Bismarcks Geschnittenwerden am 18.I.71.) was das Ende des Mannesalters bedeutet. Nun kommt 1806-1871 = 1701-1763 oder Geschichtserlebnis “=” Geschichtserlebnis, nämlich die grose Rebellion des Militärstaats (1848-71, 1740-63) gegen den Papst, der Dauns[?] Degen segnet und nach Königgrätz hört, die Welt gehe unter, gegen den Geist (Abschied in Rheinsberg, Kampf gegen August von Weimar), gegen das Volkstum, das “keinen Schuss Pulver (!) wert ist, mein lieber Professor” und dem in Frankfurt und Nikolsburg der Stuhl vor die Tür gesetzt wird, gegen die freie Persönlichkeit, die als zur maudite race gehörig verbraucht und in der Konfliktszeit so vor den Kopf gestossen wird, dass sie noch heute nicht aus ihrer Ohnmacht von damals erwacht ist, gegen das Reichsgebiet im Titel des Königs von Preussen und in der Zertrümmerung des Bundestags, – also diese grosse Rebellion (wo allerdings die zweite schon unter dem Zeichen oJ trwsaı kai ijasetai steht, wenn auch Bismarcks Versöhnungen der fünf beleidigten Geister {Leo XIII, Universität Strassburg, deutsches Kaisertum, Reichstag, Andrassy} noch alle im Geiste und Interesse des Militarismus geschehen und deswegen erst durch diesen europäischen Krieg gegen den Militarismus aus der blossen Tat in die Wahrheit hineingenötigt werden), – also diese grosse Rebellion ab 1848 und 1740 hat ihre für beide Fälle charakteristisch verschiedene Voraussetzung in den Ereignissen von 1701 und 1806 – Königsberg und Jena und das handelnde Geschlecht erleidet die Geschichtlichkeit seines Handelns in dem Zusammenschluss der drei Generationen Friedr.I., Fr.W. II., Friedrich selbst und Stein, Radowitz, Treitschke selbst. Jedesmal ist die ” väterliche Generation” die, die die Handelnden züchtigt, die grossväterliche aber ist die vorbildliche und grundlegende, und ist noch an die Wiege des Enkels getreten und hat ihm den Schwarzen Adlerorden umgehängt. Gegen die väterliche muss sich die handelnde Gegenwart rechtfertigen, sie erscheint ihr im Traum und man schreibt ihre bitterbös kritische Geschichte, die grossväterliche aber freut sich am Enkel, der aus dem bloss anspruchsetzenden “in” das platznehmende j’y suis et j’y reste = “von” machen wird. Im Grossvater findet der Enkel seinen historischen Grund. – Jenseits des Grundes aber noch, der gefunden und gehalten wird, steht der entferntere Grund der nur noch gewusst wird, der Heros eponymos des geschichtlichen Bewusstseins: Dies ist für 1848-71 1786, die vollendete Gestalt Friedrichs, die als Gestalt, als Gespenst (enter the g[h]ost) durch alle Akte des Dramas geht, wenn die Paulskirchler einen Friedrich in Berlin zu finden hoffen und wenn der König ausruft ich bin kein Friedrich, wenn Bismarck mit Gerlach debattiert und schliesslich Moltke nach Mähren rückt. (Man verwirklicht das Ideal Steins, des Grossvaters, aber man leitet den Anspruch zu solcher Tat her aus dem Wissen um den Urgrossvater Friedrich). Entsprechend für 1740-63 Fehrbellin, hier nicht die Gestalt, sondern die, nicht in ihren wirklichen Folgen, aber für das Bewusstsein grundlegende Tat, die den jungen Friedrich noch aus der Erzählung eines Mitkämpfers lebendig vor die Augen getreten ist. Also 1675-1763 = 1786-1871, Geschichtsbewusstsein “=” Geschichtsbewusstsein. Schliesslich 1763-1806 “=” 1871-1914, nämlich Söhne gegen Väter “=” Söhne gegen Väter; eine typische Zweigenerationsgleichung; die Väter haben die grossen Taten des alten Kurses (bis 1786=1890) getan und die Söhne wollten einen neuen und kamen doch von den realpolitischen Lorbeeren des alten nicht los, bis sie der Wind des Ereignisses anblies. – Nun muss es auch ein Rechnen mit diesen Zeitäquivalenzen geben. Z.B.: Nur auf Wirkzeiten folgen Reaktionszeiten, nicht auf Lebenszeiten; auf die folgen Fortsetzungszeiten. So auf das innerpolitische 1713-40 1740-86-97-06, auf 1862-90 1890-1914. Dagegen auf weissglühende “Jahrsiebte” 1806-13, 1840-49, 1864-71 folgen Restaurationen, Reaktionen, Saturiertheiten von der Dauer einer halben Lebenszeit, eben zweiter Lebenshälften: 1815-40, 1849-61, 1871-90. Also auf Septennate folgen Quindecennate, auf Trigennate hingegen ein oder mehrere Trigennate.
Nun kam gestern Abend dein pressgetzlicher Berichtigungsbrief. Ich war auch von mir aus schon so weit jetzt einmal unsern Unterschied festzustellen. Zunächst vorweg, ich hatte ganz recht, Ökumene von Anfang an gering einzuschätzen und gegen Hans an deinem und Rudis Urteil festzuhalten; das einzige wirklich Gute daran ist das Thema (die Grenzen der Staaten in jedem historischen Augenblick als Funktion der Grenze “Europas” aufzuzeigen), aber die Durchführung (zu deutsch: die Methode) ist rankisch und also, da das Thema eben nicht von Ranke sondern von mir ist, schlecht. Hingegen ist dein Europa auf einen höchst fruchtbaren Gedanken gestellt: das Europäische in der Seele der Mächte zugleich als das Gesetz der Gliederung Europas darzustellen. Das ist ein Thema, das ohne weiteres seine eigene Durchführung hervortreibt und sich natürlich verzweigt, nicht “behandelt” wird. Also da kann ich einfach nur lernen (und da ich nicht mulier miles gener [?] bin, von denen du dich verstanden glaubst und nie verstanden werden kannst, so kann ichs auch). Woran ich mich stosse, ist das “zu gefüge”, die Abgeschlossenheit, alles was du jetzt schon zum Teil selbst abstreifst. Und dieser Gegensatz brennt lichterloh an dem Punkt Russland. Es hat dir nie viel bedeutet, im Gegensatz zu “uns” (muss ich hier sagen), nämlich Rudi Hans mir. Deshalb hängst du dich an den Apparat was man eben hier nicht (noch nicht) darf, denn der Apparat wird erst ein eigener, wenn die “Revolution” geschehen ist. Den Liberalism unter den Tudors, den Militarismus bei Johann Sigismund u.s.w. kann man nicht suchen wollen; so aber auch nicht Russland unter den Petrinischen und Nikolaitischen Institutionen. Russlands “Revolution” beginnt erst 1878, mit dem Slawenkrieg und den Karamasoff, und ist noch nicht zu Ende. Ihr Absolutismus ist der des Menschen schlechtweg, nicht des freien tätigen Manns und nicht des am Busen der Natur liegenden (Schwinds Bildchen in der Schack) Jünglings. Sein Gleichnis im Haus sind die “Flegeljahre”, der einzige wirkliche Egoismus, den es im Haus giebt und geben soll. Im Apostolicum kommt er vor, nicht als Gott und doch für absolut anerkannt, nämlich in den Worten “propter nos homines”; es ist der Mensch, der es nicht anders weiss als dass Himmel und Erde propter ipsum da sind, und Gott und Teufel auch. Dieser Mensch, den du als besondere Gestalt nicht sehen willst, ist schon um “1000” da und heisst damals “Anima” (bei Hugo v. St. Victor z.B.) und dann immerfort bei den “Mystikern”. Es ist das Missverständnis der Reformation, wenn man sie für die Revolution dieses Menschen hält und nicht wie du richtig für die Revolution des Jünglings. Nicht bei Luther, sondern erst bei Dostojewski empört er sich, und wogegen? Gegen alles (daher er selbst der Mensch des Nichts, der Nihilist), gegen Europa überhaupt. Der Halbwüchsling (übrigens ja der Titelheld eines Dostoj. Romans “der Werdende”) gehört zum Haus, aber er hasst das ganze Haus Vater Mutter, Geschwister, sich selbst sofern er doch auch Jüngling ist; und er ist nur eine Übergangserscheinung. So ist Russland (das Russland, von dem du in deinem Hahn de moribus Ruthenorum lesen kannst, wie Geschworene eben einen Räuber verurteilen wollen, da dringt das Aveläuten von draussen herein, sie stehen auf, bekreuzigen sich, und – sprechen ihn frei) so ist Russland der Übergang von deinem Europa zu deinen 6 Erdteilen. Indem seine “Revolution” gegen Europa im Ganzen geht, ist sie die “Bestätigung” der Einheit Europas, seines für = die = Erdteile = “Kirche” = gewordenseins (so wie die Revolution der Nation 1517 ff. die “Bestätigung” des Ergebnisses der Revol. der Kirche von 1200 ff. ist oder jedenfalls zeitlich mit dieser Bestätigung zusammenfällt.) ( Wie die russ. Revolution zeitlich mit der in den Weltkrieg auslaufenden Imperialisierung des Imperialisierbaren in Europa – und das ist ja der Prozess des Zur = Kirche = für = die = Erdteile = werdens Europas, den du meinst, zusammenfällt). Das sind lauter Fäden zwischen deinen Gedanken und meinen, und wir stehen uns doch auch hier näher als ich erst meinte. – Aber Russland ist der Grund, weshalb das Erbe Europas nicht an Amerika fallen wird, sondern die Geschichte zunächst nach Asien hinübergreift und Amerika nur im Rahmen dieses Eintritts Asiens in die Ökumene seine Rolle spielen wird. Russland ist – natürlich nicht der “Deus ex machina”, aber Herr Dietrich von Bern, der die Toten alle bestattet und beklagt. – Nun noch etwas. Frankreich; hier habe ich deine Lösung nicht recht verstanden, weil sie zusehr im Gleichnis blieb. Die Frage stelle ich genau so. Realpolitisch ist ja sein Ausfallen leicht zu verstehen: ein Grossstaat hat 43 Jahre lang statt Grossstaats= (d.h. allseitiger Möglichkeits=) politik Kleinstaats= (d.h. einseitig festgelegte) politik getrieben, in schuldhafter Verblendung. Weshalb aber musste Frankreich nun englisch werden? Ich habe es mir so erklärt (ich weiss nicht mehr, ob ich das in Ökumene gesagt habe): weil England innerlich französisch geworden ist, im Grunde schon durch seine Entshakespearung seit 1649, aber immerhin, im 18. scl., hat es doch noch einen Sterne geben könen, im 19. ist Byron schon nur noch in partibus Engländer gewesen, die Selbstverwaltung weicht Schritt für Schritt dem Boardsystem, Dickens hat der Konvention gegenüber schon keine Ironie mehr (wie Sterne sie hatte) sondern hält sie heilig und sieht nur noch den Humor der Menschen, nicht mehr den der Zustände. Und da England ohne G..[?] ist, so wird das “Geometrische” hier schlechtweg langweilig, (was es in Frankreich nur in Übersetzungen wird, nicht im Original). Kurzum Englands Weltreich ist so ziemlich das Weltreich, das Frankreich auch gründen würde, wenn es 1.) noch eine suveräne Grossmacht und nicht eine revanchegebundene Kleinmacht wäre und 2.) noch Männer hätte (die es 1793 alle geköpft hat, sodass im 19.sc. eigentlich nur noch Künstler Franzosen waren und statt der grossen eigenproduzierten aristokraischen Halunken die leitenden Männer ((auch etwas ganz Besonderes)) Ausländer waren, Napoleon der Italiener und Napoleon der roman. Deutsche (Typus Karl V.).) – Der 100jährige Begriff der Westmächte, in Wien 1814 entstanden, ist in Londen, Sept.1914, fertig geworden. Es giebt kein Frankreich mehr. Dennoch giebt es noch ein französisches Volk, denn “christliche Völker können nicht sterben” (wie du und Treitschke sagen, und wie ich es erkläre: weil sie nicht mehr sterben können wollen, was das antike Volk konnte; das christliche Volk glaubt an seine unendliche Bestimmung); dies französische Volk – Paris – ist nun eine rein geistige Macht, kein Staat mehr, nur noch eine Künstlerschaft. Was aber in Zukunft werden wird? Für die Gegenwart ist der Gegensatz zur Kirche so deutlich wie möglich. Rom und Paris sind beide staatlos geworden, beide herrschen durch einen Orden: Jesuiten und Bohème. – Genug, du siehst, das kocht bei mir noch durcheinander, während ich über Russland im Grunde klar bin; ich bringe es auch mit dir nicht richtig zusammen, während mir das für Russland gelingt – x5). Warum muss ich Niekamp lesen? Warum empfiehlst du mir Reimer[?], dessen sämtliche irgendwie, und selbst nur antiquarisch, erreichbare Schriften ich seit April vorigen Jahres gelesen habe! (willst du das, vergriffene, Buch “Grundlagen und Entwicklungsziele der österr. Monarchie” lesen, so schreib nach Kassel). Ich gehe zwischen 5. u. 10.VI. auf Urlaub, schreib mir also nicht mehr hierher. Was sagst du zu Hanslik? Selbst ein dummerer Österreicher ist noch interessanter als ein kluger Reichsdeutscher (ebenso wie Strzygowski). – Auf dein beinahe wirkliches Gedicht mag ich dir nicht mit bloss “gekonnten” Versen antworten; es verdient eine simple Prosaantwort. Unser Gegensatz ist nicht so glatt aufeinander passend. Denn in mir ist ein Stück Wille und du bist ganz Natur. Die Sinne schwellen mir seit meinem 14. Jahr, aber ich verstärke auch ständig die Mauer, sodass die Flut doch nicht hinüberkommt. Und du bist gewiss kein Schwert, aber in deinem versiedenen Wasser kochen doch, ehe es versiedet, deine Taten gar; du stellst sie nicht hin, aber du wirst sie hinterlassen. Und bis dahin Dein
22.-24.V.17. – Schrumm Schrumm
x1 Sogar Wagner versagt sich im Tristanschluss, und wohl auch sonst, den billigen Effekt des “Verschwebenlassens” und macht: Schrumm.
x2 (das bin auch ich starre Mauer)
x3 gebräuchliches Symbol für “ungefähr gleich”
x4 besser: das Repertoire der deutschen Bühnen
x5 “Kleine Anfragen” und “persönliche Bemerkungen” sind eine “ganz persönliche Bermerkung”
Juni 1917
[Franz und Margrit gemeinsam an Eugen:]
[Ende Juni 1917]
[Franz:]
L.E.
Nur ganz kurz. Wegen des “Missverständnisses”. Ich will dir ja nicht den Held in die Grossmächte manschen, sondern ich habe ihn für die Generationenarithmetik nur herangezogen, weil er uns “beiden” bekannt ist. Grundsätzlich kann aber statt Bismarck auch dein oder mein Grossvater eintreten, irgend ein beliebiger Mensch. Eben wirklich nur die Generation. Ich will weiter nichts als dass du statt mit Sonnen= mit Lebensjahren “rechnest”. Also wirklichnur eine methodische Korrektur. Dass per Zufall mal die Lebensjahre auf Sonnenjahrgleichungen führen und dadurch deine stupenden Keplerschen Prodromusentdeckungen zustande kommen – warum nicht? Aber wir müssen gewissenhaft genug sein, dem drohenden Kantischen “allererst möglich” nicht scheu aus dem Wege zu gehen.
Italiens Teilnahme am Krimkrieg “=” der am Weltkrieg ist eine wirkliche Entdeckung.
Ich entziehe mich allen Konsequenzen dieses Briefs und flüchte mich hinter deine Frau.
P.S.: Wer ist Venizelos?
[Margrit:]
Liebster Mann –
Diese Papierverschwendung in eiserner [?] Zeit geht doch eben nicht. Versteckt er sich hinter meinem Rücken, so schreibe ich hinten auf seinen Brief.
Zur Zeit mus ich Friedensengel spielen. Der arme Franz hat es nicht leicht, die Eifersucht einer Mutter ist vielleicht noch schlimmer als die einer Frau. Morgen fährt er nach Berlin auf zwei Tage, infolgedessen ist Frau Adele schon so aufgelöst, als wäre heute wirklich das Ende des Urlaubs. Die arme Frau ist vollkommen fertig mit den Nerven. Und ich glaube auch, daß Franz recht hat, wenn er die Gegenwart eines dritten als besonderen [?] Glücksfall empfindet. Aber ich muß sagen, er hat es nicht leicht. – Gestern saßen wir stundenlang auf dem obersten Treppenabsatz vor meinem Zimmer. Er hat nach all der stummen Zeit ein großes Mitteilungsbedürfnis. Er erzählte mir, wie er ganz unter Dir gelebt hat ohne daß Du eine Ahnung hattest – ich sage ja: Kluge Männer…! Dank für Deine guten Briefe.
Ach Eugen, die Kiste war auch nachträglich noch herrlich. Und Frau Ehrenberg hat das Mißgeschick gehört. In zehn Tagen etwa wirst Du bei mir sein? Da kann man nichts mehr sagen.
Lieber, lieber Eugen
Dein Gritli
[Franz und Margrit gemeinsam an Eugen:]
[Ende Juni 1917]
[Franz:]
[Neben Briefkopf Kommerzienrat Georg Rosenzweig:] – na ja.
L.E., über den Aufsatz wird “Censorinchen” dir das Kollegiumsgutachten schreiben.
Was sagst du zu Viktor? Was kann man dagegen tun? “Freikonservativ”! (Lies auch den Auch = Kalendermann “Macedonikus” – oh Duplizität der Ereignisse -, und vor allem den Schumannschen Artikel über Hanslik). Datum und Namen war ja sehr richtig, aber ich bin bei dir immer schon gewohnheitsmässig ganz unzufrieden, wenn ich bloss so restlos einverstanden bin.-
Ich vermeide wieder Datum u. Namen unter diesen Brief auf dem schon nicht mehr ungewöhnlichen Wege:
[Margrit:]
So und nun komme ich dran, lieber Eugen! Schon gestern kam der Aufsatz und Franz und ich lasen ihn zusammen. Morgen wenn Franz fort ist, “darf” ich ihn auch abschreiben im Büro von Herrn Rosenzweig. Aber zu allererst: Ich bin sehr einverstanden mit dem Morgen des 1.Juli. Da aber infolge Nachtreise der Sonntag wohl nicht voll zu zählen ist, könnten wir vielleicht am Morgen des 3. dann alle drei gen Osten fahren. Der Leutnant und der Unteroffizier gehen aber nicht in eine Classe, ich behaupte Du könnest ihn heraufziehen, Franz denkt sich Dich civilisiert zu diesem Zweck in der dritten Classe. Daß wir dann beim Familienfest stören ist ja möglich – Franz fleht zwar inständig, daß wir ihn gerade an diesem Tage nicht verlassen sollen. Ich glaube, Frau Rosenzweig hat überhaupt das Gefühl, daß sie durch meine Schuld zu kurz kommt. Es ist zwar ihre Einbildung, denn die beiden haben sich doch nichts zu sagen, pikanten Klatsch sagt Franz. Gestern abend haben wir wieder bis um eins geschwätzt, Vater Rosenzweig kam schließlich barfuß wieder aus dem Bett gestiegen und fand uns beim Gläschen Sherry!! Aber Dich interessiert jetzt vor allem Dein Aufsatz.
Da muß ich Dir zuerst die betrübende Nachricht mitteilen, daß gerade das Ende, in das Du am meisten verliebt warst, gestrichen werden muß, damit der Aufsatz ganz und druckfähig ist. Die Theatergeschichte ist zwar köstlich, aber sie hat hier nichts zu suchen. Traurig, traurig. Er schlösse also nach Franzens Gutachten mit den Sätzen: “Die Reiche, Staaten und Völker Europas lassen sich nicht mehr durch den Glauben spalten. …Glauben aber heißt ein Schicksal haben. Europa erwirbt sich durch diesen Krieg Ein Schicksal und Einen Glauben.” Das ist doch ein sehr schöner Schluß? So kann es aber auch nicht mehr mit dem “endgültigen” Titel überschrieben werden: Weltanschauung und Freiheit. Franz behauptet, das sei der Titel zu einem andern Aufsatz. Er schlägt vor: die alten und die jungen Völker. Zur Erörterung des Weltkriegs. – Ich meine , es müßte noch ein besserer Titel gefunden werden. – Das Beispiel im Anfang das zur Verdeutlichung da sein soll, verdeutlicht erstens gar nichts und zweitens ist es abscheulich so etwas nur [?] zu sagen. Franz hat einen dicken Strich durchgemacht Dein armes Fraueli [?]! – Du siehst, daß nur nebensächliches auszusetzen bleibt, daß wir also im Grunde sehr befriedigt sind. —
Meinetwegen könnten die Druckereien ruhig ihre Betriebe einstellen. Ich sitze begraben unter Manuskripten: Von meinem Herrn und Gemahl, von Franz, eine Predigt von Rudi, sogar etwas von Hans Ehrenberg, was ich zur gerechteren Beurteilung auch lesen soll. Gestern abend platzte mir wirklich beinah der Kopf. Aber nicht schlimm. Ich bin doch sehr vergnügt. Ein bischen närrisch bin ich ja vom vielen Lachen, aber das schadet ja nichts.
Jetzt will ich mit Franz einen Besuch machen. Ich mag gar nicht mehr ordentlich schreiben. Bald bist Du da.
Dein, Dein, Dein —
Gritli
[Franz:]
Also das Aufsätzchen ist durchaus veröffentlichbar, grade weil du dir von deinem Eigentlichen wenig darin vorwegnimmst und nur eine ganz zahme Spezialfrage – ja eben “erörterst”. Natürlich nur veröffentlichbar; ein Muss liegt nicht vor.
Der Schluss (“das europäische Theater”) wäre, wenn du willst unter diesem Titel ganz lustig als kleines Entrefilet in eine konservative Zeitung einzurücken, aber dem Hauptteil des Aufsatzes steht es direkt im Licht, sodass “wir” es weggelassen haben.
[Margrit:]
Da das Ende doch von mir sein muss
Grüße ich auf dieser Seite
als Dein Censorinchen
Juli 1917
[9.7.17]
Lieber Eugen, – das Plus zur Chiffre darfst du aber nicht dir anrechnen, es gehört deiner Frau – also es ist gut, dass nach Mazedonien eine so lange Reise ist, so konnte ich endlich in Ruhe deine letzten Briefe soweit ich sie bei mir hatte lesen, leider muss ich grad die beiden allerletzten noch in Kassel vergessen haben. Unser bischen Mündlichkeit – es kommt mir hinterher sehr wenig vor – spielte ja wieder in einer ganz andern Ecke; es ging zurück auf unsre Fragestellung von vorigem Jahr, die eigentlich sehr wissenschaftlich, nämlich sehr vorhofig war, ehe du mit der Sprachlehre und mit Europas Darstellung den Vorhang vor deinem Adyton aufzogst. Es war die Frage, was denn Heidentum sei, – dieselbe die ich dir auch schon bei unserm kurzen Zusammensein im Frühjahr 14 vorlegte und die du damals so beängstigend leichtsinnig beantwortetest. Der “Glaube” ist eben ein solcher Pantophage, dass man sich schliesslich erschrocken umkuckt, ob er von dem “Wissen” auch nur ein Schwänzchen draussen gelassen hat (da man vom “Wissen” ja übrigens die gleiche Pantophagie behauptet, so käme schliesslich doch wieder das vertraute Bild der beiden Oberländerschen Löwen heraus). Wir hatten nun also das Schwänzchen als Pinsel benutzt und damit ein schönes Fresko an die Wand gemalt. Kennst du aber das wunderbare chinesische Märchenmotiv eines immer möglichen Personenaustauschs zwischen Bildwelt und Beschauerwelt. Einmal kommt eine der gemalten Unsterblichen von der Wand herunter und lebt das sterbliche Leben, und ein andermal sehen die andern Beschauer einen aus ihrer Mitte plötzlich “in das Bild hineingehn” auf dem Weg in der Mitte des Bildes, der sich nach hinten zieht, kleiner und kleiner werden, schliesslich an einen Berg klopfen, es tut sich eine kleine Tür im Berg auf und er verschwindet darin. Einen solche Übergang von der Bildwand herunter zu uns Fleisch = und Blutmenschen behauptete ich für Kant, Schopenh., Nietzsche, …., und du bestrittest ihn, indem du das Vorhandensein des Bildes an der Bildwand des Tempels Eu = Ro = Pa bestrittest und es zu einem Produkt meiner (und ander Leute) gelehrt überreizter Phantasie machen wolltest. Kant und Konsorten seien immer schon unter uns spazierengegangen. Das eben leugne ich. Weder wären uns dann die alten Philosophen (auch Kant selbst, ehe wir sein Rousseauerlebnis kennen) so “unheimlich“. Während uns Schopenhauer und Nietzsche bei aller ihrer Ungemütlichkeit doch nie unheimlich werden.
Nun also nochmal zur Zeitgleichung. Der Gegensatz ist nicht mehr hie Astronomie – hie Biographie, sondern grade nach deinen letzten Briefen ist[‘s] nun doch der Gegensatz zweier Erlebnisse geworden; meines: das autobiographische (übrigens ist es nicht so selten wie du meinst; bez. 1864 – 1871 z.B. haben es sicher alle Mitglieder des Zollparlaments von 1867 gehabt), deins: das des Kriegsteilnehmers (“meins” ist eigentlich das des Heimkriegers), und das ist freilich viel arithmetischer, sonnenjährli-cher, es vollzieht keine Zeitsynthese, sondern es kerbt einfach die Jahre in den Robinson-schen Kalenderbaum, es ist kein geschichtliches Bewusstsein sondern ein reines Zeitbewusstsein, eigentlich repräsentiert durch den Sklaven in Hebbels Herodes u. Marianne, der immerfort herumläuft und sich den Puls abzählt und auf Anfrage nur höchst eilig zwischendurch hervorstösst: ich bin die Uhr. – Aber das willst du am Ende grad?! Dann wäre es freilich gradezu der Leib der Seele, an dem Gott dies historische Weltgericht abhielte, und ich würde, wenn überhaupt, dann lieber vermuten, dass der Geist der Seele das grosse >Wer tut muss leiden< erfahren würde. Dieser Gegensatz zwischen mir und dir : mein “Bourgeois” und dein “Marxisten” ist übrigens schon alt; ich glaube ich habe schon in Leipzig einmal verzweifelt ausgerufen, deine Weltanschauung sei die eines Bruders von 6 Schwestern; und du gabst es sogar zu, dass du deine 6 Schwestern durchaus in den Himmel haben wolltest (während ich sie damals zwar als Frauen durchaus für eintrittsberechtigt hielt, aber als Schwestern nicht). Heut macht mich das Alter dieses Gegensatzes eigentlich misstrauisch auf ihn. Denn ich möchte doch gern auch “Marxist” sein, obwohl ich von Natur aus ganz von Herman Grimm komme und mir vor 15 oder mehr Jahren mal jemand sagte: <ich glaube du möchtest nicht leben, wenn es keine grossen Männer gäbe> – worüber ich damals erstaunte, es aber bestätigen musste. Aber allerdings ich meine auch so schon über diese schroffe und ausschliessliche (oder wie heisst das schwierige Wort?) herauszusein, zum Teil durch Hegel (da hast du “Marx”); ich lasse aber Bismarck nur theoretischstellvertretend für alle stehen, (weil nur der Eine uns genau genug bekannt ist), praktisch aber ist er zwar auch immer noch bloss eine Stellvertretung, aber nicht des Einen, sondern der Vielen (des “Zollparlaments”). Du sagst freilich: wirklich Alle (“jeden Franzosen” erzieht Paris u.s.w.), aber das ist ja einfach nicht wahr; immer nur “den”, nicht die Franzosen erzieht Paris, immer nur Viele und nicht Alle (gewiss die Vielen, die die Wesentlichen sind, die den Kohl der betreffenden “Sache” – “Idee” würde ich sagen, wenn ich wüsste ob du dir die Nägel geschnitten hast – fett machen), und immer nur als wichtiger, aber nicht als einziger Erzieher (was du ja selbst zugiebst, indem du jeden Menschen von allen Mächten erzogen werden lässt). Wären es wirklich Alle, dann wäre ja die Geschichte zu Ende, ganz wörtlich genommen (wenn Preussen wirklich ganz u. gar “militärisch” wäre, dann wäre eben nichts weiter mehr zu bemerken, aber es wäre auch nicht mehr geschichtsfähig – und es ist vielleicht der Grund für den von uns beiden, (von mir freilich erst seit dem 1.VIII.14) geglaubten Tod Frankreichs, das von ihm mit mehr Recht gesagt werden kann: jeden Franzosen erzieht Paris als vorläufig vom Engländer, dass jeden die Kolonie, vom Deutschen, dass jeden das Heer erziehe (ein unpariserischer Franzose ist ein Eigenbrödler, bestenfalls ein Genie; ein unkolonialer Engländer, noch mehr ein antimilitaristischer Deutscher ist durchaus die andre Seite; sowie auch der freigeistige “äusserliche” Katholik grade der Beweis für die Lebenskraftt Roms ist). Also [durchgestrichen] aber das Also ist unnötig. Unnötig ist auch das Folgende: Nämlich wie sonderbar mir es mit der guten alten (gähne nicht! aber es ist dir auch im voraus verziehen, wenn du gähnst) also mit der guten alten “Ökumene” gegangen ist; ich habe sie doch zuhause wieder gelesen (ist übrigens auch sonderbar, dass ich Kassel jetzt anstandslos als “zuhause” bezeichne, während ich früher meine “armen Eltern” immer dadurch entsetzte, dass ich mein jeweiliges Freiburg Berlin u.s.w. zuhause nannte; ich bin eben ganz und gar nicht “Mazedonicus” geworden), also ich las Ökumene und fand, sie ist eigentlich doch nur sehr schlecht (nämlich dünn, vorsichtig, mit Cautelen und mit Gesichtsmaske) geschrieben; drin stehn tut aber eine ganze Menge und es ist doch einfach nicht richtig, dass ich den Imperialismen nur ihre Ursprungsmarke “russisch”, “englisch” etc. anhänge, sondern sie werden wirklich geschildert(nämlich ein jeder 1.) durch die Konstellation des Augenblicks seiner Geburt und 2.) durch seinen “klassischen Moment”) nur geht diese Schilderung dann gleich wieder in die Scheinform des Erzählens ein und löst sich darin auf, sodass ich mich nicht beklagen darf, dass der Leser wie ichs wirklich gesehn habe das eigentlich von mir Gefragte und Geantwortete überhaupt nicht merkt, sondern sich einfach etwas hat vorerzählen lassen. Das Gerüst der Schilderung entspricht sogar genau dir (die “Entstehung” ist deine “Revolution”, der “klassische Augenblick” teils deine “Bestätigung” , teils deine “Sühne”) nur dass ich wie schon so ein teils teils zeigt eben mir selbst durch das “Erzählen”, den verdammten gemütlichen Plauderton dieser unzulässigsten und wenn man einigermassen bei Kräften ist überdies auch langweiligsten aller Wissenschaften, also mir selbst durch das “Erzählen” genau so das Licht verstellt habe wie meinem Leser und infolgedessen die Fragen alle vergnügt in angeschnittenem Zustand gelassen habe, ganz beruhigt, denn da die Dinge ja in dem Bächlein der “Geschichte” sozusagen von selbst in die Gegenwart hineinschwimmen und die Gegenwart ohne weiteres sich als handgreiflich legitimiert, so war ich nicht in Sorge, ob sie nicht bei der langen Reise unterwegs alles verloren hatten und nur noch als kahle “made in Germany England Russia” = Schildchen in die Gegenwart hineingeschwommen kämen. Wie doch offenbar der Fall ist – Beweis, dein Eindruck.
Heut ist Sonntag und es kommt mir komisch vor, dass es erst eine Woche her ist, dass wir zusammen waren; die grosse räumliche Entfernung fühlt sich an wie eine zeitliche. Aber es war doch schön, der eine Tag, – obwohl der eigentlich wichtige und neuartige Teil unsres Zusammenseins glaube ich in den zwei Wochen vor diesem Tag gelegen hat, ehe du in Person auftratest. Ich glaube sogar du musst es ähnlich empfinden. Deine Frau ist ganz curtiushaft (- oh weh! ich meine natürlich die römischen Ritter, und nun wirds fast ein Kalauer!) entschlossen in den Abgrund von Vergangenheits = und Atmosphärelosigkeit gesprungen, der in unserer (eben ganz und gar nicht “Jugend” =)Freundschaft klaffte, und hat ihn zum Schliessen gebracht, und jetzt ist es erst richtig. Oder wenigstens beinahe richtig. Deine infame Verabschiedung behält ja recht. Also es grüsst dich der – (aber er kann ja nichts dafür!) – “unverheiratete Doktor”.
29.VII.17
L.E., oh weh – die neue Mehrheit! ja gewiss: schwarz und rot sind da, aber das Gold der Kaiserkrone ist verschwunden und statt des wahren Reichs = Kanzlerskommt der Staats = Kommissar, – ein graubraunes Männchen (wenn du denn Farben haben willst) mit einer dunkelblauen Schutzmannsuniform. Ja freilich hat er keinen “Humor”, das “auch” schenke ich dir gern, denn Bethmann hatte – zwar nicht Humor, aber das was das Wesentliche des Humors (the humour of it) ist, nämlich den húmor, das gewisse Etwas, worin die sachlichen Sachenschwimmen, das bischen Menschhaftigkeit – vgl. das Gespräch mit Gorschen [?], den Passus über Belgien am 4.VIII., das Brögerzitat – kurz vgl. all das, was die Deutschen seine Entgleisungen und seine Dummheiten nennen (womit die Deutschen zeigen, dass sie recht europäisch sind, ich meine europaläufig, weltläufig). Nein, was bleibt, ist das Schwarz = rot eines rechten Schwabenstreichs; und dass sie (Erzberger u. Gefolge) nicht wussten was sie taten, ist in diesem Fall keine Entschuldigung (weil es in der Politik als welche die Kunst des Augenblicks ist, überhaupt keine Entschuldigungen giebt; was du hier von der Minute [?] ausgeschlagen, u.s.w.).
Ich bin also vollkommen down und nehme keinen Anteil mehr an den Dingen. Die Deutschen haben ihrem guten Gewissen vo[r?] Kriegsausbruch einen Fusstritt gegeben, – denn das war Bethmann – und alles folgende ist nun nur “Liquidation”, die mehr oder weniger günstig ausfallen mag – was geht das mich an; an dem Geschäft dieses Krieges bin ich nur mit einer Einlage beteiligt, deren Verlust ich zur Not auch verschmerzen könnte; das Gewissen aber war auch meins.
Von Hans habe ich noch nichts gehört; aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er noch an sein Sammelbuch denkt. Für wen denn jetzt? (Wäre doch Hertling auf Bethmann gefolgt! das hätte geheissen: > wir verzichten auf das “klar und offen” unsres Gestern, weil wir auf das Morgen nicht bloss “hoffen” wollen sondern voll davon sind und es im Rausch schon wie Gegenwart ergreifen<. Aber das Heute +) allein – und das ist Michaelis besten Falls – ist gar nichts, ist möglich in einem untergeordneten Gliedleben, aber nicht im Leben des Haupts). Ich schickte Hans sogar auch noch, von hier aus, ehe ich von den Ereignissen wusste, einen Aufsatz (“Nordwest und Südost”); ich glaube damit sind meine “politischen Jugendschriften” jetzt zu Ende.
Deine urlaubsmässige Kürze ist schon entschuldigt; ich habe es ja genau so gemacht und weiss wie es kommt Allerdings hast du an Rudi länger geschrieben. Ich habe ihm daraufhin auch gleich geschrieben sodass er sich vorkommen muss wie Odin mit zwei Raben. Du nimmst die einzelne Predigt etwas stärker dogmatisch als – nicht als er sie selbst nimmt aber: als sie genommen werden darf. In Wirklichkeit geben erst die ganzen 50 oder 60 Predigten zusammen eine einzige. Er ist eben auch hier viel mehr Dichter als es den Anschein hat und weiss nicht was er sagt. Du in andrer Weise ja auch nicht. Du nimmst mit geschwinder Dialektik einen korrespondierenden Standpunkt ein und hältst von da aus eine Predigt, die jeder der nicht entweder dich kennt odersehr genau den “Text” (Epheser 2) im Auge behält, vollkommen missverstehen muss (kurz gesagt: als eine Philippica). Du verbietest ja, aus dem Gefühl der eignen gegenwärtigen Gesundheit heraus, Rudi, zum Arzt zu gehn, und das muss und kann er doch nur selbst wissen, ob er es nötig hat.
Julius Caesar? und warum denn? hättest du ihn wenigstens gleich mitgeschickt (etwa wegen Brutus?). – Ob du wohl die Kronenwächter kennst, von Arnim, ein ebenso schlechtes wie schönes Buch (bei mir eine Folgeerscheinung der Eichendorffschen Litteraturgeschichte). (Reklam). Es kommt alles darin vor und bleibt doch alles (nicht bloss äusserlich) fragmentarisch. Der Wilhelm Meister ist ein rechter Verderb für die Späteren gewesen.
Ich wünsche jetzt nach Bethmanns Sturz den Frieden ganz privat und persönlich, obwohl ich mich – auch – davor fürchte.
Was soll denn Michaelis mit Österreichern und Ungarn und Bulgaren und Türken anfangen? Dieser Genitivus objektivus eines höchst persönlichen subjekthaften Nominativs. Dann schon lieber Hindenburg selbst!
Trostlos, hoffnungslos, reichsfeindlich
Dein F.
+ “wirkst du heute kräftig frei”
29.VII.17
Liebes Einzelwesen, – denn das bist du ja nun wieder seit Tagen und bis dieser Brief ankommt schon wieder so lange, dass du schon wieder dran gewohnt bist. Es ist und bleibt scheusslich, diese Zeit nach einem Urlaub; ich fühle mich auch noch gar nicht wieder recht in meinem Bärenfell. Der Sonntag zwischendurch in Menschengestalt war zu schön. Dazu kommt jetzt noch für mich die Verstimmtheit (und mehr) über die politischen Ereignisse; ich habe mich eben an Eugen darüber ausgeschrieben, er wird es weniger schwer nehmen als ich, eben weil er weniger in “grossen Männern” denkt als ich.
Dass ich sooft zwischen dir und mir im Plural den Trennungsstrich gezogen habe, ist mir gar nicht mehr bewusst. Es geschieht eben so selbstverständlich, dass ich darüber in Gefahr bin, die persönliche Wirkung auf mein armes harmloses Gegenüber ganz zu vergessen. Aber die Brücke ist ja da (Woher übrigens weisst du sie “jetzt“?). Sie ist für die beiden Plurale, die “Wir” hüben und drüben, die Gemeinsamkeit der Hoffnung und selbst der – trotz teilweis dos-à-dos darauf Stehens – gemeinsame Grund und Boden dieser Hoffnung. Dies letzte war mir in dem Gespräch zwischen Eugen und mir nachts wo du dabei warst wieder so deutlich; ich sprach die Worte gewissermassen aus dem Hebräischen übersetzt und er hörte sie als wenn ich ihm Neues Testament zitiert hätte; es waren aber die selben Worte. (Z.B. einmal das Wort “Weg”). Das ist die Brücke für die Plurale. Man beschreitet sie aber in der Gegenwart (und in aller Zeit) nur im Geist. Dagegen die Singulare, das Ich und das Du, schlagen sich ihre eigenen Stege, und darauf kommen sie wirklich, in aller Gegenwärigkeit, zusammen. Alles persönliche Zusammenkommen ist ja eine Vorwegnahme der letzten grossen Hoffnung, und eine erlaubte, vielleicht die einzige ganz fraglos erlaubte. Freilich ohne Geländer sind diese Stege und man kann bös herunterfallen; ich habe Eugen nie erzählt: ich hatte vor dem Du eine fast abergläubische Furcht; vor jetzt mehr als 7 Jahren hatte ich ein sehr böses Freundschaftserlebnis, mit verhängnisartiger Schuldlosigkeit auf beiden Seiten; das hat lang in mir nachgefressen und ich fühle mich eigentlich erst seit wenigen Jahren wieder befreit davon; und jener Rest von Aberglaube hat sogar noch bis in die letzte Zeit nachgewirkt. Man bleibt eben selbst doch immer “der Alte”, belastet mit der ganzen eignen Vergangenheit; und nur an neuen Menschen wird man selber neu und erlebt wieder innere Morgen und Vormittage.
Es grüsst dich, liebe Neue,
Dein Franz.
August 1917
6.VIII.17
Liebes Gritli, – denn Eugenia geht wirklich nicht, schon wegen der Konkurrenz mit der Kellerschen Legendenperson. Überhaupt bin ich nun schon enturlaubt (“hier steh ich, ein enturlaubter Stamm”), dass ich gar nicht mehr weiss, was ich mir denn für hässliche Bemerkungen über deinen Vornamen gestattet habe. Ich revoziere und depreziere.
Also Eugens Politicum, das eben ankam, ist entstanden an dem Tag des grossen Malheurs, am 14.VII. (die Franzosen hatten Grund, den Tag zu feiern); ich habe eben noch mal nachgesehn, von wann dein Brief mit dem Bild des im Gartenkäfig auf= und abwandelnden Löwen war. Es ist nicht sehr gut geschrieben, nämlich weder über den Leser hinweg, sodass der gezwungen wäre hinzuhorchen, noch Auge in Auge mit dem Leser, sodass immer wenn der Leser ein verständnisloses Gesicht macht der Schreiber sofort mit seinem “Das heisst verdolmetscht” bei der Hand wäre. Das zweite mindestens wäre zu verlangen. So wird der Aufsatz ein Schlag ins Wasser werden; die Farbensymbolik bleibt ganz tot (er setzt ungewollt Kenntnis des “Dreifarbenbands” voraus); die Teile sind zueinander unproportioniert, und es geht auch kein fortreissender Wind durch das Ganze, es – lahmt. Inhaltlich ist es sicher gut. Das (für ihn selbst) Neue darin (das, was er auf jenem Gartenspaziergang gesehn hat) – das Verhältnis von Reichstag und äusserer Politik – war mir auch neu und ist letzthin wahr, aber mit dem schäbigen Erzbergerschen Augenblick hat es gar nichts zu tun, der ist eine Parodie auf diese Wahrheit. Erzbergers “Tat” war das Gegenteil von Politik, war eine Revolution des deutschen Spiessers, des selben Ewigen Deutschen, der zu Kriegsanfang sagte: unsre 42er werden es schon machen, und nachher “unser Hindenburg”, und der jetzt seine Enttäuschung hervorspritzte, dass unsre U-boote nicht wie doch fest versprochen, England “bis zum 1.VIII. auf die Knie gezwungen hätten”. Also Kriegspsychose, die ebenso haltlos im umgekehrten Fall (eines “auf die Kniee gezwungenen” Englands) in Machtnationalismus machen würde. Grade weil es so ist, würde ich nun allerdings wünschen, dass das politische Ideal in diese jämmerliche Gegenwart hineingestellt würde. Eugen wills, tuts aber nicht. Ich glaube, in einem Flugblatt geht es im Augenblick überhaupt nicht (weil nämlich der Augenblick augenblicklich überhaupt nicht die sichtbare Illustration zu den kurzen Flugsätzen des Flugblatts abgiebt, der Augenblick ist augenblicklich ein nervöser Krüppel). Sondern der Gedanke muss sich augenblicklich wohl oder übel schon selbst illustrieren, d.h. Eugen muss die kurze Flugschrift zu einem ausgeführten wenn auch kurzen Buch (ca 120 Seiten) von einer gewissen ruhigen Breite umschreiben. Das wird eine Arbeit von 14 Tagen für ihn sein. – Das wirkt dann wie Naumanns “Mitteleuropa”, als ein Ding für sich, das am Wege steht und wohl oder übel gesehen wird. Das Buch muss nicht lang sein, aber grade so lang, dass auch für die Armen im Geiste und vor allem für die Schwachen im Magen (und das ist ja jetzt das ganze Civilpublikum, – ich führe auch die Reichstagsereignisse des Juli grösstenteils darauf zurück) kein Satz dunkel und kein Gedanke bloss glänzend oder abenteuerlich bleibt.
Die Frankfurter wird den Aufsatz kaum nehmen, Max Weber wird ihn als etwas “litteratenhaft” – so wie er, der Staatstechniker, das Wort versteht – empfinden.
Dank für Vermeylen; ich hatte schon in Kassel brieflich deswegen alarmiert! Und du schwimmst in Manuskripten, – arme nun doch beinahe Siebenlegenden-eugenia! Nein, um Himmelswillen kein Tagebuch “Gespräche mit Eugen”, du bist doch seine Frau, du brauchst dir doch nicht von ihm imponieren lassen; meinetwegen alle sonst, aber du nicht. Zu dem Zweck (dass du dir nicht von ihm imponieren lässt) hat er dich ja geheiratet. Überdies, weisst du, dass Eckermann 1823 verlobt nach Weimar kam, mit der Absicht, “demnächst” zu heiraten, und dass aus dem “demnächst” das Jahr 1832 wurde? Wer also eckermännern will, der gehe hin und tue desgleichen; für dich ists aber für diese Wahl schon zu spät; du hast “Eugen” gewählt, und die Nachwelt muss sich wie mit so vielem so auch damit abfinden, dass einige von “Rosenstocks” goldnen Worten durch “Gritlis” Schuld verloren gehn. Tröste dich und sie mit dem, ich glaube durch Eckermanns Verdienst geretteten, goldnen Wort: “Litteratur ist das Fragment der Fragmente; das wenigste von dem was gedacht, ist aufgezeichnet worden, das wenigste von dem, was niedergeschrieben wurde, ist bis auf uns gekommen”. Und überhaupt ist das Wort ja nicht dazu da, “aufbewahrt” zu werden, sondern beantwortet, und wenn es gar keine Schrift gäbe, so müsste und würde die Menschheit auch in Wort und Antwort und Widerwort = Wiederwort ihren Weg bis zum letzten Wort des jüngsten Tags finden.
Lutz[?]ist das Halbfabrikat, nicht? Eugens Aufsatz geht gleichzeitig ab. Es grüsst dich und den Verfasser
sein F. und dein Franz.
10.VIII.17
Liebes Gritli,
das “17” schreibe ich immer mit einer gewissen gêne scheu hinzu; es enthält den Anspruch auf Aufgehobenwerden des Briefs und obwohl ich wie du weisst ein sehr genauer Briefaufheber bin, ist es beim Schreiben selbst doch ein dummer Gedanke. Über Eugens Brief an Rudi habe ich mich schon längst an Rudi ausgetobt und glaube ich nachher auch an Eugen noch etwas. Z.T. das selbe was Rudi auch schreibt, wo er die bestehenbleibende Verschiedenheit sieht; ich habe Rudi freilich gewarnt, Eugen selbst allzusehr beim Wort Eugens des Polemikers und Briefschreibers zu nehmen; Eugen hat die Neigung sein Gegenüber und sich auf eine Wippschaukel zu setzen, wenn er dann der Erde nah kommt, dann sieht er mit Vergnügen wie der Gegenüber gen Himmel fliegt und umgekehrt. Will man den richtigen, ganzen Eugen haben, dann muss man ihn rösten, statt sich von ihm rösten zu lassen. Wenns ihm dann heiss wird, schreit er und bekennt alles, den ganzen Eugen, – was er um keinen Preis gesagt hätte, solange er noch selbst Holz zum Scheiterhaufen trug. – Ob und wie Rudi “Dichter” ist, das sieht, wer es sieht, auf Bogen IV des Briefs in den drei obersten Zeilen. Sie sind wohl der Grund der Predigt, die er jetzt schreibt. Es ist mir aber im Grunde sehr einerlei, ob er ein Dichter ist, wenn er nur – na ja. Aber insofern meine Laubfroschehre dabei engagiert ist, halte ich seine Dichterschaft gegen Eugen doch aufrecht. Hingegen das “Naturwissenschaftliche”? Wenn Eugen doch nur einmal Zeit und Fleiss fände, das wirklich kennen zu lernen, bloss damit er sähe, dass alle geisteswissenschaftliche Trottelei noch nichts ist gegen die Kümmerlichkeit der Naturforscher. Jeder philolog. Oberlehrer hat immer noch mehr Ahnung von dem worauf es ankommt (dem oben sogenannten “na ja”) als Helmholtz selbst. Aber das glaubt Eugen nicht, obwohl es die oberflächlichste Erfahrung stündlich zeigt, und biegt ganz anders gemeinte Äusserungen Rudis so zu recht dass sie ihm passen. Das einzige, was die Naturwissenschaftler vor den andern voraus haben, ist, dass wenn sie zur Einsicht in ihre Dummheit gekommen sind, sie vollkommen frisch für die Wahrheit sind (weil sie nämlich bis dahin überhaupt nichts mit ihr zu tun gehabt haben), während der Geisteswissenschaftler schon allerlei unsaubere Geschäfte mit ihr gemacht hat und deshalb keinen so reinen Tisch vor sich findet. Das ist wie das mit dem bekehrten Sünder; weshalb freut man sich da im Himmel so sehr? (der “Gerechte” ist doch auch was wert) der bekehrte Sünder geht eben mit der ganzen Verve des neuen und infolgedessen gut kehrenden Besens an die Arbeit, während der Gerechte schon etwas stumpf gekehrt ist. So ähnlich der Naturwissenschaftler,wenn er … (ich denke da grade an Rudi selbst, und auch noch an einige andre). Aber im übrigen – ich habe gut zwei Jahre an dieser harten Speise gekaut. Manchmal glaube ich, es sei eher umgekehrt: die Naturwissen-schaft brauche gradezu die Befruchtung der andern; die Entwicklungslehre scheint ja ein krasses Beispiel dafür zu sein. Aber revenons à notre mouton Eugène: er braucht sich seinen Weg nicht “bestätigen” zu lassen, sicher aber nicht von denen, mit denen er gar nichts gemein hat. Seine Methode ist, wenn irgendwas, dann immer noch eher “philosophisch” als naturwissenschaftlich. Ich würde sie aber, (ohne ihre Wahrheitsmög-lichkeiten damit im geringsten anzweifeln zu wollen) ruhig alspoetisch bezeichnen.
Hoffentlich schreiben sie sich weiter; für Rudi ist es gradezu eine sanitäre Notwenigkeit, für Eugen eine kleine Arbeit und eines Tages wird er auch etwas davon haben. – Auf Jensen bin ich gespannt. Ich lasse auch grade über Kassel ein Buch an Eugen gehn, von Kleinpaul, einem sehr lustigen Sachsen, worin aus der Sprache bewiesen wird, dass der Mensch keine Seele hat. Er übereugent Eugen und soll wie immer diese persönlichen “Über”menschen der Pfahl im Fleisch, der Satansengel sein, der ihn mit Fäusten schlägt. Und, da ich bei Büchern bin: der Vermeylen ist auch eins, aber doch bloss ein Buch; ich habe selber nichts damit anfangen können, wenn es möglich ist, so schreib mir doch, was Eugen dir darüber oder dazu geschrieben hat; vielleicht dass mir dann noch nachträglich etwas aufgeht, – obwohl ich kein rechtes Zutrauen dazu habe. – Eugens Weigerung oder Zusage zu Hansens Sammelbuch nehme ich wirklich nicht tragisch. Nämlich 1.) habe ich das Sammelbuch nie tragisch genommen, sondern war immer überzeugt, dass nichts daraus wird, und fand es nur lustig daran zu denken, auch nützlich zur Hervorlockung von Aufsätzen aus Hans und aus mir – und 2.) weiss ich jetzt, nach Bethmanns Sturz überhaupt nicht mehr in welchem Land das Buch erscheinen sollte – in Deutschland sicher nicht; der neue Ton verlangt andre Musik.
Rauher Kriegsmann? der Gedanke ist noch phantastischer als die Universität Salzburg mit Staffage. Aber da ich hauptsächlich auch in Zukunft u. Vergangenheit herumphantasiere – die Gegenwart mit dem rauhen Kriegsmann existiert nicht genug – so habe ich auch schon manchmal ähnlich geträumt. “So oder so ähnlich”.
Das eigentliche Gleichnis des Geschehenen steht bei Treitschke im 2. Band: die preussische Ministerkrise von Ende 1819. Innerhalb der gleichen “Richtung” der Kampf der konträren Gesinnungen, Humboldt u. Hardenberg. Äusserlich giebt es nur einen Stellenwechsel der Gesinnungen, aber in Wirklichkeit hat die feindliche Richtung gesiegt; und nun geht es unaufhaltsam auf das Jahr 48 zu. Auch “weiss” bis heute noch niemand, was eigentlich der “Grund” für den Gegensatz zwischen Humboldt u. Hardenberg war; auch über die Ereignisse vom 7.-12. Juli 1917 wird man sich noch in 100 Jahren streiten, und doch ist es schon heute klar. – Das ist alles sehr weise; aber – hang up philosophia, can she make Juliet?! (übrigens Bethmann als Julia ist nun doch eine schwierige Vorstellung und dieser Bogen reicht nur noch für die – unchiffrierte Unterschrift
Deines und seines Franz
13.VIII.[17]
Du hast mich ganz verwirrt gemacht, nicht durch das grosse βιογαμμα παραλληλον – das ist ja so klar, wie es eben seit Ende vorigen Jahres “eigentlich” zwischen uns ist (was wir uns 1917 geschrieben haben, ist ein neuer Anfang und hat sozusagen nichts mit unserm Briefwechsel von vorigem Jahr zu tun), aber du hast mir den Boden jenes Briefwechsels von 1916 erschüttert. Rudis Vertrauensbruch einmal geschehen (ich kann mich darüber nicht freuen; was du von der notwendigen Schamlosigkeit sagst, ist richtig, aber die begins at home, am eignen Leib und nicht auf Kosten andrer, eines Freunds, einer Frau. Das bleibt grauenhaft und untergräbt die Möglichkeit alles interhumanen Verkehrs genau so wie die notwendige Schamlosigkeit, die, gegen sich selbst, ihn begründet, nota bene wenn sie Wahrhaftigkeit ist, d.h. sich genau so weit von dem Zuviel entfernt hält wie von dem Zuwenig; das Zuviel – und was “zuviel” ist, bestimmt sich nach Umständen und “Publikum” – das Zuviel verstört die Wahrheit genau so wie das Zuwenig). Aber einmal geschehen: was hast du mir dann nicht gleich gesagt: dies und das weiss ich von dir aus dritter Hand, so hätte ich gewusst mit wem ich spräche und hätte nicht (wie ich jetzt weiss) meine Sprechmaschine leer laufen lassen, soundsooft. Wie musst du manches, was ich dir schrieb belächelt haben! und hast mich sogar noch aufs Eis gelockt, fragst mich ob ich den Hebräerbrief kenne und derlei. Es ist mir unbegreiflich, wie du das hast machen können. Das war ein Spiel. Gewiss es war auch von mir nicht letzter Ernst, weil ich eben den letzten Ernst unsrer Auseinandersetzung schon hinter mir hatte, in der zweiten Hälfte des Jahres 1913, aber wenigstens das Contumaz = Urteil nachträglich nochmal durch eine richtige beidseitige Verhandlung zu bekräftigen, das war mir Ernst; ich habe da alles vorgebracht, wofür ich bei dir Gehör voraussetzen konnte – ich wusste ja nicht, dass du mit überlegen zurückgehaltenem Wissen mir gegenüber standest und mich nicht bloss fragtest (“peinlich” fragtest, wie es sich gehört) sondern mich obendrein noch examiniertest! Sag – brauchst du denn noch diese ganze Katechisation? hättest du nicht alles – nun kurz: alles was du jetzt wieder in dem Parallelbiogramm formulierst, schon ebensogut zu Eingang wie am Ausgang jener Korrespondenz formulieren können? Oder bist du wirklich so – gelehrt umständlich, dass du die chemische Analyse nötig hast um zu glauben dass aus dem Brunnen, den du nächtlich singen gehört hast (schon gehört hast) wirklich – Wasser fliesst?
Vielleicht bin ich zu hart und eng, – mein Herzensteufel ist nicht der “Grossinquisitor”, sondern der Polizeipräsident -, mag sein, es wird mir auch schwer genug, bei der ungleichen Vierzehntägigkeit des Hin und Hers, die ich heut zum ersten Mal empfinde, dir das zu schreiben; ich könnte mich ja an den Ausgang halten, an das Biogramm und alles gut sein lassen. Aber mündlich hätte ich auf jeden Fall gesprochen und so tue ichs doch lieber schriftlich auch.
Aber nein – ich frage mich immer wieder: wie konntest du unausgesetzt auf mein Benehmen im Juli 1913 zurückgehn und so als ob du nichts von dem Lauf der beiden Planeten nach der Katastrophe wüsstest, und so aus mir stückweise die Dinge herauslocken. Ich kann es nicht begreifen. Du markiertest ja gradezu die noch vom Juli 13 her beleidigte Leberwurst und ich wusste kaum wie ich dich begütigen sollte.
Ich weiss überhaupt vom Juli 13 weniger wie du. Von einem katastrophalen Gespräch Ende des Monats mit Ausgangspunkt Kierkegaard überhaupt gar nichts. Meine Erinnerung bricht ab bei dem für mich katastrophalen Gespräch nachts vom 7. auf den 8. Juli (du, ich, Rudi dabei, im Esszimmer bei Ehrenbergs, Ausgangspunkt das Antichristbuch der Lagerlöf, wo ich allerdings dich zu anfang in dem Ton “Gewogen u.s.w.” behandelte, eine Folter die du nicht ertrugst, sondern endlich einmal dein Geheimnis sagtest – denn weil du viel sprichst, bist du gleichwohl nicht weniger schamhaft, du!!!! und lässt den “Grossinquisitor” und den “Heiden” deine Geschäfte besorgen, bloss um den Christen sans phrase im innersten Winkel deines Doms still knien zu lassen – also du sagtest dein Geheimnis, warfst mich eben dadurch sofort von meinem angemassten Richterstuhl herunter, stiegst selbst hinauf und verhörtest mich in Grund und Boden, zerrissest mein künstlich vor mir selbst gesponnenes Alibi, bis ich mir selbst mein Geständnis ablegte und das alibi auf das ibi zu übernehmen mich gezwungen sah. Von da ab weiss ich zwischen uns nichts mehr (einmal, weiss ich, haben wir auf dem 8eckigen Flur vor meinem Zimmer am Rathausring nochmal gesprochen, ich fragte dich glaube ich nach den Sprachen oder nach dem Krieg oder nach beiden und verstand deine Antwort nicht; aber das ist das einzige was mir noch dunkel vorschwebt; im übrigen war ich einfach auf den Mund geschlagen, noch viel zu nahe jenem völligen vis – a – vis du rien mit dem ich an jenem Morgen nach der Nacht in mein Zimmer gekommen war und meinen Browning “6,35” aus der Schreibtischschieblade nahm. Ob mich Feigheit oder Hoffnung damals abgehalten hat ihn zu gebrauchen weiss ich nicht; und werde es auch nie wissen, hier unten wo es ein “Frohlocken” doch nur “mit Zittern” giebt. Was also in der Zeit danach bis zum Monatsende noch vorgefallen ist, dafür bin ich ohne Verantwortung, ich war nicht mehr “dabei”; so ist mir allerdings auch nicht zu Bewusstsein gekommen, dass ich dich irgendwie getroffen oder gar erschüttert hätte; ich meinte, du müsstes mir meine Zerbrochenheit in jener Nacht angesehn haben; sie zu verbergen hatte ich gar keine Kraft mehr übrig.
Ehe wir uns schrieben, ja schon im Sommer 14 kurz vor Kriegsausbruch, wollte ich immer das Gespenst meines grossen Alibi der Jahre vor 1913 einmal schriftlich aufstellen und die einzelnen Stösse, mit denen du es zerrissest. Aber ich raffte mich nie dazu auf und nun ist es auch nicht mehr nötig. Das Biographische ist freilich nicht nachzuholen durch keinerlei Indiskretionen über unser Vergangenes, – wir sind uns im Weltäther begegnet, mit unsern Gestirnen, nicht als die Menschen als die wir unten herum laufen. Aber auf manchen Planeten giebt es ja auch Atmosphären und da mag dann etwas eigenes wachsen.
Aber überhaupt gehen ja die Menschen einander auf und unter wie Gestirne, die solang sie sichtbar sind, zugleich Ursprung (oder wenigstens Durchgang) und Urkunde für das Schicksal des Menschen in dieser Zeit bedeuten. Nur die “Haus” = genossen sensu strictissimo wirken auf unser Schicksal nicht wie Gestirne sondern wie der Erdboden. Nur bei ihnen ist eigentlich das Biographische aufbewahrt. Der Rest ist – Horoskop. Biographisch ist nur das was sich nicht zwischen mir und dir abgespielt hat, nicht zwischen Planet u. Planet, sondern von Haus zu Haus, – so wie man einander grüsst.
Das tue ich. Du brauchst das dumme Zeug zu Anfang dieses Briefs nicht zu schwer nehmen, gesagt u. gefragt musste es werden, aber nun ist es eigentlich schon wieder vorbei und ich spüre nur noch dass ich dich, – bei jederAntwort, (auch bei gar keiner) und nicht bloss planetarisch nach Newtonschen Gesetzen, sondern direkt und gesetzlos – liebhabe.
Dein Franz.
19.VIII.17
- E., ich schreibe an dich – und gebe dir zu bedenken: – ach ich gebe dir gar nichts zu bedenken. Wenn du diese verhungerte (denn diesmal bin ich so naturwissenschaftlich, darin den Grund der Juliereignisse zu sehen) also diese verhungerte Parlamentariergesellschaft mit ihrer heiligen Angst vor der eignen Courage Paulskirche nennst – habeas. Da kann ich nicht mit. Selbstverständlich ist B. nicht über die Resolution zu Fall gekommen, (sondern durch die direkt an den Kaiser gerichteten Misstrauensvoten des Centrums und der Nationalliberalen); aber die beiden Ereignisse waren Asudruck der gleichen Depression. Jetzt ist das Deprimiertsein, wie Loyd Georges Rede (gegen die Schwarzseher) unwiederleg-lich beweist, an den Engländern; Flandern + Cernowitz (+ Uboot) hat da das Fass zum Überschwappen gebracht. Es wird wirklich noch diesen Herbst mit den Verhandlungen angefangen werden (ich bleibe sogar bei “September”) und die mesopotamische und syrische Bewegungsfront wird den nötigen Dampf dahinter machen. – Übrigens glaube ich nicht an die Geschichte von den unausgeführten Befehlen, das ist typisches deutsches Vordertreppengeschwätz, eben die Nervo-sität aus der die Juliereignisse entsprungen sind. Meinecke sprach auch derartige Sachen, man kann sich dem nicht entziehn wenn man zuhause ist; aber ich habe ihm ins Gesicht gesagt, ich glaubte es ihm nicht. Die Leute sind viel zu verhungert, um noch Gerüchte sieben zu können. Diese Realität der Hunger durfte zur Revolution führen – die war ein solider Ausdruck für jene solide Tatsache -, aber nicht zu der besinnungslosen Bethmannpreisgabe. Ich glaube die Kanzler-stürzer von links wollten jetzt schon, sie hätten sich lieber besser in den Zügeln gehalten, statt sich selber durchzubrennen.
“Graubraun” – hast du die Auszüge aus seinen Schriften in der Frankfurter Ztg. gelesen? So ein wunderschön korrektes “persönliches Christentum”. Alles “stimmt” und nichts lebt. Ich habe selten so eindrücklich gesehn, dass das Herr Herr sagen, und sei es noch so ehrlich, wirklich noch gar nichts ist. Vive le paganisme! (nämlich: écrasez le malheureusement absolument pas infame!)
Also nun machst du ein eignes Sammelbuch. Wenn Hansens wider alles Erwarten einen Verleger findet, so gieb einfach deine Aufsatzgruppe hinein. Sie würde wirklich hineinpassen und in ihrer Masse ja auch nicht im übrigen verschwinden. Über die Wiedergeburt des R.tags schrieb ich schon an Gritli, was ich meine; aber 6 Aufsätze zusammen geben vielleicht die Breite und Eindringlichkeit, die dem einzelnen wie mir schien fehlte. Hans scheint auch weiter Bethmann widmen zu wollen, ist aber im übrigen nicht deprimiert, genau wie du; er bläst auch in das allgemeine Horn: persönlich nicht mehr fähig, den Abschluss zu finden. – Du bist bei Spinoza und ich trabe brav hinter dir her und bin bei Schopenhauer, von dem ich auf der Fahrt hierher das (ausgezeichnet gemachte) 50 Pf. = Ullsteinbuch (auch viel Briefe an ihn) fand und mir nun die Reklamausgabe der Briefe kommen lies. Dabei lerne ich auch seine Philosophie wieder kennen, die ich 1909 zu spät (weil schon südwestdeutschkantisch und =hegelsch klüger) und zu früh (weil noch ein dummer Junge) getrieben habe. Natürlich finde ich auch lauter “Bestätigung” aber ich glaube ich würde mich genieren das meiner Frau zu schreiben, denn es ist ja eine reine Selbstver-ständlichkeit. Von dem Augenblick an, wo man zum ersten Mal “denkt”, wird alles Lesen nur noch Bestätigung +); und Zurechtweisung erfährt man von da abnur noch im Denken bzw. Sprechen. Das εύρηκα der Bestätigung beim Lesen, ist eine Selbsttäuschung die man nicht auf andre verbreiten sollte; oder der andre müsste wissen, dass dies εύρηκα nur ein sich seines Fleisses rühmen ist, was bekanntlich jedermann darf.
Ich schicke dir zwei Zeitungsartikel die dir vielleicht entgangen sind. Der eine als Bestätigung, der andre als Zurechtweisung.
+) das Buch kann sich ja nicht wehren.
- August 1917
Liebes Gritli, der Brief ist da, das Manuskript noch nicht; es ist auch grade eine kleine Postunterbrechung für mich; vor übermorgen kann ich es nicht haben. Die Karamasoff sind eine gute Entschuldigung, ich finde es ist alles mögliche, wenn man sich die Zähne putzt solange man an dem Buch ist; ich las es vor bald 9 Jahren zu Semesterbeginn in Freiburg und sass drei Tage lang neben meinem unausgepackten Koffer. Das macht, dass es abgesehn von allem andern ein vollkommenerKriminalroman ist; und Kriminalromane sind ja sowieso die schönsten. Aber im vollen Emst. Es giebt glaube ich ja überhaupt keinen Dostojewskischen Roman, der nicht um ein Verbrechen herum geschrieben wäre. Aber das Verbrechen ist ihm immer nur das technische Mittel, etwas sichtbar zu machen, was unsichtbar ist und was er eigentlich meint: das Böse was in des Menschen Herz “von Jugend an” ist. Er sagt Verbrechen und meint Sünde. Oder: er spricht in der dritten Person (tut so als ob er erzählt) und in Wirklichkeit spricht er in der ersten und sagt “ich bins” und zwingt den Leser ihn zu unterbrechen: “nein ich bins”. Den alten Karamasoff – wer hätte ihn nicht ermordet? wer ist nicht wild wie Mitja oder kultiviert wie Iwan oder verderbt wie der Diener genug dazu?? Roh genug, klug genug, gemein genug? Und wer könnte sagen, er sei wie Aljoscha, unfähig dazu? Niemand ausser ihm, und er selbst würde es nicht sagen, weil er es nicht weiss, dass er anders ist wie seine Brüder, sondern vor seinem eigenen Herzen ist er wie sie. Wegen dieser “Indiskretion” ist das Buch “qualvoll”, was ein Vorwurf nur wäre, wenn es wirklich ein Kunstwerk wäre, denn da gehörte es sich allerdings zwischen hell und dunkel zu unterscheiden und zwischen geheim u. offenbar; es ist aber eine Beichte, also das vollkommene Nein aller Diskretion. Die Beichte ist freilich nicht das Letzte, aber Dostoj. ist hier dabei stehengeblieben; nicht mit Absicht – ich weiss nicht ob du weisst dass die Brüder Karam. nur das Vorspiel zum eigentlichen Roman sein sollten, dessen Held Aljoscha werden sollte; aber er ist gleich nach Vollendung der Karamasoff gestorben und hat es Russland überlassen, zu zeigen was aus Aljoscha wird. Vielleicht erleben wir jetzt den Anfang dieser Testamentsvollstreckung. Vielleicht aber ist es symbolisch gewesen, dass Dostojewski starb, als er Russlands Möglichkeiten ausgesprochen hatte und nicht mehr zur Verwirklichung kam; vielleicht wird so auch Russland der Weit den “eigentlichen” Roman schuldig bleiben. – Dostojewski selbst hatte freilich schon einmal einen “Aljoscha”-Roman geschrieben, aber einen tragischen (und der wäre der richtige Aljoscharoman nie geworden). Nämlich im “Idiot” wird vorgeführt, wie ein Aljoscha (ein fertiger, aber der “Idiot” in den Augen der andern) zuseinem “Verbrechen” kommt, allmählich, unbegreiflich (ich weiss schon jetzt, nach drei Jahren, nicht mehr wie) aber unausweichlich. Dabei eigentlich bei aller Furchtbarkeit ein heiteres Buch, weil der Held strahlend in seine Nacht hineingeht und weil diese Nacht die sanfte Nacht des Wahnsinns ist.
Du hast Recht. “Vom Rechte das mit uns geboren ist” ist zum mindesten ein möglicher Titel. Wenn die Veröffentlichung zustande kommt (was doch sehr unwahrscheinlich ist) wird er schon einen weniger ewigkeitsgemässen Titel finden. Buchtitel finden ist ja überhaupt schwer, – die einfachsten kosten die meiste Mühe. Ein so selbstverständlicher wie “Hegel und der Staat` hat sicher 10 – 20 früh gerstorbene ältere Brüder gehabt. Aber vor allem ich glaube zwar dass das Manuskript fertig wird, aber das Buch? und jetzt? Wenn Hans allem Erwarten zuwider einen Verleger für sein Sammelbuch findet, dann muss Eugens Aufsatzreihe doch da hinein. Sie gehört hinein, und gegen das Eugensche Vorurteil namens “Hans Ehrenberg” werde ich dann Sturm laufen. Aber erst, wenn wirklich was draus wird und wie gesagt ich halte es für ausgeschlossen. – Hier siehst du, dass der Jensen gekommen ist. Gekommen, gesehen und gesiegt. Ich bin entzückt und schrieb eben an Eugen darüber.
Noch etwas: Dostojewski hat es so eingerichtet, dass man auf den “tatsächlichen” Mörder überhaupt keinen Verdacht schöpft, weder die Richter noch der Leser; er geht frei aus. In Verdacht hat man von Anfang an abwechselnd die beiden “möglichen” Mörder. Und dabei ist jener mit einer rechten Galgenphysiognomie ausgestattet, eine Meile weit zu sehen, während die beiden andern rechte Idealmänner sind, voll Kraft der eine und voll Geist der andre. Und doch wird der Leser gezwungen grade ihnen das Verbrechen zuzutrauen. Das ist die grosse Umkehrung der Begriffe, und freilich “qualvoll”, aber durch diese “Qual” muss der Mensch hindurch.
Schluss. Dein
Franz.
September 1917
2.9.17
L.E., vorweg die Literatur – ich meine: die hausgemachte. Goethe und Bismarck ist sehr hübsch; unter dem vorausgeworfenen Schatten H Us steht nur der erste Absatz, nicht wie Gritli fürchtet das Ganze. Die Stellung der Georgianer müsste etwas sauberer konstruiert sein, da das Ganze so streng symmetrisch ist, dass man anspruchsvoll in dieser Beziehung wird. Wo hast du das mit Bismarcks Altersentchristlichung her?; ich kannte nur eine Notiz von Marcks (oder Vallentin?), dass “auch sein Glaubensleben noch einmal heftig aufgerüttelt wurde” oder so ähnlich und die Hardensche Anekdote von dem Verbot an die Fürstin, Traktätsches unter die Hausleute zu verteilen, und war schon immer neugierig Genaueres zu wissen. Ich schicke es also befehlsgemäss an Rudi und den interessanten und natürlich “sehr richtigen” Hilfeaufsatz, vor dem es der Hilfe, Gott helfe ihr, bange wurde, gleich auch; es war allerdings etwas stark, dass du den Slawen das gute Recht zum Hochverrat zugestandest; du hättest das selbe aber diplomatischer sagen können; wenn man im Ernst Politik machen will, muss man sich immer so unradikal wie möglich geberden, mindestens aber dem zu Gewinnenden nie mehr als eine Radikalität auf einmal zumuten; hier z.B. war es völlig genug, wenn der Leser seinen Fehler einsah, österreichische Politik nach Parteien statt nach Nationalitäten perzipiert zu haben. (Die Hilfe ist eigentlich keine gute Zeitschrift; Naumann ist lange nicht herrschsüchtig genug als Redakteur; liest du das Neue Deutschland? es ist jetzt in einenr brillianten Periode; Grabowsky wäre wahrscheinlich sogar kulturliberal genug, um den von der Hilfe abgewiesenen Artikel aufzunehmen; der Versuch wäre interessant; Goethe und Bismarck nähme er mit Kusshand.
Ja und nun noch einmal Bethmann. Was du ihm vorwirfst – denn die Berolinica von “schleifenden Zügeln” u.s.w. rechne ich nicht, das ist wie die “Spione” zu Kriegsanfang -, dass er nicht (wie wir klugen Leute) bei Kriegsausbruch schon an Polen gedacht hat, ist grade der Beweis dafür, dass er wirklich Politiker war. Der Politiker ist nämlich kein Visionär; er fasst Gott “am Saum seines Mantels” also wenn er vorbeikommt, sieht ihn aber nicht kommen. (Bismarck ist wohl so ziemlich der Deutsche gewesen, der zuletzt an das Paulskirchenprogramm geglaubt hat, alle andern sahen es kommen, er, weil er bestimmt war es auszuführen, sah es erst in dem Augenblick wo es an ihm vorbeikam, d.h. wo es in seine Reichweite kam. Der Politiker profezeit nicht, sondern erreicht und hält “in Reichweite” Schritt mit der Geschichte. Gerade über diese Eigenschaft ist Bethmann dann ja auch gestürzt; denn rechts und links wollten sie ihn auf ihre Profezeiungen festlegen und er wollte die Freiheit des Politikers behalten.
Und die persönliche Seite der Sache? Ja du fragst ganz richtig. Du kannst das deutsche Volk ohne Deutsche leben, weil du selber einer bist (schon des englische hast du nicht, wenn du nicht Loyd George oder sonst bestimmte grosse Engländer hast u. so alle andern Völker; sich selber als Mittler des Volkserlebnisses hat man eben nur beim eignen Volk). Und der Jude kann Gott ohne Jesus Christus erleben und leben, weil er selber (Ipse dixit) sein “erstgeborner Sohn” ist und so sich selber zum Mittler hat, sich selber natürlich qua “Israel”, von dem ja natürlich der zitierte Vers spricht. Satis superque und nur zur Erklärung, weshalb ich Bethmann brauchte, um Deutschland zu sehen. Fincks Vorträge über dt. Sprache sind vergriffen, ich lasse sie jetzt antiquarisch auftreiben; ein andres älteres System der Sprachen auf ca. 1 1/2 Bogen habe ich grade von ihm hier. Ich las sein Buch vor 1 1/2 Jahren und diesen Sommer zum zweiten Mal. Meine Putzianumsweisheiten verdanke ich ihm grossenteils. Auch mein Widerspruch gegen deinen Esperantobegriff beruht darauf.
Das Tridentino leuchtet mir sehr ein. Dir auch noch?
Deine Methodologie ist so – Münsterplatz. Wirklich: ungefähr so sagt mans in Freiburg auch und noch an einigen andern Orten. Der Weg nach diesem südwestdeutschen Rom (viele Wege..) ist freilich dein eigner. – Die Doppelpoligkeit aller Wissenschaft geht ja so weit, dass sogar jeder wissenschaftliche Bach aus einem Coitus zweier Wissenschaften entspringt, die eben hierbei sich polar zueinander stellen. Z.B. Königshaus u. Stämme: juristischer Geist, historische Materie; Hegel und der Staat: historischer Geist, philosophische Materie. Der Geist hängt den Faden seiner Antithese in die gelöste Wirklichkeit und lässt sie krystallisieren. So letzthin[?] mit sich selbst hat es von allen Wissenschaften nur die Philosophie zu tun, und deshalb kann sie die Schildkröte sein, auf der die Erde ruht. Wenigstens muss sie sich das einreden und danach verfahren, sonst müsste sie sich aufhängen. Und das ist die Borniertheit der Philosophie, dass sie sich das einreden muss und auf ihre eigene Tatsächlichkeit nicht eingehn kann, ohne sich – später Schelling – selbst zu vernichten oder um es mit dem eben schon ungewollt zitierten Wort zu sagen: sich aufzuhängen (hang up philosophy). Und daher kann seitdem (seit dem späten Schelling) die “Philosophie” das, was die Philosophie vor ihrem Selbstmord noch nicht konnte: make Juliet, sogut wie der Dichter Shakespeare sie hat machen können; schon Schopenhauer hat wirklich den Heiligen, Nietzsche den Übermenschen gemacht, wie Shakespeare Julia, nämlich nicht als Selbstporträt, sondern als monadisches Weltbild; was bei den früheren (zu Lebzeiten der Philosophie) Philosophen vergleichbar erscheint – etwa Spinozas homo liber, Platons Liebender – ist Selbstporträt, nicht Welt = Ansicht. Da sitze ich schon wieder auf meinem Steckenpferd. Aber statt dir darauf aus den Augen zu gallopieren, bleibe ich noch und frage dich peinlich und dringend: warum sollte ich Shs Julius Caesar lesen? ich habe “Befehl ausgeführt”, aber warum? Das Stück ist übrigens mässig, ich kann mir nicht helfen. Einen so tristen Bramarbas hat ihm Plutarch nicht geboten; es ist als wenn einer Bismarck eine Hindenburgseele gäbe; und darunter leidet wieder die Hauptperson, der Brutus, da man ja nun seine Liebe zu diesem Cäsar gar nicht begreift. – Ich stecke in Alexander, lese nämlich Droysen und habe mir jetzt dazu Plutarch und – – Gobineau kommen lassen. Bei Droysen habe ich meine Erfahrung aus dem Meineckekolleg wiedergemacht. Ich glaube, ich vertrage nur noch Ranke selbst. Alexander ist noch legendärer als Napoleon, und nur mit ihm, sicher nicht mit Cäsar zu vergleichen, ich bin neugierig, wie Plutarch diesen Fehler cachiert. Cäsar und Karl konnten Titel werden, Napoleon und Alexander sind der Mensch “an den Grenzen der Menschheit”; es ist prachtvoll dass die Alexandersage grade den tragischen Wendepunkt seines Lebens, die Umkehr in Indien, gefasst hat: Alexander am Tor des Paradi[e]ses. Den Menschen, der sich nicht in seinemWerk begrenzen kann, hat Deutschland in Goethe gehabt. Das sind die Enkidus, die nicht in die “Stadt” gehören und bei denen man auch eigentlich nie begreift, was ihnen der Tod soll, während die Gilgameschs, (die Cäsars, Karls, Bismarcks), wenn sie ihr Reich gegründet und ihre Enttäuschung erfahren haben, gar nichts andres übrig haben als sich in ihren Häusern vom Tod holen zu lassen.
Ich will dir noch ein bischen Hans über Bethmann abschreiben: “… und spürte in den letzten 14 Tagen eine Art Sehnsucht nach Bethmann. Schuld an seinem Sturz ist er selbst aber trotzdem; er wäre so leicht geblieben, wenn er den Militarismus richtig verstanden hätte; aber sein manglendes Verhältnis zum Heer – das sich politisch erst in seiner Politik gegenüber dem revolutionären Russland äusserte – hat ihn gestürzt, denn die Rechte hätte ihn sonst gegen die Linke gehalten; jetzt haben wir paradoxerweise sowohl einen Sieg der alten Linken wie der alten Rechten; die grosse Bethmannsche Mittelsäule ist gestürzt. Natürlich sind auch seine früheren Freunde an seinem Abgang schuld; aber es war im Grunde nur natürlich, dass die ebenso mal antibethmannsch wurden wie vorher die Rechte. Wenn einer nicht von seinen bisherigen Feinden, sondern von seinen Freunden gestürzt wird, dann ist er selber schuld. Vielleicht verdichtet sich mein Heimweh nach Bethmann zu einem Brief an ihn; aber meine Verstand giebt ihm nicht recht. Ich würde ihm weniger Schwäche als Einseitigkeit (grundlose Einseitigkeit) vorwerfen (Georgianer!). … Das starke Gefühl des Angegriffenseins bei Bethmann hatte sich doch allmählich etwas zu Ende ausgegeben; solange der Krieg vorwärts ging, hatte es seine grosse Andersseite; aber jetzt brauchen wir eine aggressive Form der Politik weil der Kriegswagen feststeht …” Und Rudi gar scheint es, “als ob es doch mehr das eigne ziehende Gewicht der Dinge gewesen sei, als B Hs Ideen u. Initiative, die wir mitschaffend feilböten[?]. Du siehst, du hast viele Eideshelfer …
Franz.
4.9.17
Lieber Eugen, aber so geht es uns allen. Das Alibi hat überall den gleichen Inhalt und das “Geistige”ist nur die selbstbelügende Rechtfertigung dazu. Diese ganz handfeste Gemei [gestr.] Übereinstimmung in einer so verborgenen Sache ist ja der unbegreifliche Naturgrund für alle Gemeinsamkeit des Glaubens; nur weil meine Sünde ja, obwohl doch mein Eignes und Eigenstes, genau die gleiche ist wie deine , nur deshalb fühlen wir (was wir sonst nur erschliessen würden), dass meine Erlösung auch deine Erlösung ist. Nur der Jude, der wirkliche Binnenjude, von dem du einmal ganz genau richtig schriebst: “der mit 14 Jahren heiratet”, nur der ist ausgenommen; er ist nicht unkeusch, weil und insofern er als Jude geboren ist und so der Kampf der “beiden Triebe” (das ist der terminus technicus) nicht das Gefälle schafft auf dem die Seele sich den Weg in den Ozean sucht, sondern nur Stürme im Glase Wasser erregt. Der Grenzer = Jude, für den es ein Judewerden giebt, (ein Werden freilich, dass nicht Wiedergeburt, sondern Heimkehr, kein Weg über sich hinaus, sondern Weg in sich hinein ist) für den giebt es auch die Unkeuschheit, solange bis er dahin gekommen ist, wo der andre ununterbrochen gestanden hat, dem es aufgegeben (und durch die jüdische Lebensform – “mit 14 Jahren …” – ermöglicht) ist, nicht etwa den bösen Trieb dem guten zu unterwerfen, sondern “mit beiden Trieben Gott zu lieben” (so nämlich wird, mit der üblichen Buchstabeninter-pretation x) traditionell das “mit deinem ganzen Herzen” des berühmten Verses verstanden). Daher und nur daher war dein Versperren meines Alibi für mich so erschütternd; sonst hättest du mir ja nur einen Irrtum genommen (und wahrscheinlich noch nicht mal das, denn du ranntest mich mit einer Behauptung an, nicht mit einer Widerlegung),aber du zogst vielmehr den Vorhang weg, hinter dem ich mir alles erlaubte; ich merkte plötzlich, dass ich mir deswegen den Vorhang vorgespannt hatte, um das “Dahinter” isolieren zu können und es vor dem “verzehrenden Feuer” schützen zu können. Mein Schrecken war nicht:ich habe bis heute geirrt, sondern: ich habe bis heute gesündigt, und zwar grade am schlimmsten dadurch dass ich Busse tat, denn ich büsste nur, um weiter sündigen zu können.
Wir sind alle so viel primitiver als wir gegenseitig von uns glauben möchten. In Wirklichkeit wissen wir es dabei doch, dass der andre ist wie wir. Ich finde die Scheu diese Dinge zu berühren gut und nötig. Von dem Verbum sündigen giebt es nur die erste Person, in die Wechselrede (deren Charakter diezweite Person, das Du, ist) geht es nicht ein. Was aber nicht in die Wechselrede eingeht, liegt auch jenseits der Liebe. Wenn einer sündigt oder Busse tut, ist er allein; er würde mich nicht hören, wenn ich du zu ihm sage. Ich kann nur gleichfalls Ich sagen. Aber diese unsre beiden Bekenntnisse begegnen sich dann nicht auf der Erde der Liebe, und wenn sie sich im Himmel begegnen, so erkennen sie einander nicht als die bekannten Dus, sondern erscheinen sich wie ihre eigenen Spiegelbilder. Das, was die Dichter heut mit Vorliebe behandeln, die ewige Fremdheit der Menschen gegeneinander (“was weiss ein Mensch vom andern”), ist nichts anders als eben dies. Man liebt sich immer “trotz diesem” (wie man sich auch immer trotz – nein wegen des “Unrechts” liebt, das man einander “tut”). Wirklich: Was weiss ein Mensch vom andern? das, was er ihm und der wieder ihm tut. So hat mir wohl das Unverständliche an Menschen die ich liebte Schmerzen gemacht, aber diese Schmerzen haben mir keine Waffe in die Hand gezwungen und kein Wort auf die Zunge gelegt. Meine Liebe ist unberührt davon geblieben. Auf dem Platze, wo diese unheimliche Fremdheit gehaust hat, wird eines Tages die fremde Heimlichkeit des Hauses gebaut, die man respektiert wie man jene fürchtete. So ist es mir mit Rudi gegangen und nun auch mit dir; deine Erotik ist mir lange das Unheimliche und Unfassbare an dir gewesen, sogar schon zu einer Zeit, wo ich mir selbst das Gleiche nicht übel genommen hätte.
Was du vom Selbstmord sagst, unterschreibe ich heute natürlich. Es steckt sogar die ganze Menschengeschichte darin: dass das Tier leben muss, der Mensch zwischen Fall und Offenbarung sterben kann, und der Mensch in der Offenbarung wiederum leben muss, (obwohl er weiss dass er sterben könnte). Aber auf die Geschichtsfrage weiss ich auch keine Antwort; im A.T. kommt überhaupt kein Selbstmord vor, soviel ich mich besinne (Simson ist natürlich keiner, sowenig wie Winkelried), im N.T. der des Judas. In der Civ. Dei steht wie mir dunkel vorschwebt etwas Absprechendes über Lukretia – halt: jetzt weiss ichs genau, im 1. oder 2. Buch, anlässlich der von Alarichs Goten geschändeten Christenjungfrauen, wohl gar Nonnen, weshalb ihr Weiterleben mehr sei als die Tat der Lukretia. Ich glaube dass ich mich nicht irre. – An Stelle des Selbstmords setzt die Offenbarung das Selbstopfer, den Gehorsam bis zum Tode, anstelle also des impavidum ferient ruinae das “Hier bin ich” Abrahams.
Den Band Amadis habe ich gelesen, aber ohne unmittelbaren Eindruck; nur etwas mittelbaren, indem ich ihn ein bisschen durch dich hindurch las; er dichtet ja wie du und wie der “Schiller” deines Goethe und Bismarck = Aufsatzes. Froh bin ich dass du den Vermeylen auch nicht magst; aber was hat denn Picht darin gefunden? – Was ist denn das punctum saliens bei Schopenhauer? ich bin nie schopenhauerfest gewesen und die Briefe jetzt sind seit 1909 von ihm lesen [sic]. Aber die Briefe haben mir doch grade Lust gemacht, ihn selbst wieder zu lesen; den 2.Bd. des Hauptwerks kenne ich noch gar nicht. An seiner Reaktion auf die “drei grossen Charlatane” kann man wunderschön ablesen, was die Hauptsache der nachkantischen Philosophie gewesen ist: eben wirklich der “alte Jude”, die philos. Konstruktion des Athanasianums; ave, mein Steckenpferd! ich fühle mich mal wieder “bestätigt”. Dafür hat er die erste christliche “Ethik” geschrieben (und Nietzsche die zweite); alle Philosophen vor ihm sind, wenn man ihre Ethik anatomisch “herauspräpariert”, Heiden, auch noch die drei Advokaten des alten Juden. Er ist eben der erste, der aus einem modernen Ich herausphilosophiert, (weil er überhaupt der erste ist, der aus dem Ich – statt aus dem erreichten Punkt der Geschichte der Philosophie – heraus philosophiert) – ave “Bestätigung”! – (wie er αύτος έφα im ersten Brief an Brockhaus, wo er opera perfecto den Begriff des Philosophierens umschreibt als den “Eindruck, welchen auf einen individuellen {sic!} Geist die Welt macht und der Gedanke durch welchen der Geist nach erhaltener Bildung auf jenen Eindruck reagiert”. Versuch dir mal diesen Satz in Spinozas oder selbst in Leibnizens Mund zu denken, von Kant und Konsorten ganz zu schweigen – und du wirst sehen, wie neu dieser Begriff des Philosophierens ist. – Als ich 1910- 12 in Berlin auf dem Handschriftenkabinett der kgl.B. hegelte, nur von G.Lasson gelegentlich akkompagniert, sass mir eine geschlossene imponierende Front von Schopenhauerleuten [?] gegenüber und edierten 1814-18 . Wir gingen immer mit kalter Höflichkeit aneiander vorüber. O ja! – Ich gebe mich übrigens der stillen Hoffnung hin, dass G.Lasson meine Attribution des Programms von Schelling bestreiten wird; eine Hoffnung die neulich sehr gestärkt wurde, indem [..?] Lasson mir betont nur von “Gedanken, die nach Kant in Deutschland…” schrieb. – Das Schicken von Rez. Exemplaren an die Zeitschrift etc. macht doch der Verleger? oder ist bei der ungewönlichen Zahl von Freiexemplaren (100 mit Couverts!) gerechnet, dass ich es mache? Nur wenn du es zufällig weisst. – Hoffentlich rasierst du dich bis du diesen Brief kriegst wieder bloss alle zwei Tage.
F.
- x) Herz hier “l’bab”; warum denn nicht (das gebräuchlichere) “leb”? das doppelte “b” sagt: mit deinem zwiespältigen Herzen, mit deinen beiden
6.9.17
L.E.,
Das n. Bew. Eur. ist sehr schön (übrigens müsste man daraus schliessen, dass nun die Friedensinitiative wieder an das Europa der Tat zurückfiele, und wie dieses Europa am 12.XII.16 das erste Wort, das als erstes ja noch Tat war, gab, so nunmehr, nachdem es als Wort von den Tatlosen reihum wiederholt ist, wiederum die Reihe an ihm wäre jetzt die abschliessende Tat, die als abschliessende ohne weiteres Wort wäre, zu tun). Aber was für ein Jammer, dass auch dieser Aufsatz, absolut aktuell wie er ist, dennoch von keiner Tageszeitung oder =zeitschrift angenommen werden wird. Probier es doch! es wäre viel wichtiger sowas stünde in der Hilfe oder im Neuen Deutschland oder in der Frkft. Ztg. oder (da R.Schmidt den Voraufsatz dazu angenommen hat) als “zweiter Teil” in der Ztschr. f. Pol., als in einem 1.) nicht erscheinenden u. 2.) nicht gelesenen Buch.
Spruch u. Rede ist famos. Der Grund für die Spruchmässigkeit des Deutschen liegt im Jahr 1800. Denn es ist nicht wahr, dass die neuen deutschen Bücher “Rede” sind, sie sind auch nur “Spruch”. Lessing war der letzte grosse deutsche Redner. Seit 1800 herrscht in der deutschen Äusserung, wie du richtig siehst, das Citat, und zwar nicht als Schmuck sondern als die Sache selbst. Kein andres neueuropäisches Volk “zitiert”. Und das kommt daher, dass nur in Deutschland (1800) die Denker und die Dichter miteinander in eine santa conversazione getreten sind. Die Botenfrau zwischen Weimar u. Jena, die zwischen Schiller und Goethe, Fr. Schlegel, der zwischen Goethe und Fichte, derWhisttisch, der zwischen Hegel u. Schiller “vermittelte” das ist das Schicksal, unter dem bis heute alle Sprache in Dtschland steht. Du hast den kompletten Unterschied, wenn du Kantische und Fichtesche Popularschriften, also etwa die “Grundlegung zur Metaph. der Sitten” und die “Bestimmung des Menschen”, die nur 15 Jahre auseinanderliegen!, nebeneinanderhältst. Kant hat noch geredet, Fichte hat (weimarisch) gesprochen. Friedrich konnte schelten: Kerls wollt ihr denn ewig leben! Bismarck scholt die Parteien, (genau so kräftig für unser Gefühl, aber mit der Kraft des deutschen Zitierens): get you home you fragments. Der Doppelsinn von λογος ist nur in Dt. seit 1800 wieder Wirklichkeit geworden. Aber die Führerstellung im Reiche des Geistes, die Dt. dadurch gewonnen hat, dass hier allein der höchste Gedanke ohne weiteres sich im höchsten Wort äussert, bezahlt es damit, dass seine naive native natürliche nationale völkische Lebendigkeit verdorrt; Schiller hat den “deutschen Jüngling” im letzten Augenblick wo er noch lebte, zu Protokoll genommen. Wagner hat ihn schon mit Musik künstlich aufpumpen müssen, um ihm nochmal eine Scheinlebendigkeit zu geben; im deutschen Sprachdrama seit Schiller giebt es keinen Jüngling mehr. Deshalb ist ja (Mittel =) Europa für Dt. wie für keinen andern Staat eine so lebendige fleischerne kurz körperhafte Notwendigkeit, weil Dt. kein naives Volksleben, also keine Möglichkeit zur nationalen Demokratie hat; deshalb braucht es um überhaupt politisch lebendig zu sein die übernationale Sphäre, wo es unnaiv arbeiten x) (statt sich demokratisch = naiv auszutoben) kann.
Zwischenfrage: ich will etwas über dein 1096-99 lesen. “Muss ich da an Gott glauben oder nicht? lieber wäre mir, nicht” fragte jener Amerikaner, der von Janus kam und bei Rickert religionsphilosophisch arbeiten wollte, so frage ich dich: muss es Sybel sein oder kann es irgendwas altes Lateinisches sein und was? (Monumenta = Bände lässt die Feldpost nicht zu).
Der “Rechtsbestand”, die historische Hälfte glänzend, die Mittel der Einführung – “oh Eugen!”, herrlich, ich bin auf meinem Schemel herumgehopst vor Vergnügen, aber wie kannst du so ein Juchhe als Schwanz an einen solchen akademisch prächtig aufgezäumten preussischen Geschichtsgaul hinten dran binden. Aber ich frage mich: wie bringt man das Zeugs zum Druck. Ich weiss nur eins: eine eigene von vornherein auf kurzes Leben (μινυνθαδιον περ έοντα) bezeichnete Zeitschrift. Denn die alten langlebi-gen nehmens nicht. Kleines Format, kleiner Druck, schmaler Rand, ein Bogen; Stoff ist genug da; was du, Hans, A.Bund, F.Hesse gemacht haben, reicht schon jetzt für 26 Nummern aus, und nach 1/2 Jahr soll sie eingehn. Titel
Der Kriegsteilnehmer
Ein Blatt von ihm und für ihn
Verlag, der gewonnen werden muss, (der einzige der in Betracht kommt) Stilke, weil das Schwein die gesamten Feldbuchhandlungen monopolisiert. Man wird ihm die ersten Nummern die Kosten garantieren müssen, 4 Nummern à 100 oder höchstens 150 M; diese 4-600 M würde ich sicher von meinem Vater dafür kriegen. Verkauft sich die 3. u. 4. Nummer nicht gut, so hört man eben auf. Redaktör: Hans, 1.) weil nahe bei Berlin 2.) weil Zuname nicht Rosenberg, sondern Ehrenberg. Korrektor: Else. Druck ev. bei Gebr. Gotthelft in Kassel, die das Unmögliche (Papier= u. Satzbeschaffung) möglich machen würden wenns überhaupt möglich ist. Sodass Stilke nur den Vertrieb hätte; wenn er selber drucken will, tant mieux. Aber wirklich kleines Format: so gross wie dieser Briefbogen, richtiges Taschenformat, wie mans bei Zeitschriften nicht gewöhnt ist. Statt “ein Blatt” besser “schwarz = rot = goldne Blätter” damit gesagt ist, dass ein “politisches Lied” gesungen wird und auch gleich die Tonart.
Infolgedessen habe ich zum “Vorurteile” schon nur noch mit Redaktörsaugen gelesen und weiss also nicht, wie es mir gefallen hat. Leuchtet dir die Sache ein, so setz dich mit Hans in Verbindung und Hans kann zu Stilke gehn. Sein Sammelbuch wird ja auch nichts. Ich werde die 4 Aufsätze übrigens gleich an ihn schicken, ihm dazu schreiben, dass ichs ohne Auftrag von dir tue und dass er sie wieder an dich schicken soll, oder nach Säckingen. Er soll doch nicht dauernd bloss Verse von dir gelesen haben. Wegen der Zeitschrift schreibe ich ihm nicht. – Venizelos schafft das Schriftgriechisch ab! – Es ist ja alles Unsinn. Für wen sollen denn diese Sachen gedruckt werden? Wer will es hören? die Schreibmachine ist das richtige Publikationsmittel. Wenn keine der bestehenden Zeitschriften die Sachen nehmen kann, dann ist das eben der Beweis dafür, dass keine Leser dafür da sind. Reventlow und Th.Wolff, die haben das Ohr des Publikums; und die Höhe der Klugheit ists, wenn einer wie Grabowsky beweist dass und inwiefern beide Unrecht haben; dieser negative Beweis hat auch noch ein Publikum, wenn auch schon ein “gewähltes”. Aber das Positive was nun folgen müsste und was schon Grabowsky nicht weiss – das will niemand hören: Drei Internationalen – hu[sic] rechts – des Reichs – hu rechts und links – Proletariats – hu rechts, schwächer hu links – der Kirche – hu rechts und links – überstrahlen den Völkerriss des Staats – hier wenden sich nicht bloss Alldeutsche Schreier sondern auch nüchterne deutsche Patrioten mit Grausen.
Geh in den Vatikan Eugenio! warum wolltest du u.s.w.
- x) Sozialpolitik! lucus a non lucendo. Es giebt keine Sozialpolitik, es giebt nur soziale Arbeit.
7.9.17
L.E. noch zu gestern: Alle andern zitieren, um zu bekräftigen, das Zitat ist Autoritätsbeweis, “Shakespeare says:…” Im nachWeimarer Deutsch spricht man in Zitaten, Citate beweisen hier nicht, sondern werden ev. bewiesen, das Citat ist façon de parler; das kann die scheusslichsten Formen annehmen, so wenn E.Reventlow schreibt: “und die Norddeutsche Allgemeine? hält in der Hand den Sommerhut und weiss nicht was beginnen;” aber die Urform solcher Entgleisungen bleibt immer so etwas wie der nirgends sonst in moderner Philosophie zuvor mögliche Schlusssatz der R..[?]logie: aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit {dieses scil. des historischen, ihm scil. dem absol. Geist}. Vergleichbar ist natürlich das Bibelzitat, das Dantezitat der Italiener, das Homerzitat der Griechen (hier sogar der genaue Entspruch zu Hegels Schillerzitat, der Schluss des theologischen Buchs 1 der Arist. Metaph: eiJı koiranoı ejstw) – aber hier sind die Klassiker “lang schon tot”, der Gedanke hat ihre Sprache geerbt, in dem Deutschland von 1800 allein hat die lebendige Wechselwirkung von Denkern und Dichtern bestanden, Goethe hätte den Faust I von 1790 nicht vollendet, wenn ihm nicht die Philosophen beigebracht hätten, dass der “Tragelaph”, das “abstruse nordische” Gebilde, das er “in holder Dunkelheit der Sinnen” nur hatte beginnen können, dass dies “das tiefsinnige Gedicht der Deutschen” sei; nun muss er sich wohl “zusammennehmen”, wenn die Philosophen in Jena, wie Schiller ihm schreibt, so gespannt darauf sind und schreibt nun den Prolog im Himmel den ganzen Vertragsaktus, von dem bis da nur das kleine SturmundDrang Stück “und was der ganzen Menscheit zugeteilt ist…” vorhanden war, also die ganze Steigerung des bis dahin Carlos= Clavigo= artigen Faust = Mephisto Verhältnisses ins Metaphysische und nun erst den Plan zum Schlussakt des 2.Teils, statt des sicher ursprünglich geplanten trotzigen Höllensturzes nach Art des Mozartschen Don Juan. Eine Analogie wäre das Euripideszitat der Antike, wenn nur Euripides Sophokles und die Sophisten Plato gewesen wären; so aber ist das Euripideszitat eben nur die Scheidemünze des geistigen Alltagsverkehrs geworden, was ja das deutsche Klassikerzitat auch ist aber doch nur auch. Nun wäre höchstens die Frage: hat Nietzsche vielleicht die deutsche Sprache von Weimar befreit? Rilke , wohl noch nicht George, ist ja der erste Goethefreie Lyriker. Du wirst wohl ja dazu sagen. Ich würde es für Nietzsche bestreiten, weil seine Sprache, wenn er laut spricht, also z.B. im Zarathustra, ein reines Bildungsprodukt ist, ein Reden in lauter Anspielungen, eine Neuschöpfung aus allen Ingredienzen der schon litteraturgewordenen Sprache, kein Gang auf die Luthersche “Gasse”. Bei Rilke allerdings ist es anders, er hat ein Stück Natursprache heraufgebracht, – ich kann mich irren, ich meine aber: er hat den eigentümlichen Sprachton der Frauen gehört und daraus eine Dichtersprache gemacht; die bisherige Dichter einschliesslich natürlich der Dichter=”innen” sprachen männlich. Nämlich in Perioden, die Periode ist der Satz aus Sätzen. Die Frauen sprechen noch bis zum heutigen Tag in einfachen Sätzen; sie können die Periode nicht (weil sie beim zweiten Satz den ersten nicht mehr wissen; während der “einfache Mann” zwar formell auch nicht in Perioden spricht, aber faktisch doch, er türmt inhaltlich Satz auf Satz wenn er etwas beweisen oder erklären will. Die Frau beweist nicht und erklärt nicht, sie sagt bloss. Und diese Insichgeschlossenheit des einzelnen Satzes, das im Satz vollendete Gefühl, den echten Punkt – der Mann hat das Semikolon erfunden – hat Rilke. Goethesche Gedichte müssen in einer melodischen Linie durchkomponiert werden ohne Wortwiederholungen, bei Rilke könnte jeder Satz für sich mit zahllosen Wiederholungen ein eigenes Lied geben und es ist sehr bezeichnend, dass er um den Zusammenhang, der im melodischen Sprachton nicht liegt, herzustellen, zu einem ganz “äusseren” nämlich klanglichen Mittel greift: zu der Reimvervielfachung und Reimverschlingung. – Aber hat das (wenn es überhaupt richtig ist) nun schon eine Befreiung vom Denk = Dicht = Zusammenfluss von 1800? Kann eine solche Befreiung überhaupt einseitig geschehen? Kann ein Lyriker mehr befreien als höchstens sich selbst? und ein Philosoph ebenfalls. Das ganze Leben des Volks müsste in eine Zwangslage kommen, wo es heisst: “rede” oder stirb. Du meinst, der Krieg schüfe diese Zwangslage. Das bestreite ich eben. Nur eine schwere Niederlage, die Deutschland auf seine Nationalität isolierte und von seiner europäischen Zukunft abschlösse, würde den Zwang zur nationalen Demokratie bedeuten. Jedes nur halbwegs europäische Kriegsendergebnis bedeutet soziale Arbeit, – also Werktags Tat und Sonntags Spruch, aber nie Rede.
Eben ein Brief von dir mit der Juniusbeilage. Aber dieser soll fort.
Gute Nacht.
Franz.
8.9.17
Lieber Eugen, es ist mir als ob ich dir in den letzten Tagen täglich geschrieben hätte. Über das “Plagiat”eingeständnis musste ich lachen; ich hatte natürlich nichts gemerkt, es kam mir bloss richtig vor; ich vergesse nämlich alles was ich gesprächsweise, mündlich oder schriftlich, finde, – weil ich es ja sage um die Antwort zu hören. Nur wenn ich selbst mit mir selbst spreche, also mir selbst antworte, nur dann behalte ich meine Gedanken, und dann sowohl im Gedächtnis wie als dogmatisches Eigentum. Spreche ich , so interessiert mich der andre mehr wie ich selbst. Aber überhaupt, mir ist in den letzten Tagen etwas klar geworden; ich dachte bisher: Überzeugen sei eine Art Kampf, worin man sich dem Überzeugtwerden aussetzen müsse, wie man sich der Niederlage aussetzen muss um siegen zu können. Nein: es bleibt nicht beim “sich aussetzen”, sondern es tritt die volle aktuelle Wirklichkeit des Überzeugtwerdens auf: man überzeugt nur, wenn man selbst überzeugt wird. Überzeugen ist ein Akt auf Gegenseitigkeit, ohne jeden Abstrich. Alles blosse Tun, das nicht genau im gleichen Masse Leiden ist, ist eo ipso unsittlich. Hat es dann aber noch Sinn, “Plagiate” zu entschuldigen? So fange ich jetzt, wo du mir meine Bethmannverzweiflung nachklagst, an, deine Paulskirchenhoffnung dir nachzuhoffen. Was heisst das? ich fange unwillkürlich an, die Zeitungen “daraufhin” zu lesen. So jetzt die 7er Kommission. [Ganz was andres: wenn der Krieg bis ins Frühjahr dauert, wo werden dann die Million Amerikaner sein? An der Ostfront! und dort wird dann die Sommeschlacht 1918 sein. Ich glaube jetzt manchmal, Deutschland wird noch zum vollkommenen Sieg mit Diktierfrieden gezwungen werden]. – 61º ist nicht schlimm, voriges Jahr warens 70º ! Die böseste Zeit hier war die – Kälte im Januar u. Februar. – Warum erschrickst du, wenn dir Potsdam leibhaftig begegnet? Kennst du den Schluss von Grabbes Scherz Satire Ir. u. tief. Bed.? wo Grabbe selbst draussen anklopft und um Einlass bittet und der Schulmeister den “versoffenen Schweinehund” nicht hineinlassen will, bis die junge Comtess ihm sagt: “Aber Schulmeister, seien Sie doch nicht so unhöflich gegen einen Mann, der Sie geschrieben hat!” Da lässt er ihn ein und Grabbe beleuchtet mit einer Laterne die ganze Gesellschaft. Finis. Kl..[?] ist sicher nicht dumm, “sonst hätte ich” mir nicht sein Namenbuch (Sammlung Göschen) kommen lassen. Er ist bloss sächsisch, d. h. klug ohne Ehrfurcht. Daher dann die Ahnungslosigkeit die du bezeichnest. Überhaupt und ausserdem: wenn die Seele “sich schwinget”, ist dann die Seele ein Vogel? oder nicht vielleicht der Vogel Seele?? Juchhe! Es ist das berühmte Dilemma mit Raum u. Zeit: von der Zeit lässt sich nur reden, wenn man sie sich räumlich (als Nebeneinander von Zeitpunkten) vorstellt (lange Zeit! kurze Zeit! längere Zeit!), aber den Raum wiederum kann man nur vorstellig machen, indem man ihn (Punkt nach Punkt) konstruiert. Die Welt ist unsre Vorstellung aber unser Vorstellen lebt von der “Welt”. – Hoffentlich langt mein Quartanerfranzösisch für den Victor Hugo, ich kann nämlich blutwenig und vor allem ich muss es richtig “übersetzen” um es zu verstehen, ich habe kein Gefühl dafür. – Wer ist eigentlich dieser Janius von S.Fischers Gnaden? Die Begeisterung für die klugen Flachituden der Rigaer Denkschrift ist ja komisch, aber die Antithese Loyd Georges u. Bethmanns gut. – Den V.Hugo habe ich durch, teils natürlich nur geraten. Die Mischung von Geschwätzigkeit und Pointiertheit ist sehr eklig; ich wäre wenig neugierig auf die Fortsetzung, höchstens 19tes Jahrhundert würde mich von ihm interessieren, aber vermutlich bricht er bei der grande revolution ab. Sind die Misérables auch so ein Gedicht aus Gedichten? und sozialistisch? oder was sonst? kennst du Maeterlinks blauen Vogel? An dies Gemisch von Ausstattungsprunk und allegorischer Spitzfindigkeit hat mich das Buch erinnert. Mag ja sein, dass ich über allerlei Schönes weggerutscht bin. –
/9.9./ Gestern las ich übrigens ausser V.Hugo auch noch den Tasso unsres gemeinsamen Feindes Goethe. Ich hatte mich nicht mehr mit ihm befasst seit – Leipzig im Jan. od. Febr. 13; entsinnst du dich noch? Abend bei Ehrenbergs, “Herr Baum” Balte etc., erklärte die Prinzessin als eine Art noch raffiniertere Leonora Sanvitale (Hauptmotiv: “Berühmtheit schinden”). Die ganze Sache war hochkomisch, wenn man sie nachher ansieht, umsomehr als sie, die Sache und unsere Erregung über diese verworfene Interpretation, sehr reelle Folgen in der Welt der Dinge hatte; wahrscheinlich oder fast sicher wäre, wenn Baum damals richtiger interpretiert hätte, Hedi heut nicht Frau Prof. Born und mehrere kleine Menschen existierten nicht oder anders. Woraus man sieht wie wichtig es ist die Klassiker richtig zu interpretieren oder, je nach Standpunkt, wie gut es ist, sie manchmal falsch zu interpretieren. Dabei war die Interpretation (und die sie begründen sollende wahrhaft infame Vorlesung der grossen Szene des II.Akts) so künstlich, dass ich nachträglich eigentlich die ganze Sache dem Veranstalter gar nicht im Ernst zutrauen möchte, sondern glaube, er hat bloss Gelegenheit gesucht einen Hahnenkampf mit vermeintlichen Rivalen aufzuführen. Viel ernsthafter frage ich mich, ob Goethe, der Weimarer Goethe der ersten 10 Jahre, die Schwachlebigkeit und Gefühlsblutleere bei gleichzeitiger Gefühlstiefe oder wenigstens Gefühlsentwickeltheit der Prinzessin ihr wohl “persönlich übelgenommen” hat oder, (ich fürchte) sie als berechtigt qua “Welt” “grosse Welt” “Welt haben” gelten gelassen. Ich traue ihm damals jeden Ätherismus zu (kennst du die Knauerschen Büsten von ihm aus dieser Zeit?). Es sind ja vor Italien soviel ich mich entsinne nur die zwei ersten Akte fertig gewesen, die alles anlegen aber schliesslich noch nichts entscheiden. Und die Entätherisierung, Entcharlottisierung Italiens hat ihm vielleicht erst den Mumm gegeben mit Tasso tragisch Schluss zu machen. Das Stück verliert übrigens seine Unbekanntheit, da es einen ganz ausgefallenen Fall behandelt; das Etepetete der Prinzessin ist gar nicht die Welt dessen “was sich ziemt”, sondern eine höchstpersönliche Einzäumung und so bleibt auch Tassos Sache eine Privatangelegenheit, die einen im Grunde nichts angeht; die Prinzessin ist eben lange krank gewesen und auch jetzt noch nicht “gesund”, sondern bloss “nicht krank”, und Krankheit ist immer bloss ein “Fall”. Goethe wusste eben damals trotz allem Reden von “Welt” doch noch nicht was die Welt ist. Zur Zeit der Wahlverwandschaften hat ers gewusst. Einen Schritt weiter: Der Cicisbeao sogar Charlottens konnte nicht wissen was der Ehemann sogar Christinens wissen musste. Das berühmte Wort Fr.W.IV. zu Bunsen über Kronprinz und König – oder auch einfach das Sprichwort von Gott, dem Amt und dem Verstand (man muss nämlich den ersten dieser dreie etwas mehr betonen wie gewöhnlich geschieht) ist eben glatt wahr. – Wenn ich Couverts hätte so würde ich dir das Inselbüchlein (österr. Bibl.) Ein österr. Kanzler schicken, von dem Metternich-retter Ernst Molden (publ. seit 1913) dessen Auftreten ich schon als Freiburger Meineckeküken geweissagt habe. Mett. in der Wolke von Zeugen für Naumanns Mitteleuropa!
F.
10.9.17
Liebes Gritli, die 4 Manuskripte sind schon lange wieder fort, unbefugterweise auf dem Umweg über Hans Ehrenberg. Auch geschrieben habe ich Eugen darüber. Ich wünschte ja, sie würden gleich irgendwo gedruckt; so interessant sind sie nur jetzt; aber es wird sehr schwer sein, sie irgendwo unterzubringen; irgendeine unverdauliche Ketzerei wird jedes Organ jeder Richtung darin finden. Dass Eugen sich seinen schlechten Ruf noch verschlechtert wie H.U. fürchtet, kann ich mir nicht vorstellen; ich dachte immer, da wäre nichts mehr zu tun übrig. Aber H.U. kann das besser beurteilen als ich, und Eugen selbst muss wissen, ob es sich ihm lohnt wegen eines Schnabelauftuns in dieser doch ziemlich hoffnungslosen Gegenwart irgendwas aufs Spiel zu setzen. Dass H.U. grade den (abgesehn von dem Abstimmungsprojekt am Schluss) wissenschaftlich wertvollsten der ganzen sechs Aufsätze ablehnt, ist bezeichnend für sein borniertes Advokatenköpfchen; eben dies “Recht das mit uns geboren ist” verstehen solche Formalien = Anbeter nie; R. Sohm hätte grade diesen Aufsatz sehr goutiert, Kohler würde ihn wenigstens diskutabel finden, aber die andern alle würden überhaupt nicht begreifen was Eugen will. Leuten wie H.U. gegenüber müsste ich allerdings die Partei “Hegels” ergreifen; wenn sie erst mal begriffen haben, dass er recht hat, dann ists immer noch Zeit, ihnen beizubringen, dass er Unrecht hat. Aber so weit kommt es ja nie, und solange es viele Paragraphen in der Welt giebt, solange ist auch Gelegenheit für solche Kavaliere, in diesem Irrgarten herumzutaumeln und sich einzureden, sie legten dabei einen Weg zurück. Mein Hass gegen diese Art Menschen ist so gross, dass ich wirklich das Verfahren der alten Deutschen nach der Schlacht im Teutoburger Walde verstehe; sie rissen ihnen – “German atrocities” schon damals! – die Zunge aus.
Siehst du, da bin ich auch ins Polemische hineingeraten. Das geht nämlich jedem etwas so. Und Eugen allerdings mehr als den meisten, weil er eben ausschliesslicher dialogisch lebt; er kennt den Monolog nicht, er braucht ein ganzes Personenverzeichnis um eine Person zu sein. Aber ein solches Malheur ist das nicht. Es ist noch nichtmal eigentlich “Liebe” nötig, um darüber hinweg zu kommen, im Gegenteil: er reizt dadurch und zieht an, ist “reizend” (eine Bezeichnung, die er meiner Mutter mal lange nachgetragen hat). Nur freilich festhalten lässt er sich so nicht, dazu gehört dann freilich Liebe, genauer: ein bischen Verzweiflung und ein bischen Humor, bis man endlich den proteischen Meergreis in seiner innersten Grotte gepackt hat und er einem nun (solange man ihn fest hält) in keine Verwandlung mehr ausweichen kann. Aber: er wird diese Fähigkeit des ewigen Ausweichens ins Gegenüber, des Dialogs à tout prix nicht mehr lange behalten. Je mehr er nämlich anfangen wird, sich monologisch festzulegen. Sein ganzes Philosophieren hat ja persönlich gesehen nur diesen Zweck: er will sich einen Charakter erschreiben, Nam und Art. Er wird an seine eigenen “Sprüche” gebunden werden und die “Rede” wird an der Leine laufen müssen um einen “Spruch” herum der in der Mitte liegt und von dem sie sich nicht entfernen darf. So wird es kommen (sagte der Laubfrosch); aber geschadet hat es ihm nicht, dass es erst so spät kommt; er ist weit unter Menschen herumgekommen dadurch und hat sie von allen Seiten sehen können, weil er überall Posto fassen konnte, ein rechtes Kronprinzendasein (“bald hier bald da” – oder nein so tutet ja der Kaiser selbst. Es ist egal. So hat er Menschen abgestossen und Menschen angezogen, unberechenbar. Nun im Fall Rudi Ehrenberg, vielleicht hat der ihm schon geschrieben; ich hatte schon ein bischen Dampf bei ihm gemacht, denn er schrieb mir “Ich habe ihm auch geantwortet, worauf bis jetzt nichts erfolgte. Es tut mir leid, dass es kaum der Beginn einer, sicherlich für mich erspriesslichen, Korrespondenz werden zu wollen scheint”. Daraufhin schrieb ich ihm, er sollte ihm ruhig von sich aus nochmal schreiben und vielleicht hat ers getan. Aber jedenfalls hier hat Eugen mehr gereizt als abgestossen. Kommt ja auch noch hinzu, dass Rudi Eugen mindestens vorurteilslos gegenübersteht, eigentlich sogar schon mehr als bloss vorurteilslos, während allerdings Eugen hier wieder etwas unter seinem Sammelbegriff “Ehrenberg” befangen ist, als welcher bedeutet: fadengrade, gute, grässlich gute, leblose, kultivierte Menschen, die infolgedessen, wenn sie den Geruch des Lebens wittern, plötzlich anfangen Kopf zu stehn. Ein Begriff, den er sich an Hans Ehrenberg hat bilden können (im Zusammenhang mit dem in die Bekanntschaft mittenhinein fallenden Verkehr in Hansens Cassler Familie), der ihn aber schon für den und nun gar für andre Exemplare der Familie etwas blind gemacht hat. Alle solche Familienbegriffe sind ja so starr und passen höchstens für eine Generation, in die nächste Generation mündet ja durch die Frau schon wieder eine ganz andre Familie. Meine Vettern und Cousinengeneration (mütterlicherseits) nennt gewisse uns mehr oder weniger allen gemeinsame Eigenschaften (ein gewisses Familiengebräu aus Esprit Bosheit und Liebenswürdigkeit) “alsbergisch”, weil wir es eben alle von den Müttern zu haben glauben; dieses selbe Element hiess aber in der Generation unsrer Mütter selbstnicht etwa alsbergisch, sondern (wieder nach den Müttern) “löwenbaumsch” (es war etwas altmodischer, lavendeliger, mehr Liebens-würdigkeit u. weniger Bosheit), und noch eine Generation früher soll es “lilienthalsch” geheissen haben. –
Ich stehe trotz Papst (und obwohl die Papstnoten hin u. her jetzt nicht mehr aufhören werden) nicht mehr auf Friedensverhandlungen in diesem Monat. Ja diese drei oder vier Jahr Wartezeit, wenns wirklich nur das gewesen sein sollte – ich werde sie aber vielleicht später als eine Schonzeit ansehen, denn es graut mich vor der Fahrt genau so wie es mich danach verlangt. Für Eugen ist es ja ganz anders; er ist eben verheiratet; so ist des Warten für ihn ein Anfang; den Grund und Boden seines Nachkriegslebens hat er schon, ob ers weiss oder nicht; ich denke er weiss es sogar.
Dass wir es alle jetzt mit Goethe zu tun haben: ich schrieb Eugen auch halbe Briefe voll. Ich schrieb ihm überhaupt in den letzten Tagen fortwährend. Heute aber ausnahmsweise nicht an ihn, sondern an Dich. Es ist ja einerlei. Wenn ich dichten könnte (wie der Kandidat Jobs, nicht wie der Doktor Eugen) so würde ich schliessen:
Die Aue bei Cassel ist von Le Nôtre
Ich aber bleibe für stets Le Votre.
11.9.17
L.E., noch zu der Frage, wie der antike Selbstmord dem Zeitbewusstsein entfremdet wurde, etwas was mir eben einfällt, nichts unmittelbar dazu aber doch der ganze Rahmen worin die Änderung geschah: Nämlich die grosse Confrontation des stoischen Idealmen-schen, des Sapiens, also des klassischen Selbstmörders, mit dem christlichen Charakter (belegt aus lauter Selbstaussagen des Paulus), eins der glänzendsten Stücke in der Civ. Dei, in einem der mittleren Bücher.
13.9.[17]
L.E., gerade vor 2 Tagen hatte ich einen Entrüstungsschrei über H.U. an Gritli losgelas-sen, und nun schickt er mir sein Elsass = Lothr. vom 3.VIII. Ich habe so garnichts zurückzunehmen. In der sachlichen Tendenz hat er ja recht und es wird ja auch irgend etwas derartiges im Werke sein. Schon Scheidemanns berühmtes Stockholmer “über E. = L. werde sich reden lassen” kann ja nur so gemeint gewesen sein. Aber was für eine verruchte und dabei doch ahnungslose Hintertreppenvorstellung von Politik. Zuerst wird eine Volksbewegung arrangiert, es werden “trotzige Worte” souffliert und dann kanns losgehen. Ganz äusserlich ist dagegen zu sagen, dass bei sovielen Mitwissern wie hier unvermeidlich wären, diese “Regie”=arbeit nicht geheim bleiben würde und damit grade der von H.U. gewünschte Erfolg zerstört würde. Aber vor allem: was für ein Begriff von Politik (und sogar von Regie). Regisseur ist also ein Mann der ein schlechtes oder wohl gar nicht vorhandenes Theaterstück durch Dekorationen und =kolletés zu einem grossen Kassenerfolg ausbaut. O Max Reinhard. Wenn es in der Politik einer “Regie” bedarf, dann doch eben nur der des guten Regisseurs: das vorhandene gute Stück mit den vorhandenen Mitteln so angemessen, so dichtungsnah wie möglich in Szene zu setzen. Der Regisseur soll wie der Wein nichts erfinden, nur ausschwatzen. Er lügt nicht, er bekennt das Kunstwerk und verwirklicht es.
Mit solcher Gesinnung muss man freilich “vertrauliche Denkschriften” schreiben. Aber die “Vertraulichkeit” wirklich staatsmännischer Denkschriften hat ihren Grund darin, dass alles Werdende als solches Dunkel, Stille, Austragezeit braucht, nicht beschrien und beschwatzt werden darf bis zu einem bestimmten Augenblick, dann aber ans Licht der Welt treten kann so wie es ist; die grossen Vertraulichkeiten der Politik haben es nie zu scheuen, wenn man sie hinterher mit ihren sämtlichen Argumenten ans Licht zieht. Dagegen bedeutet bei diesen Machiavellisten en miniature vertraulich: lichtscheu. Was aber nur durch spitzbübische Mittel herbeizuführen ist, das steht nachher auch nicht fest auf den Beinen, wenns da ist. Das ist der grosse Haken. Natürlich nur eine Nuance (es ist sehr wohl möglich, dass die Elsässer sich auch von selbst, ohne besondere künstliche Inszenierung zu dem Schritt versteigen, von dem H.U. ausgehen will), aber “die Nuancen sind das Unüberbrückbare”. Bitte teile diesen Brief Gritli mit; zur Ergänzung; ich fürchte, sie neulich durch mein allzu unvermittelt unflätiges Wutgeheul über H.U. vor den Kopf gestossen zu haben, denn er ist ja ein ganz netter, nur eben unmöglicher (und eigentlich gar nicht vorhandener), Mensch. Dass die Spitzbubenpolitik heut in Deutschland von allen Seiten (öffentlich) gewünscht wird, ist ja so naiv dass man beinahe wieder versöhnlich gestimmt wird. Kein Mensch begreift, dass die Stärke der Ententepolitik ihre subjektive Überzeugtheit ist und dass man gegen Überzeugtheit nicht mit bewusster Lüge ankämpfen kann und vor allem dass wenn mans doch versuchen will man gut tut es vorher nicht orbi mitzuteilen; denn selbst wenn der mundus decipiert werden will, so will er doch nicht, dass mans ihm sagt.
Bethmann, Bethmann du entschwandest! – Carissimo, ist mein langer Brief über Jensen, so etwa vom 25.VIII., eigentlich angekommen? Mir scheint da ein ganzer Posttag verschwunden zu sein.
18.[9.17]
L.E., Gritli schickte mir den “Rahmen der europ. Kultur” (was übrigens höchstens Untertitel ist; Obertitel muss sein: Geist und Seele. Das Gewebe (denn du sprichst von Zettel und Einschlag, nicht vom Rahmen) der europ. Kultur. Es ist sehr gut (übrigens auch pädagogisch gut, weil Schritt für Schritt, und auf den general reader berechnet). Die Gleichung objektiver Geist = regnum naturae ist eigentlich trivial und war mir beim Lesen doch wie eine ganz stupende Erkenntnis. Nachher frage ich mich freilich, ob du nicht um ihretwillen die moderne Wissenschaft gewaltsam entseelt hast oder mit anderen Worten, ob du nicht ihre ersten Jahrhunderte zu Unrecht über das 19te erstreckt hast. – “1800” bedeutet doch den Versuch die causae finales wieder zu Ehren zu bringen. Du vereinfachst die Sache etwas wie ein Chinese, der von “Europa” nur “England” sieht (Ku Hung Ming), oder besser noch wie ein Katholik, für den die moderne Wissenschaft en bloc “Rationalismus” ist. Mindestens müsstest du dich ausdrücklich über die “Kerbe” 1800 aussprechen und zeigen weshalb hier die Seele dennoch nicht zu ihrem Recht kam (Antwort: weil sie zwar als andrer Pol in das Element hineingestellt wurde, aber nicht die Stromrichtung umkehrte; der Idealismus stellt zwar das Telos in die Welt, aber er lässt die Welt sich zum Telos “entwickeln”, d.h. er setzt die Welt aus ihren disjectis membris zusammen, von denen geht er also ebenfalls aus. Was du aber meinst und willst, ist eine Betrachtung die vom Telos ausgeht und also dieses [doppelt unterstr.] “analysiert”. Beispiel: das 18.scl. stellt Preisfragen über die Entstehung der Sprache, “1800” kommt Grimm u. Humboldt und stellen die histor. bzw. philosoph. Grammatik auf; das 18.scl. tat also, als wenn die Sprache gar nicht da wäre und erklärte, wie sie dann zustande kommen konnte oder musste; 1800 wurde man von dem Vorhandensein des Gebildes Sprache ergriffen und begann zu erklären, wie es gebildet sei, bis über der Erklärung das Gebilde selbst wieder ganz schattenhaft geworden war; du hingegen in dem Sprachaufsatz vom letzten Winter, hütest dich vor der Auflösung des Gebildes in Elemente und machst es in der Weise verständlich, dass du es als Ganzes in Beziehungen zu anderen Ganzen (und nur daraufhin seine Teile in Beziehung zu den Teilen anderer Ganzer) bringst. Du gehst also vom Ganzen aus, baust es nicht aus Teilen auf, sondernmachst es zum Teil eines grösseren Ganzen. Nur dadurch aber wird ihm sein Teloscharakter gerettet. Denn so wie die analytische Wissenschaft nach einem letzten Teil strebt, aus dem der rote Faden der “Entwicklung” durch alle Wissenschaften hinläuft, so die Teleologie nach einem letzten Ganzen. Und für dieses Streben suchst du nach einer wissensch. Methode; während man “1800” das Telos, das man als “Ahndung” hatte, beim Eintritt in die wiss. Arbeit sofort verlor, weil man höchst bezeichnenderweise das Telos (Sprache oder Volk oderRecht oder Seele oder sonst was ruhig als einzelner stehen liess, ein Polytelismus durch den einem das τελειον ebenso durch die Lappen ging wie dem Polytheismus das θειον. Hegels Versuch die τελη zum Einen Telos zu verbinden ist grade das was an seiner Arbeit beim Zeitgeist einfach verloren ging; seine Einzelbehandlungen setzten sich durch; dass sie zum Ganzen tendierten, blieb unwirksam. Ranke ist eben nur Hegels Geschichts-philosophie und sonst nichts von Hegel. Die eigentlichen Hegelianer sind für die Wissenschaftsgeschichte bedeutungslos geblieben. Und das ist insofern in Hegels System selbst begründet, als die Systemteile bei ihm sich zum Ganzen “entwickeln“. Damit aber wiederholt sich wieder das gleiche Spiel, wie überall wo dieser Begriff eintritt: Das Telos baut sich aus den Telossen auf, es geht an seine Teile verloren und der Trieb dieser Teiltelosse zur Absolutheit erschöpft sich darin dass sie zum Aufbau des Ganzen beitragen. Es gehen keine Brücken zu den Brudertelossen hin= und herüber, es entsteht ein Gebäude [doppelt unterstr.], aber kein Reich der Zwecke; es hängt nicht jedes in allen andern, sondern nur alle zusammen im Ganzen. Sie sind schliesslich alle, Sprache, Recht, Kunst u.s.w., so gross sie erst auftraten, doch wieder nur Knechte eines Ganzen, Knechte so gut wie das Atom Knecht des Stoffes, die Zelle Knecht des Organismus ist. Während du lauter Bündnisse, Feindschaften, letzthin Vermählungen des grade Betrachteten, also der Sprache, mit allen andern telh aufweist, wodurch dann das Ganze zum “Reich” werden muss. Im “Gebäude” trägt der Teil das Obere, und wird vom Unteren getragen; im “Reich” ist Tragen u. getragen werden, Herrschaft u. Dienst, nicht auf zwei verschiedene Richtungen verteilt, sondern es ist derselbe, der mich trägt und den ich trage.
Trage mich.
Dein F.
[am Rand:] Eine Nebenfrage: Welcher Kaiser hat daran gedacht Papst zu werden?
Kennst du eigentlich Christof Schrempf? er fällt mir jetzt nur äusserlich ein, ich habe während des Kriegs nichts von ihm gelesen. Du kennst ihn wahrscheinlich nur als Kierkegardübersetzer. Er lebt im Württembergischen, hatte als Pfarrer in den 90er Jahren wegen Nichtverwendung des Apostolicums eine aufsehenerregende Affäre, die mit Entlassung schloss, schrieb zunächst im Anschluss hieran, schwieg dann ein paar Jahre ganz und war als er dann wieder den Mund auf tat ein grosser Schriftsteller geworden. Am einfachsten lässt du dir seinen Lessing (Aus Natur= u. Geisteswelt) kommen, das einzige kongeniale Buch das es über ihn giebt (Diltheys Aufsatz ist ja bloss sehr gut, aber gar nicht “kongenial”); die andern Sachen sind alle in mehr oder weniger obskuren Verlagen und schon dadurch nicht bekannt geworden; eigen habe ich ausser dem Lessingbüchelchen nichts von ihm. Es giebt z.B. ein Buch von ihm – ich weiss nicht mehr, ob es auch der Titel ist -: Ödipus, Hiob, Christus. – Er ist natürlich seinem Ausgang entsprechend “Protestant” in dem dir verbotenen Wortsinne, aber eben viel mehr geworden. – Alles übrigens unter Vorbehalt, da es immerhin mehr als 4 Jahre her ist, dass ich ihn las (ausser dem Lessing, den ich dir “unter Garantie” empfehle). Aber nun wirklich Schluss.
Wie alt ist das Wort λογος im Griechischen? (was heisst es bei Homer?)
Ist dir Rohrbachs Weltpolitisches Wanderbuch schon mal in die Hände gekommen? das geografische, und bessere, Gegenstück zu seiner schlechten Weltgeschichte.
[22.9.17]
L.G., nur rasch. (Ich weihe dieses verrückte Briefformat an dich ein). Das gelbe Couvert ist schon wieder zurück, ich fand das Stück sehr schön, im Styl anders als “Europa”, aber das würde für eine “Einleitung” gar nichts schaden; den akademischen Leser würde so eine Einleitung captivieren. Auf die Sprachlehre wäre ich doch neugierig, aber noch viel mehr auf Reden aus dem Jahrgang; über die habe ich ihm voriges Jahr immer geschrieben ohne sie zu kennen, – Kritiken a priori. Mit Michaelis’ Christentum – ich unterschreibe dich Wort für Wort, vielmehr habe dich schon unterschrieben. Ob er in den Himmel kommt, geht keinen Menschen was an, aber auf Erden kann ihm doch keiner diese korrekten Sprüche glauben. Das hat mir auch den Rest gegeben. (Das Cylinderbild den ersten Stoss).
Mir hat Eugen sogar einen Fahrschein geschickt! Etsch!
Franz
22.9.17
H.U. hat mir ein paar Worte zu seiner Els. = Lothr. Denkschrift zugeschrieben. Es ist mir ein peinliches Gefühl, dass er meine Arbeit mag. Na – er wird den Geschmack an mir schon mal verlieren.
Oktober 1917
2.10.17.
Liebes Verderben, “so wie du bist”!
ich begreife nicht, wie man einen auf dem Umweg über seine Frau erziehen können will, ja wie man überhaupt den schlechten Mut haben kann es auch nur zu versuchen. Wenn ich einen “erziehen” will, muss ich mich selber einsetzen und nicht selber im Hintergrund bleiben und seine Frau vorschicken. Der Umweg ist feige. Auch kann es keine Frau. Denn ihr macht zwar aus den Männern Männer im allgemeinen und überhaupt (und um so mehr je weniger ihr darauf ausgeht), aber nie eine bestimmte Sorte Mann und grade auf die bestimmte Sorte gehen ja die Erziehungswünsche der Freunde. So z.B., um einmal wieder diesen deinen Butzemann Kassler Angedenkens heraufzubeschwören, wäre Frau Doris nach ihrer ganzen Natur der Mensch gewesen aus Beckerath das zu machen, was einem Freund nicht gelingen wollte, und als seiner “Freundin” wäre es ihr vielleicht gelungen; aber als seiner Frau ist es grade anders gekommen, sie ist von Jahr zu Jahr mehr seine Frau geworden und er ist nun nach menschlicher Vorraussicht für immer zugeschlossen. Also eine Frau kann gar nicht so wirken, der Grund ist sehr einfach: sie kann nicht die Möglichkeit der Scheidung so in jedem Augenblick ihrem Angreifen zugrundeliegen fühlen wie der Freund in jedem Augenblick die eventuelle Entschlos-senheit zum Bruch in sich spüren muss; nur diese Entschlossenheit giebt seinen Worten Kraft. Mann und Frau sind sich Blutsverwandte geworden und also kann “nur der Tod” sie scheiden. Wahlverwandte aber scheidet das Leben und muss sie in jedem Augenblick scheiden können, wenn die Wahl noch lebendig ist. – Im übrigen aber, was will man denn eigentlich aus ihm machen? wie sieht denn das “Verderben” aus, das ihm droht? dass er kein grosser Professor wird? lieber Gott! dass er sich in einzelnen Ausbrüchen verpufft, statt langsam zu sammeln? aber wer könnte da den Mut haben einzugreifen? ein Kornfeld muss man anders bewirtschaften als einen Wald; für das Feld gilt es, die Ernte im guten Jahr vollständig einzubringen, beim Forst muss man mit Jahrzehnten rechnen. Er ist ein Feld und die Fragen des Aufspeicherns, Verteilens, u.s.w. sind erst zweite Fragen; von der Ernte hängt alles andre ab. Hätte er z.B. damals den Jahrgang in einem Hieb heruntergeschrieben, so wäre es ein glatt veröffentlichbares Buch geworden, seine Logik oder wie er selber, biografisch richtig, sagt: seine Phänomenologie. Jetzt zweifle ich freilich, ob er nochmal in den Schwung dieser Form zurückfinden wird, umsomehr als sich ja auch seine Gedanken verändert haben. Merkwürdigerweise habe ich hier eher das Gefühl, dass es unmittelbar herauskommen könnte, als bei Europas Darstellung und der Zeitrechnung. Der Grund dafür liegt wohl in der poetischen Form, durch die hat er sich das Recht einer gewissen Momentaneität, Nochveränderlichkeit u.s.w. geschaffen. Während ich bei der malgré tout wissenschaftlich objektiven Form der neueren Sachen eine Veröffentlichung erst wünschen würde, wenn sich alles mehr gesetzt hätte und er erst Herr über seine eigenen Entdeckerwonnen geworden ist. Das gleiche was mich hier bedenklich macht, würde ich in der Ritterschaft von St.Georg bedenkenlos durchgehen lassen, weil ich mir da immer sage: so gesprochen zu dem und dem Tag in dem und dem Augenblick der Geschichte des Bundes, und vielleicht kommt alles noch ganz anders. Aktuelles verlangt sofortige Öffentlichkeit, Poetisches wünscht sie (weil das Wort “heraus” will), Wissenschaft aber will Weile haben. Aber freilich nicht Weile im Produzieren wenn einmal das gute Jahr da ist, sondern nur Weile im Drucken. Ja nun die Form der Reden. Dass sie einen poetischen Zusammenhang geben sollten, also die Bundesgeschichte, war mir eine Überraschung; davon hatte er nie geschrieben. Du kannst dir denken, wie mich da die Parallele und zugleich die komplette Gegensätzlichkeit zu Rudis Predigten fesselte. Bei Eugen die Vorstellung eines grossen besessenen nur nicht produzierbaren Gedankenvorrats, für den nun plötzlich das Gefäss und damit zugleich die Möglichkeit sie auszusprechen gefunden ist; die Gedanken sind da, das Märchen schliesst sich um sie herum, so die ganz um den Gedanken herumgewachsene Symbolik der 7ten Rede; daher auch die Möglichkeit die Reden durcheinander zu schreiben. Dies bei Rudi unmöglich: er kann nur eine Predigt nach der andern machen; Grund: er hat eine Fabel, ganz im Groben und Allergröbsten: Pfarrer, Kleinstadt, Gemeinde, Gemeinschaft, Abfall, Liebesgeschichte, katastrophaler Schluss, also total uninteressant für ihn selbst, Kino, aber immerhin vorhanden; die Gedanken aber, die innere Handlung, überhaupt nicht, er hat gar keine Gedanken, ich glaube z.B. sicher dass er sogut wie überhaupt keine Skizzen für die späteren Predigten hat und sicher ists ihm unmöglich auch nur die übernächste vor der nächsten zu schrei-ben. “Kein Gedanke, den mein Kopf je gehabt hat und noch festhält” – das ist hier das schnurgerade Gegenteil: die Predigten werden grad die Gedanken enthalten die Rudi bisher noch nicht gehabt hat; mit denen die er gehabt hat, kann er dichterisch gar nichts anfangen. Den Entrüstungsschrei den die erste Predigt hervorgerufen hat kann ich mir nicht recht vorstellen, vielleicht weil ich sie eben gleich als eine nur erste vorgesetzt bekommen habe. Was hat denn “entrüstet”? dass die Wahrheit nun und ganz erscheinen muss? ich kann es mir wie gesagt nicht ausmalen. Oder empfand man vielleicht eine Forderung darin, der man sich nicht gewachsen fühlte und die man deshalb abzulehnen suchte? das wirds wohl gewesen sein. Schick mir bitte die übrigen auch noch (“hierdurch abonniere ich auf Ihre Halbmonatsschrift” es ist ja wirklich so; und ich revanchire mich nur – auf gut englisch – mit “Briefen an den Redakteur”) – Ich rechne mit Urlaub für Dezember oder Januar. Vielleicht kommts also wieder zu einem Planetenzusammenstoss. Aber vorläufig noch mit Kreide auf der Wandtafel. Und übrigens, “September 17” (Papstnote, engl. Anfrage, deutsche Antwort), – ists nicht glänzend bestätigtdem
Laubfrosch?
2.10.17 [17 = Ziffer auf Schreibblock]
Lieber Eugen, das Datum möge dich schonend (durch den anmutigen Zufall mit der 17) in die unanmutige Tatsache hineinführen, dass ich von jetzt ab mit Durchschlag schreibe und bei dem Perforationssystem dieses Buchs sogar gezwungen bin, den Durchschlag zu verschicken. Gründe 1.) Postsicherheit, z.B. ich glaube mein langer Bedankemichbrief für den Jensen an dich ist verloren gegangen (von Ende August) 2.) damit ich nach 14 Tagen oder mehr noch eine blasse Ahnung habe was ich geschrieben hatte; ich klagte dir ja schon neulich, dass ich grade meine richtigen Briefgedanken hinterher immer wieder vergesse. – “Dafür” schreibe ich nun viel weitläufiger und mit leeren Rückseiten. Na also.
Was du über Cäsar und sogar über Shakesps Cäsar schreibst, stimmt; ich war ganz blind daran vorbeigegangen. Das vom Tode hatte mich am Gilgamesch so stark ergriffen, wo man es negativ sieht, nämlich wie der Tod aussieht ehe man weiss, dass er der Schlussstein der Schöpfung und in den Sieg verschlungen ist. Den gelehrten Gilgamesch möchte ich doch haben, schon aus Neugierde auf Burkhardt und übrigens alldieweil ich doch ein Gelehrter bin.
Ja die Unehrlichkeit gegen das Geschlecht! Jeder erkennt es als das punctum saliens, aber statt es nun ruhig springen zu lassen und selber ruhig Schale und Dotter zu sein und zu warten bis man Hühnchen wird, fängt man an mitzuspringen, damit nur keiner (von einem selber angefangen) merkt dass da ein Punkt springt, und tristánt und isóldelt sich so durchs Leben, eben wirklich bis einem gesagt wird: es springt in dir und ist dein springender Punkt, aber du bist mehr als dein springender Punkt, – also eben bis man weiss was Sünde und Versöhnung ist. Das ist, oder sollte sein, der Weg des Europäers. Das Christentum öffnet ihm die zwei Wege jenes Mehrseins, den lutherschen und den “sinnfälligeren (so wie im Krieg die Macht des Staats sinnfälliger wird als im Frieden, in der Verurteilung die Macht des Richters sinnfälliger als in der Freisprechung – obwohl es in beiden Fällen die gleiche Macht ist), der Askese. Wir, zur Antwort auf deine Frage, kennen keinen Keuschheitsstand. Im Gegenteil: der Unverheiratete gilt religiös für minderwertig, wird zu den vielen ehrenamtlichen Funktionen im Gottesdienst grundsätz-lich nicht oder nur bei besonderen Veranlassungen (Familienereignisse und dergl.) heran-gezogen, nicht etwa bloss im Osten sondern ebenso in Deutschland. Die Gemeindemit-glieder heissen hebräisch bezeichnenderweise: Hausherren. Die Profeten wird sich der Jude ganz selbstverständlich als verheiratet vorstellen, von einigen ist es ja in der Bibel selbst erwähnt (hast du wirklich nie Hosea gelesen?). Von den beiden christlichen Wegen ist dem Juden der eine geboten, der andre versperrt, wie sich ja eigentlich aus der Sache – das Volk als Träger der Offenbarung – von selbst ergiebt. Isaaks Opferung bekommt grade durch ihre, von der Tradition stark betonte, Unnachahmlichkeit ihre für uns ewige Bedeutung. Kein Jude kann auf seinen Sohn, den Sohn der Verheissung, verzichten; Abrahams Verzicht geschah eben für alle kommenden Generationen, damit hinfort keiner mehr ihn nachtun müsse. (So wie der Kreuzestod für alle folgenden Christen geschah, damit sie leben können – das muss dir eigentlich das Verhältnis ganz klar machen). Und ich? ja solange ich unverheiratet bin, vgl. oben. Aber ich kann nichts dafür dass ich noch unverheiratet bin, verlass dich darauf. Dass Onkel Adam sein Junggesellentum immer als ein Unglück empfunden hat, glaube ich zu wissen.
Amadis habe ich deutsch gelesen, den ersten Teil. Von Bismarck habe ich unter-dessen selbst eine Äusserung aus kurz nach 1890 gefunden, wie ferngrückt ihm Christus jetzt sei. Für die Ernsthaftigkeit deines Schreis nach Naturwissenschaft habe ich dir ja inzwischen in Weizsäckers Aufsatz einen Probierstein hingeschoben; ich bin neugierig ob du ihn verwirfst oder als Eckstein erkennst. Pichts Buch hatte ich bestellt, ist aber noch nicht hier; ich bin mehr als neugierig darauf. Auf Kiefl hatte ich schon lange gekuckt; dein Befehl bringt das Fass zum Überlaufen. Ist Georg Stammler der Professor oder ein Professorensohn? Die Frkft. Ztg. – ja gewiss (wie fandest du übrigens Meineckens Auf-satz darin), aber findet Reventlow in das Volks = Sanktuar der Monarchiae hinein? Volks — Sanktuar??
An der russischen Revolution habe ich auch meine grosse Freude, dass sie so vollkommen russisch verläuft. Natürlich ist auch alles Technisch = Gestezmässige von Revolution überhaupt dabei, wie wir es seit Englands 17.scl. kennen, aber alles Drum und Dran ist doch russisch. Verrückt ist, dass der Krieg als Stellungskrieg diesmal gradezu insulierend wirkt und der Revolution den europäischen Druck vom Leibe hält, der sich im Frieden vielleicht so viel stärker gezeigt hätte als jetzt im Krieg. Das Feuilleton aus der bösen Frkfter (Max Webers Aufsatz zur Kriegsanleihe war aber übel) aus dem du deine Anekdote hast, war überhaupt gut. – Wegen der Aufsätze habe ich an H.Ehrenberg geschrieben für den Fall, dass er, was wieder ein bischen möglicher aussieht, einen Verleger findet. Die Zeitschriftidee ihm vorzusetzen fehlt mir der Nisus [?], den hatte ich in dem Brief an dich ausgegeben und da du nicht gegenschlägst, so erwacht er nicht wieder.
Schade dass ich den Schlusssatz von Goethe u. Bismarck mir nicht mehr rekonstruieren kann. Die Troerin kenne ich nicht, aber Gedichte ziemlich viel. Er spricht allerdings in beständigem Widerspruch zur Goetheschen Sprache. Aber – nun ja. vielleicht kein Aber.
Ich schicke dir doch den Meineckeschen Aufsatz mit, du hast ihn ja vielleicht übersehen (übrigens plagiert er a priori deinen Titel). Mir ist er nämlich unerwartet wertvoll gewesen. Weil ich bis da noch einen Rest von Unsicherheit gegenüber dem Pazifizismus hatte und nun in Reaktion auf Meinecke nicht mehr. Wie ganz bismarckisch denkt er doch noch trotz des unbismarckischen Inhalts! Der Krieg ergebnislos, offenbar weil und wenn er die Staatsgrenzen des deutschen Reichsstaats nicht verändert! Und der Pazifizismus ist in Wahrheit der Sieger am Schluss jedes grossen Kriegs, das allgemeine: “mei Ruh’ will i han”. Aber jedesmal ists Ruhe für etwas andres. 1815 die Ruhe für 1830, 1834 (Zollverein) u. 1848, für Grim[m]s Wörterbuch u.s.w. u.s.w., also für nationalen Zusammenschluss und demokratische Revolutionen. D.h. aber: für eine räumliche Zusammenfassung und für eine innere Umschaffung. Das ist das Geheimnis des Hl.Allianzpazifizismus und etwas derartiges ist auch das schwarzrotgoldne Geheimnis des kosmopolitischen Pazifizismus von heut. Der Pazifizismus will Frieden und Freiheit, aber er schafft immer “nur” pax (Landfrieden) und Libertät (für die inneren Mächte im Volk, sich frei gegeneinander zu stellen und sich zu bekämpfen), also eigentlich zwei Entgegengesetzte, nämlich Landfrieden und Faustrecht. Sieh mal an!:
Kriegszeit / Friedenszeit / Kriegszeit u.s.w
Standrecht / Faustrecht / u.s.w.
Burgfrieden/ Landfrieden / u.s.w.
Ich grüsse dich, durch Papier und
Pauspapier hindurch –
F.
6.10.17
Liebes Gritli, dein Brief scheint ja nun z.T. schon von deinen eigenen Ereignissen überholt zu sein, denn inzwischen hast du Hans den “Kriegsteilnehmer” = Plan weitergegeben und der hat Feuer gefangen und geht zu Stilke. Gut – wenn Hans wirklich die Arbeit auf sich nehmen mag und Stilke auf die fast risikolose Sache, das Erscheinen der 4 ersten Hefte, eingeht und Druck u. Papier zu schaffen sind. Aber Eugen muss dann auf jeden Fall dabei sein und zwar einschliesslich Goethe u. Bismarck und einschliesslich des Rechtsbestands (über den ich Hans noch ein paar Worte schreiben werde – ich glaube das “retrospektiv” ist Vorwand und in Wirklich hat ihn grade der prospektive Schluss, der ja wirklich besoffen ist, erschreckt, und er hat in der richtigen Annahme dass man in seine Fehler immer am verliebtesten ist, lieber einen andern Grund genannt; ich werde ihm jedenfalls schreiben, dass der Rechtsbestand auch ohne den Schluss, oder mit verändertem[?] Schluss, gehn würde, aber dass er so kaum[?] müsste. Nun also das … [unleserlich] Buch. Mir scheint Eugen überschätzt das Schwergewicht dieser 6 Aufsätze; das ist kein Buch, das ist höchstens Buchersatz; es bezeichnet die Stelle wo “zwischen Königshaus und Kreuz d. W.” ein reichsrechtliches Buch stehen könnte, aber es bezeichnet sie nur, steckt sie kaum ab, baut einige Baracken auf dem Grundstück, – von wirklicher Gebäudeanlage keine Rede. So wie sie sind, ist das Schwergewicht dieser 6 Aufsätze kaum grösser als das einer der Hansischen Aufsatzgruppen, die im Thema enger sind, es aber besser ausfüllen. Du hast das schon ganz ähnlich empfunden als du meintest: Eugens Buch “Vom Rechte das mit uns geboren ist” müsste doch anders aussehn. Also das was Eugen, autobiografisch wohl mit Recht, darin sieht, sind sie von aussen gesehen nicht. Aber sie sind schon etwas, und etwas was so wie es ist gleich veröffentlicht werden kann. Und sie gehören auch, mag er sich sträuben wie er will, in das Nebeneinander mit Hans Ehrenberg und mit [mir,=durchgestrichen] A. Bund. Es giebt mindestens nichts andres, womit sie zusammengehören. Ich finde nichts, soweit ich mich unsehe. Selbst Grabowsky ist nicht modern genug oder wenigstens nicht unbedingt parteilos genug. Die Probe auf Naumann hat Eugen ja selber schon mit negativem Erfolg gemacht. Frkft. Ztg.: wird er selbst nicht glauben. Weiter rechts? “Ich verhülle mein Haupt” sagte Harnack zu Kriegsanfang mit Bezug auf England. – Wie liegt[?] also der Fall? Veröffentlicht werden müssen die Aufsätze, um der Zeit willen, um der Leute willen, um der in diesem Sodom vielleicht verstreut doch lebenden 10 Gerechten willen. Aber um Eugens willen könnten sie auch ungedruckt bleiben, denn das was er meint, stellen sie nach aussen nicht dar. Und nun sagt Kantorowitz: er verdirbt sich die Professur, und dass er an sich, wenn er nur das Maul noch so lange hält, Professor wird, einfach aus Loyalität, Anciennetät und ähnlichen schönen Täten – das glaube ich bestimmt. Und also meine … [unleserlich] drei Gesichtspunkte – Sodom, Eugen und … [unlerserlich]müssen vereinigt werden, indem er die Sachen pseudonym an Hans giebt. Bis das Kr. d. W. dann erscheint, hat es noch gute Weile und bis dahin wird er wohl Professor sein. Ich kann ja nicht beurteilen, ob die 6 Aufsätzchen wirklich das Fass seiner Unmöglichkeit zum Überlaufen bringen werden, das weiss Kantorowitz besser; aber das weiss ich: um sie unbedingt mit seinem Namen decken zu müssen, dazu sind sie nicht gewichtig genug. Die Abneigung gegen Pseudonym, die er hat, mag er mit Rücksicht auf “Sodom” mal unterdrücken.
Also so – als Herzlich willkommen = Schild über dem H U schen Haustor – war mein Wutgeheul nicht gemeint. Es war ja überhaupt mehr das Geschrei der Notwehr, weil du mir über sein Mich gegen Eugen Ausspielen schriebst. Den Bruder Chemiker und die Eltern habe ich mal in der Kgin. Augustastr. genossen, ein Besuch Sonntag Nachmitttag auf dem Ecksofa im Klavierzimmer. Da war freilich der diplomatische Verkehr der beiden verschwägerten Mächtegruppen so brüllkomisch, dass ich kaum zum Genuss der charakterlichen Details gekommen bin. Aber übrigens nehme ichs bei den Eltern, die mit Stoffen, Papieren oder sonst was handeln, wirklich nicht so ..[unleserlich] wenn sie so sind, wie dem Sohn der mit Ideen handelt, mit “Wahrheit”. Dass er dies Geschäft mit “reinem Willen” betreibt, nämlich “um des Geschäfts willen”, nicht um etwas damit zu verdienen, hat er mit jedem grösseren Geschäftsmann gemein. Vielleicht wäre er, wenn er einen irgendwie befleckten Willen hätte, ein Mensch, – ja sicher: dann wäre er “vorhanden”, hätte Anrecht auf die Hölle und also auch auf den Himmel. Aber so senza lode e senza vergogna bleibt er bei dem von dem es heisst: guarda e passa. Aber auf die … [unleserlich] der Frömmigkeit im Heere” bin ich begierig, und .. vielleicht …Mazedonien dringt, so wäre es sch.. …schrift) gelegentlich .. auf dem Rudi.. .. sie einschalten könnte x (natürlich nur, wenn du … kriegen kannst). Beim System der Liebesgefühle muss ich an einen Heidelberger Studenten und Philosophen denken, der einmal Hans begegnete und ihm erzählte: jetzt habe er endlich eine allgemeine Einteilung aller aber auch wirklich aller Gefühle: in angenehme, unangenehme und gleichgültige. Worauf Hans, um ihn etwas zu erschüttern, leichthin: “nun und z.B. das Liebesgefühl?” “Aber selbstverständlich: angenehm”. – Da wäre ich wieder bei Hans. Natürlich weiss er nichts von Eugen, aber das ist ja kein Grund, die beiden voneinander abzuschliessen. Würde Eugen Hansens Kriegsaufsätze kennen, so hätte er auch ein etwas reelleres Bild von ihm als das jetzige, das bloss in seinem (Ehrenbergs) mich (Eugens) = nicht = Verstehen besteht. Mir selbst ist Hans jetzt als der Entfremdetste unter meinen Freunden der Respektierteste und mit Erwartung und Angst Umschnupperte. Mit “angenehmem Gefühl”
Dein Franz.
- x) [am Rand] natürlich nicht die “Kriegsteilnehmer” sondern das “brave Gritli”.
14.10.17
Lieber Eugen, ich habe den Weizsäcker noch nicht wieder gelesen; aber auch so schon – dein “Kartellträger” ist ja das Mindeste und die Frage ist eben, ob mehr. Natürlich eine Frage, aber für mich eine ernsthafte, weil W. in meinem Leben eine wirkliche persona dramatis gewesen ist. Nämlich ich habe, im Winter 06 auf 07 an ihm auf Umgangsnähe erfahren, was ich gleichzeitig an Kries auf Hörsaalferne und an Kant auf Buchweite erfuhr: dass Wissenschaft “etwas” ist, keine blosse intellectual insanity, wie ich bisher (trotz Hans!) allen Ernstes glaubte. “Etwas” – mehr nicht, “was” war mir unklar, aber als eine unleugbare Tatsächlichkeit war sie nun da. Und nun nachdem dieser Anstoss mich weitergetrieben hat, sehe ich ihn plötzlich wieder in meine Nähe gekommen. Dieser Zusammenhang erklärts, dass ich hier nicht einfach wie du das skeptische Gefühl “mal abwarten” haben kann, umsomehr als er brieflich – ich werde dir die Stelle abschreiben wenn ich erst wieder bei meiner Formation bin – noch weiter ging. Auf keinen Fall würde ich seine mögliche Zukunft der Pedanterie des “deutschsprechens” opfern; du bist in der Gefahr, da zum zionswächterlichen Huhu = Rufer zu werden. Heit und keit machen die Sprache noch nicht deutsch, und ismus und ität noch lange nicht undeutsch. Ich gelte dir ja als prodomo = Redner wenn ich das sage. Aber im Ernst: die Sprache muss weder deutsch noch undeutsch sondern von Angesicht zu Angesicht sein. Spreche ich zu einem, dem das “Fremdwort” geläufig ist, so fange ich unbekümmert an mich geläufig auszudrücken und erst wenn ich ihn soweit habe, spreche ich eigen, sei es mit dem eigenen Fremdwort sei es mit dem, hier und jetzt gleichfalls eigenen, deutschen. Ich darf nicht aus der Wirklichkeit herausspringen wollen, das Meer der Eigenheit hat keine Balken; sondern ich muss meinen eigenen Grund und Boden an den Strand der Wirklichkeit anbauen; so kriegt das Eigene Halt. Das soll natürlich keine gewisse Verteidigung Wzs sein sondern nur eine eventuelle. Die Art wie er an einzelnen Stellen über die Fremdworte hinauswuchs, hat mir Vertrauen gegeben.
Kühlmanns Europa spricht sich l’Europe und stammt aus dem alten Metternich-schen Diplomatenstyl. Deshalb versteht es – o quae mutatio, ja gradezu perversio rerum, sogar Theoder Wolff. Er würde weder deine, noch Hansens (etsch!) noch meine Politik verstehen, aber alles durchaus billigen. Wenn dieser wohlgepflegte Redner neben und unter dem schweren Versteher und grossen Billiger Bethmann wirkte, das wäre schön. So wird er verpuffen; – was um sein Talent wirklich schade ist.
Hast du eigentlich 1911 im Oktober, als Italien anfing, das Verhängnisgefühl gehabt? Ich entsinne mich noch ganz genau des Eindrucks, mit dem ich die Nummer des Lokalanzei-gers früh im Berliner Käselädchen liegen sah: nun fängt es an. Sicher sind sie das Volk des Machens. Das Kindermachen, das bei uns schon für die männliche Beteiligung als eine rohe Bezeichnung gilt, gebrauchen sie ganz arglos für die weibliche, das Gebären.
Den Pressedienst habe ich wohl seiner Zeit zurückgeschickt. Ich schicke dir zwei Schrempfe, die merkwürdige Kongressrede – sie scheint das letzte zu sein was er publiziert hat, und wie voller Fragezeichen, die ihn doch noch nicht recht kitzeln; ich glaube wenn er wieder den Mund auftut, wird er inzwischen den Mitmenschen entdeckt haben, den er 1910 so ängstlich als “Volk” draussen hält, weil er ihm wenn er hereinkäme den ganzen Begriffsgarten zertrampeln würde, – und die doch den Titel verlockende leider lang nicht genug merkwürdige Habilitationsrede, die viel akademischer ist als sie sein möchte (aber immerhin!), und ein famoses Sprachbuch eines Schulmeisters gegen die Schulmeister und den sie noch überschulmeisternden “Gebildeten”.
Kennst du das Inselbüchlein von André Gide,”Der verlorene Sohn”, eine Selbstzer-setzung des Nouvelle France = Katholizismus (vermute ich)?
Guten Abend. F.
18.10.17
L.E., was du an Augustin entdeckst, dass der Un – Sinn des Fragens nach der Seelensub-stanz darin besteht, dass es post festum geschieht, darüber hat Kant den ganzen langen Abschnitt von den “Paralogismen der reinen Vernunft” geschrieben: das Ich keine Sub-stanz weil es die Substanz ist. Und die “Ordinarien” sollten das nicht wissen? Aber was geht das “uns” an? ?. Ein Protest gegen die Forsterhetze? Ja eben deine Aufsätze, meine Aufsätze Hansens Aufsätze – einen andern weiss ich nicht und der ist besser als ein eigentlicher Protest sein würde, denn er nimmt nicht Forsters “Partei”, seine ganzen antimilitaristischen pacifizistischen rhetoristischen Dummheiten die man doch nicht mitmachen kann. – Ich schrieb dir neulich über Schrempf und vergass dass der Lessing ja von 1913 ist. Und das mit dem Gnastella[?]geist – da wäre ja also schon das “Volk”. Es ist übrigens die ganze crux des gegenwärtigen politischen Augenblicks, dass es dem Staatsmann heut nicht mehr erlaubt ist, die bequeme Goethesche Unterscheidung von “Volkheit und Volk” zu machen. Aber wie nun? Um der “Volkes” willen muss er auf Belgien und Kurland verzichten. Schön! oder auch nicht schön. Aber dieses selbe “Volk” würde – glaub es o Leutnant – kaltherzig auch auf nicht bloss Elsass Lothringen (das versteht sich von selbst), sondern auf Preussen, Bayern, Hessen = Nassau, Kassel nebst allen zugehörigen monarchischen und sonstigen Volkssanktuarien verzichten, “um des lieben Friedens willen.” Weshalb soll der Staatsmann da auf die Stimme dieses Volkes betr. Kurland hören, wo er auf dieselbe Stimme weiter doch nicht hören kann. Deutsch-land hat das Unglück, den Kieg demokratisch führen zu müssen mit einem noch nicht demokratisierten Volk. Hier wird die Nemesis für Bismarcks Bevormundungssystem furchtbar wirksam. Der englische Demos[?] hat einen selbstverständlichen, imperia-listischen Willen gehabt, schon vorher, und so lässt er sich jetzt willig in den impe-rialistischen Krieg führen. Dem deutschen müsste jetzt während des Krieges das Kriegs-ziel plausibel gemacht werden; es ist ihm nicht zu verübeln, wenn er da misstrauisch wird und nicht hören will. Vielleicht wäre es besser gewesen, Bismarck hätte 1890 seine rote Revolution gehabt und wäre so abgefahren wie er 1848 aufgekommen war; dann wäre, einerlei wie das unmittelbare Ergebnis gewesen wäre, die Demokratisierung Deutsch-lands unausbleiblich gewesen. So ist der Demos in den 90er Jahren statt des politischen das ästhetische Problem gewesen – “Schmach und Gram”! Nun ist es zu spät und Heinrich Mann schreibt seinen ademistischen Roman “die Armen”. – Zu der gelehrten Preisfrage “Steht wann?” Sicher zwischen 1800 und 1810, mehr 1810 als 1800. Schwieriger das “von wem”. Beim Lesen dachte ich einen Augenblick, wegen der Unverschämtheiten, Fichte. Aber bei Fichte spüre ich immer so eine Welle von persönlicher Antipathie und die habe ich hier nicht verspürt. Also: F.Schlegel. Und da käme als das “wo” wohl die Wiener Vorlesungen in Betracht, die ich nicht kenne. Wettsicher ist, wie stets bei mir, nur die Zeitbestimmung. – Mit Thukydides greifst du mir vor; er steht auch auf meinem Programm. Dass die Reden bei ihm das eigentliche sind (bei Livius nicht) war mir schon immer gewiss; im übrigen aber war ich lauter Neugierde und jetzt nun nicht mehr. Zu deiner Wissenschaftslehre …[Diagramm] gehört folgende olle Kamelle von mir: alle wissenschaftliche Originalität (“Gleichwerden mit dem ersten Gelehrten Thukydides”) beruht auf der Vereinigung zweier Gesichtspunkte, Sehweisen, Forschungsrichtungen, Methoden zu einem Werk. Wer nicht doctus zweier Fakultäten ist, ist nicht fähig Doctor einer zu sein. Ein wissenschaftliches Problem fruchtbar machen, heisst: es in ein Grenzproblem verwandeln. Auch in der Wissenschaft giebt es keine Parthenogenese. – Wer ist dieser überraschend kluge Franzose, der den Thukydides übersetzt hat? Ich bin wieder einmal stolz darauf, dass ich kein französisch verstehe, (in dem Sinn wie ich z.B. griechisch verstehe, nämlich pontoi – grau – herandrängend – Schaum – u.s.w., während die Assoziationsreihe für französisch anfängt: mer – Meer – ça also das wirkliche Meer! – u.s.w.) Pichts Buch habe ich seit gestern Abend. Es ist mir zu konform als dass es mir sehr viel bedeuten könnte (“wenn ich W. P. wäre” hätte ich es geschrieben). Aber was du neulich schriebst – dass sein dir = nicht = schreiben = können ein Entstehungsgrund oder Niederschriftsgrund gewesen sein sollte – das begreife ich nicht und glaube es nicht. Übrigens siehst du – diese Aufsatzsammlung müsste um des Verfassers willen ebensosehr wie um der Sache willen gedruckt werden, denn sie ist genau was er geben kann, während deine 6 schwarz = rot = goldenen Aufsätze von dir nur eine Andeutung dessen sind was du eigentlich meinst und schreiben müsstest und deshalb müssen sie nur um der Sache willen gedruckt werden und um deinetwillen könnten sie ruhig das Gewicht deiner Opera posthuma vermehren. Weisst du, welcher mir der ober= und untertonreichste Satz in dem ganzen Buch scheint? der wo er sagt, dass das Christsein eine Taktfrage ist. Alle andren Sätze sind Explosionen also “Erlebnisse”, dieser ein Destillat, also eine “Erfahrung”. Wenn er ein Denker wäre, so hätte er das, viel dickere, Buch um diesen Satz geschrieben. – Jetzt nach dem Krieg sollte sich doch in Deutschland eine Stelle finden, wo man diesen Menschen verwenden könnte. Oder ich pfeife auf das ganze “neue” Deutschland. In Zahnschmerzen (in doloribus pinxi schrieb Fr.W. I unter die Seestücke, die er zum Zeitvertreib malte wenn er des Podagra hatte) –
Dein Franz.
19.10.[17]
Noch weiter: Du bist eigentlich gar nicht so verfinckht, wie du dich nennst. Sonst würdest du an die 234 oder 169 oder sonstwieviel Sprachen denken,die statt cogito cogitare meum sagen. Vor allem aber: das eigentliche Wunder, das meine Ich, entsteht gar nicht im Ich, sondern das Ich als die Substanz (“ante festum”) ist durchaus nicht mein Ich, sondern eben Ich überhaupt, und durch das Er wird es zwar vervielfacht, aber nurmehr Ding unter Dingen. Sondern mein Ich entsteht im Du. Mit dem Du = sagen begreife ich, dass der andre kein “Ding” ist, sondern “wie ich”. Weil aber demnach ein Andrer sein kann wie ich, so hört das Ich auf, das einmalige “Transzendentale” ante omnia festa zu sein, und wird ein Ich, mein Ich und doch kein Es. Mit dem ersten Du ist die Schöpfung des Menschen fertig. Und nachdem so am Du das Ich Person geworden ist, Bleibt das Substanzhafte des Ich rein zurück. Jetzt kann der Mensch an ein Ich “jenseits” seines Ichs glauben, weil sich sein Ich vom Ich überhaupt abgespalten hat. Dieses grosse Ich kennt freilich nur das Er Sie Es der “Welt” als sein Korrelat und verkehrt auch mit dem Menschen nur in der “dritten Person”. Wie könnte der Mensch wagen zu ihm “du” zu sagen! dazu müsste er erst du zu ihm sagen. Dieses zweite du (nach jenem ersten am Ende der “Schöpfung”) ist die “Offenbarung”. Ob es wohl unter Finck[h]s 321 Sprachen eine giebt, die ganz ohne ich und du auskommt, etwa bloss mit einem System der dritten Person wo vom nahen zum fernen gradweise fortgeschritten wird (celui-ci, celui-là), wo also das Ich nur als das Nächste, das Du als das Nächst-entfernte u.s.w. gekennzeichnet wäre? Philosophus non supra gramaticam, aber warum soll es nicht antiphilosophische Grammatiken geben?
19.10.17.
Liebes Gritli, die Manuskripte sind alle wieder zurückgegangen; ich habe keins in Mazedonien behalten. Inzwischen hat Stilke schon abgelehnt; hingegen soll Fischer noch dem Locklied des feuchten Weibes Hans lauschen und wenn daraus was wird, dann muss Eugen einfach und dafür dass er dann geschlossen mit allen 6 Aufsätzen auftritt sorge ich dann schon. Für ein eigenes Buch reichen sie wirklich nicht; grade Pichts Buch hat mir das deutlich gemacht, ich schrieb Eugen über diesen Punkt. Pichts Buch ist prachtvoll; alles auf der Höhe des Weihnachtsaufsatzes, den ich kannte. Dass er Antisemit von Religionswegen, so im Style des Johannesevangeliums, wäre, könnte ich mir gut denken, aber dass er es von Rassewegen ist, tut mir leid, denn das ist doch bei ihm ein blosses Hineinfallen auf die Schlagworte der Zeit. Überhaupt ist der Judenhass, der auch die christgewordenen umfasst, mir der eigentlich ärgerliche, – einfach weil ich ihnen den Stolz dieser Schmach nicht gönne und nicht gönnen darf. Da es aber so liegt, so vermute ich hier auch den Grund für Pichts Verwendung des Goetheaufsatzes; sonst verstehe ich sie nicht. Picht muss einfach schon mal auf ähnlichen Wegen gegangen sein, das ist gar nicht anders möglich; und nur das allgemeine Misstrauen zwingt ihn, dem “Juden” hier das Hineinreden in diese “deutsche Fremdenangelegenheit” zu verbieten. Anders kann ich es mir nicht erklären. Dann der 4. Oktober, wenn doch meine Eltern wenigstens an den Heiligen gedacht hätten, aber sie haben an gar nichts und gar niemanden gedacht und haben diesen Namen für mich angeschafft einfach weil er im Schaufenster lag und ihnen gut gefiel, und daher wird es wohl kommen, dass ich noch heut ihn nicht im geringsten mit mir verwachsen empfinde; ich könnte ebensogut auch anders heissen. “Ebensogut auch anders” – das ist doch das Schlimmste was man von irgend etwas Eigenem sagen kann. – Du schreibst vom Münsterplatz – es ist mir als ob ich dort spuken müsste, so sehr war ich da zuhause. In allen Jahreszeiten bei Tag und Nacht und bei jedem Wetter, draussen und drinnen. Sogar mehr als in unsrem alten Haus in Kassel wo ich meine ersten 18 Jahre zugebracht habe; ich ging nach vielen Jahren einmal als ich zuletzt in Kassel war die Treppe herauf, kam mir aber dabei vor wie mein eignes Gespenst. Bist du mal im Münsterturm bis in die Pyramide heraufgestiegen? sonst tue es auf jeden Fall. – Hier giebt sich der Staat alle Mühe, mich meinem stillen und verantwortungslosen Unteroffiziersda-sein zu entreissen und ich finde es gelingt ihm. Aber dafür habe ich die Nähe einer Stadt und wohne in einem vom Krieg wenig mitgenommenen Dorf – genug Inhalt für die paar Wochen. Dezember oder Januar bin ich wieder urlaubsreif; an Rudi gehe ich so grade hart vorüber, er kommt im November! Aber Eugen? und Eugenia?
Fr.
November 1917
[November 1917]
Liebes Gritli,
ich habe jetzt 14 Tage lang Briefschulden anwachsen lassen. Du bist mit zwei Briefen und einer Karte unter den Gläubigern und sollst zuerst dran kommen. Ich bin selbstver-ständlich auch mit dem neuen Zeitschriftplan sehr zufrieden, überhaupt mit allen Plänen. Wenns etwas giebt, wird wohl auch von mir noch einiges Neue kommen; denn ich bin jetzt wieder dabei, bei der Politik, nachdem die unglückliche Episode Michaelis aus ist. Wenn Bethmann denn wirklich aufgebraucht wäre, so weiss ich mir nichts besseres als Hertling; ich hatte schon im Juli auf ihn als Nachfolger gehofft. Auch die ganze paragra-phenlose rein tatsächliche Form, in der nun die “Parlamentarisierung” geschieht, halte ich – wohl sicher im Gegensatz zu Eugen – grade für gut. Aber vor allem doch eben der Katholik und Süddeutsche Hertling, schlau wie alle Katholiken wenn sie nicht gradezu dumm sind. Nun muss und wird Mitteleuropa kommen.
In Eugens Politica habe ich mich ja nun lange hineinzudenken versucht, etwas ists mir auch gelungen (vom sowieso Gemeinsamen, was ja doch die Hauptsache ausmacht, spreche ich natürlich nicht, sondern von den “Unterscheidungslehren”. Also nicht vom Schwarz = rot = goldnen und nicht vom Antibismarck. Zum Teil komme ich nicht mit, weil ich doch immer noch zu wenig juristisch interessiert bin, und zum Teil: Eugen ist – auch – Preusse, und ich gar nicht; dieser “Vater” Staat ist mir so fremd oder nah wie der Gentleman England, die Tochter Österreich u.s.w., während mir der Sohn Deutschland doch etwas bedeutet. Eugen hat ein wirkliches Herz für ihn, ein schwarz = weisses Minderheitsherz neben seinem schwarzrotgoldnen Mehrheitsherzen.
Nun die Denkschrift. Sie ist (oder jetzt schon: war) sehr – schön, und also ist sie nicht sehr gut. Es fehlt ihr das Hanebüchene, das Derb = Diplomatische. Sie ist keine platform. Sie ist an niemanden geschrieben, und das Wesen einer guten Denkschrift ist, dass sie an jemanden und zwar an den oder einen Mächtigengerichtet ist und dass man ihr das in jedem Augenblick anspürt. Sie ist an die Leute bonae voluntatis gerichtet, also an die die 1.) nicht existieren und zweitens, wenn sie existierten sie nicht nötig hätten. Die Argu-mente reissen weder Erzberger noch Naumann noch Scheidemann um. Und wegen dieser – politisch genommen – Abstraktheit hat er auch nicht das richtige Augenmass für die Allianzmöglichkeiten; er lässt sich von den “Unabhängigen” als Verbündeter reklamieren – um Himmels willen. Dann doch lieber von Niemandem. Ein kleindeutscher Antimilita-rismus! +) – da laufe ich noch eher zu Reventlow, der Mitteleuropa wenigstens als die Annexion Österreichs Ungarn Bulgariens der Türkei durch das Dt. Reich kapieren würde. Die blosse Brüderschaft im Opponieren, die Gemeinsamkeit der Vogelscheuche genügt doch wirklich nicht. Etwas ists auch wieder das bekannte Flüchten vor sich selbst ins eigne Gegenteil.
Von Lichnowskys Denkschrift wusste ich nichts, doch war mir die Sache bekannt und ich hatte mir längst meinen Vers daraus gemacht. England hatte in den letzten Jahren zwei Eisen im Feuer, die Einkreisung und die Verständigung, wohl auch vertreten durch zwei verschiedene Gruppen im Kabinett (Austritt zweier Kabinettsmitglieder bei Kriegsaus-bruch. Dass die Einkreisung rascher brannte als die Verständigungsschnur – darüber war Grey ernsthaft erschrocken. Die berühmte “frivole” Rede (“wenn Engl. am Krieg teilnimmt, wird es nicht mehr leiden als wenn es fernbleibt”) habe ich sowie ich sie ganz zu Gesicht bekam als durchaus ehrlich, entsetzt und betrübt, empfunden. Grey hat wirklich den Krieg verhindern wollen. Aber – qu’est ce que ça prouve? Ich verstehe wie jemand der an die Kriegsentstehung in der letzten Juliwoche 14 glaubt, dadurch erschüttert werden kann; aber daran habe ich – zur mir noch wohl erinnerlichen Entrüstung aller Rosenstöcke in Berlin – schon im August 14 nicht geglaubt. Und – aber ich bin müde und friere, und vor allem dies letztere ist Grund, dass ich mich sehr nach Urlaub sehne; vor Januar wirds keinesfalls und auch das wohl nur, wenn ich im Dezem-ber zu einem Kurs nach Jüterborg oder Warschau kommandiert werde; sonst kann es noch bis ins Frühjahr dauern. Und im Frühjahr ist ja doch Frieden.
Eben las ich in der Zeitung den anscheinend ziemlich authentischen Bericht über einen englischen Kronrat 1913. Auch da sieht man wieder, wie zwangsläufig England auf den Krieg zutrieb und wie es ihn auch bei gutem Willen kaum vermeiden konnte. Kitche-ner ist der, der das – nach dem Bericht – unbarmherzig ausspricht, Grey auch hier mehr der (von seiner Einsicht) Getriebene als der Treiber. – In einem solchen Irrewerden an unserm Recht wie das wovon du erzählst, rächt sich die verlogene Darstellung, die bei uns wie überall zu Kriegsbeginn unter das Volk geworfen wird (und wohl werden muss), wo die Intriganten draussen die Ehrenmänner drinnen “überfallen”, der ganze leidige Emserdepeschenbetrieb. Deswegen bleibt es freilich doch prachtvoll wenn einer den Mut der Konsequenz nach solchen Irrereden hat, persönlich prachtvoll; in der Sache komme ich nicht mit.
Und nun Hans. Ja da komme ich mit. Leider. Was mich an Eugens Intransigenz ärgerte, war ja nur dass er sich gegen die Möglichkeit einerBundesgenossenschaft sträubte, die zweifellos besteht. Über die Kampfgemeinschaft hinaus noch etwas? Ja, wie geht es denn mir selber?! Ich weiss nicht wie weit ich darüber mit dir schon gesprochen habe. Ich bin dem gegenwärtigen Hans fast ganz entfremdet; wir haben nur eine gemein-same Vergangenheit, von 1905 bis 1910. Das Planetarische, das die Verhältnisse zwi-schen Menschen haben, ist da recht sichtbar geworden. 1910 “ging” Rudi über meinem Leben “auf”, Philips über Hansens. 1911 und 12 waren grosse gegenseitige Störungen in allen 4 Bahnen, als deren Resultat dann die neue Gruppierung hervortrat, endgültig gemacht durch die beiden Beweibungen, Rudis und Hansens. Durch Else ist die Ära Philips verewigt, auch wenn er selbst (ich weiss jetzt gar nichts über Hansens Verhältnis zu ihm) einmal wieder verschwinden sollte. Wenn ich Hans jemals wieder näher treten sollte, so wird es ein völliges Vonvornanfangen sein. Denn es ist so, dass der jetzige Hans zu Beginn der Ära Philips – ob mit oder ohne seinen “Einfluss”, ist dabei ganz gleich – entstanden ist; von diesem Erlebnis weiss ich, verstehe es sogar vielleicht, aber was hilft das! ich war nicht dabei und auf das Dabeigewesensein kommt es an. Ebenso bei ihm zu mir. – Seit der Heirat im Sommer 1913 haben wir uns dann erst im Krieg wiedergesehn, vier Mal; und immer, auch brieflich, ist es mir so gegangen, wie du es von Jüterborg beschreibst: sachliche Übereinstimmungen (natürlich), aber keine Fühlung mehr von Mir zu Ihm. Beinahe ist es schwer, das Gespräch auch nur äusserlich von der “Politik” wegzubringen. Unsre Briefe sind von einer lächerlichen Dürftigkeit, Bulletins, keine Briefe. – Und da die Gegenwart allmächtig ist, so habe ich jetzt eigentlich auch von der Vergangenheit (“1905-10”) keine lebendige Vorstellung mehr. – Aber das grob falsche Zerrbild, das Eugen von ihm hatte, sollte er doch nicht behalten, und so bin ich froh, dass Ihr in Jüterborg wart und das Zusammensein offenbar den Erfolg hatte, den es “nach Lage der Personen” einzig haben konnte, und auch dankbar für den guten Willen mit dem ihr es herbeigeführt habt, was doch in dieser Zeit der Verkehrsschwierigkeiten keine Kleinigkeit war. –
Eugen muss ich noch über verschiedene Bücher schreiben, die direkt oder indirekt von ihm kamen; ein paar Tage lang stand alles was ich las infolgedessen unter bischöflicher Autorisation – Batiffol und Kiefl. Aber der Danton war auch gelesen ein grosser Ein-druck. So ganz Historie wie eine Shakespearsche Historie und zugleich so ganz und gar nicht Historie wie Lear oder Hamlet. Das Schönste und die Stelle wo ich das Stück eigentlich erst, dann aber mit einem Schlage und vollkommenem Durchblick, verstand, ist der letzte Satz der letzten Szene. Dieses zugleich, “so ganz” und “so gar nicht” des Stücks macht es so lebendig, wie ich in der ganzen deutschen Theaterlitteratur nichts weiter kenne. Auch würde ich es, wenn ich es nicht wüsste, sicher nicht für 1830, sondern viel eher für 1930 oder mindestens 1918 gehalten haben, denn wann früher war man zugleich so ganz und so gar nicht wie wir heute, die wir als “Zeitgenossen” – wer lacht da nicht! – des grössten Ereignisses die grösste Gelegenheit haben zu sehen dass selbst das “grösste” Ereignis – Nichts ist. “Es lebe der König” – – –
Wenn du noch in Leipzig wärest, würde ich dir schreiben: Grüss Jacobi. Es ist so beruhigend zu denken dass er verheiratet ist, und der Welt diese Vermehrung ihres Glückskapitals sicher ist. Das ist beinahe englisch gedacht. Aber warum soll man nicht auch mal englisch denken. Wobei mir einfällt: kennt Eugen Chestertons Heretics? sonst schick es ihm (aber Tauchniz, die deutsche Übersetzung ist bis zur Unverständlichkeit balhornig). Übrigens nicht weil es englisch ist; es ist europäisch – in dem Sinn, in dem Kühlmann das Wort – leider – nicht versteht. Aber Dein Eugen und
dein Franz.
- x) das Rot an Schwarz = weiss gebunden, eine rote Nase statt des roten Herzens im Schwarz = rot,gold.
[Feldpostkarte] 21.[XI.17]
L.G.,
Adresse leider auf 4 Wochen wie umstehend.
F.
[Absender Dienstgrad Uoffz. Name] Rosenzweig
[Sonstige Formationen] Flackoffizier AOK 11
[Deutsche Feldpost Nr] 680
26.XI.17
Lieber Eugen, um mit dem letzten anzufangen: weder Verdun noch Mailand noch Ypern würde den Frieden herbeiführen. Der Friede kommt diesmal ganz logisch: “wenn der Krieg zu Ende ist” – kein Augenblick früher. Erkämpft werden nur seine Paragraphen, nicht der Friede selber. Im übrigen würde mir auch keiner dieser drei Orte militärisch einleuchten. – Ich hatte kein Schreibebedürfnis (an dich) weil ich über eine Woche lang an mich und Rudi schrieb, etwas sehr wichtiges; als ich fertig war las ich den Heim, der dir von Kassel aus zugehen wird und fand dass da alles viel sauberer und besser ausgedrückt ist, obwohl fast alles in der Sache gemeinsam ist; natürlich gefällt mir meins doch besser, aber durchaus zu Unrecht. Ich habe mir nun gleich auch sein historisches Buch bestellt. – Und ausserdem hatte ich noch so viel in deinem Auftrag zu lesen. Also: die beiden mit bischöflicher Appprobation: Der Kiefl ist ja gut und schön; doch geht es mir wie dem berühmten Lakwni tini welchem eines Sophisten den Herakles gewaltig lobenden er sagte: Wer hat ihn denn getadelt? Nämlich ich habe eigentlich die Frage Christentum u. Sklaverei mir vor Kiefl schon genau so gelöst; so blieb mir hauptsächlich die amüsante Interpretationsgeschichte vor bei und nach Luther. Aber Batiffol – nein ich bleibe Partei Harnack; diese Kombination von Infallibilitätsdogma und Tainescher thèses-Technik, das ist eine greuliche, und sowohl für Taine wie für die Infâme blamable, Möglichkeit. Harnack hat ganz recht mit seinem Gleichnis von den summierten kleinen Richtungsänderungen. Grade weil und wenn ich , seit 1913, überzeugt bin, dass welthistorisch das Tu es Petrus das authentischste aller Logia ist, das von dem aus alle andern philologisch vielleicht authentischeren interpretiert werden müssen, – grade deshalb entsetze ich mich über diesen wissenschaftlich frivolen Versuch, die Profezeiung in ein paragraphiertes Statut umzufälschen. Denn frivol, – ich habe kein andres Wort für dies Vorwort -, und ich weiss wohl, dass es typisch katholisch ist. Protestantische Wissenschaft mit ihren unbewussten Voraussetzungen ist ehrlich. Mag er an soundsoviel Stellen im einzelnen recht haben, (so, wie mir scheint, z.B. bez. Marcion und der Entstehung des Kanons). Grad heut bin ich wieder in Tertullian hineingestiegen, dessen Hirsebreiberg opera omnia ich allmählich durchfresse, und habe – in de anima – gleich wieder ein paar wunderbare Stellen gefunden, wo er gegen die Skeptiker die Partei der Sinne nimmt und gegen den Platonismus die Ganzheit der Seele verteidigt und gegen die platonische Psychologie die Auchgöttlichkeit von Platons “niederem” Seelenvermögen ira und concupiscentia (denn Gott, Christus und die Apostel zürnen und begehren!) —- und auch du, Agitator. Aber du bist wohl doch kein Politiker. Wohl deswegen weil du nur dich und deinen Feind (Haase Cohen etc.) lieben kannst, aber nicht deine Nachbarn. Der Politiker ist aber grade der Mensch, für den die “Nuancen” nicht das “Unüberbrückbare” sind, sondern der Blöcke um sich bildet wo er hintritt. Diese Fähigkeit sich nicht durch den Gegensatz dialektisch zu steigern sondern sich durch die (oberflächliche, triviale) Verwandschaft zu mehren (sich Masse geben), hast du grade nicht. An Gritli schrieb ich noch mehr darüber. Den besten Staat lese ich wohl erst morgen. Ich schrieb auch wegen Hans an Gritli. Wegjagen? dafür bin ich nicht, wegen katholischer Eheauffassung. Die stille Hoffnung, dass sie ihm mal weglaufen würde, habe ich 1.)aufgegeben (sie liebt ihn jetzt) und 2.) würde es nichts helfen denn er hat nicht Else geheiratet sondern thn ejlsothta. Übrigens ist – leider ejlsothı gar nicht die reine Materie, sondern eine blosse Randzeichnung des kleinen Moritz: “wie sich der kleine Moritz Geist die reine Materie vorstellt”. Wäre sie wirklich die reine Materie, so wäre ja alles gut. – Den Savonarola las ich noch nicht wieder. Hoffentlich ist die “eine Stelle” nicht die von Lorenzo Medicis Anosmie[?] – da wäre ich wirklich böse. – Kennst du den Jensenband in Fischers 1 Marks Romanen (“Dolores”)? sonst schenk ihn dir von mir; das Schönste ist die Geschichte von Richard. – Noch etwas wegen “Batiffol und Kiefl”. Diese katholische Wissenschaft von heute ist nicht von heute; das ist eine Trivialität aber darum nicht weniger wahr. Die ma.[?] Scholiastik war auf der Höhe der Zeit, die ausserkatholische Wissenschaft, die arabische und jüdische, können sich wissenschaftlich neben ihr ruhig verstecken, sie sind simpel neben ihr, etwa wie im 19.scl. französische neben deutscher Philosophie. Diese heutige kathol. Gelehrsamkeit ist unwahr von Grund auf. Sieh dir doch die Leute an! Sie sind, grade in der Wissenschaft, ohne Naivität (heilige Naivität, Rabiatheit, Besessen-heit). Leute wie Harnack mögen übrigens Arschlöcher sein, aber in puncto Wissenschaft sind sie rabiat und hinterhaltslos wie Kinder. So ein katholischer Professor steht fort-während unter seiner eigenen Inquisition – was kann da herauskommen! Solange die Inquisition wenigstens noch eine handfeste äussere Macht war, ging es noch; da war das Gift noch nicht in den Seelen. Deshalb konnte es im 17.scl. noch grosse Gelehrte inner-halb des Katholizismus geben.
Gute Nacht. Franz.
27.11.[17]
Lieber Eugen, ich vergass noch: das Bonifaziusheft, wenigstens das dicke, hatte ich schon vor einiger Zeit – ich glaube, auf die Frkfter Ztg. hin! – kommen lassen und sogar auch schon Newman daraufhin bestellt, freilich noch nicht bekommen. Das Kleistbuch war schön. Adam Müllers Briefwechsel habe ich daraufhin bestellt. (Ich bin mit meiner Diagnose zufrieden). So interessant hatte ich ihn mir nie vorgestellt. – Also die Kalopolitia[?] – das ist ja natürlich nur ein Entwurf, aber wohl sicher fruchtbar, z.T. brauchst du ja einfach die Schemata auszuführen. Aber es fiel mir auf, wie schwer verständlich eigentlich deine Grundbegriffe (Freiheit Erneuerung Wiedergeburt) sind, wenn man so aus heiler Haut plötzlich vor sie gestellt wird. Im fundamentierten System wäre das anders. So aber ist es als ob du sie schon als fertige Münzen verwendest, und Münze ist Münze auch wenn sie aus der eigenen Prägstätte E.R. hervorgegangen ist. À bas la terminologie, vive la Sprache! Das können unsre inneren Volkshaufen leicht brüllen, aber dass unsre inneren Regierungen diesem Volksgeschrei Leben und Gestalt geben, das bleibt eine ungeheure Aufgabe. Vielleicht hilft einzig der Krieg dazu, der äussere Zwang, der Zwang sich zu äussern; erst der Zwang zu übersetzen, erlöst die Terminologie (in der bei rein innerem Leben der Geist rettungslos versumpft) zur Sprache. Es muss Frieden werden und wieder Auditorien geben.
Du musst mir antworten auf das was ich dir über Volk Annexionen u.s.w. schrieb; diese Zweifel stehen noch genau so starr und ungelöst vor mir wie vor einem Monat. Und wer soll sie mir lösen können als du, der Liebhaber Haases und Cohns!
(Oder hast du meinen Brief vom 18.10. nicht bekommen?)
F.
Dezember 1917
1.XII.[17]
Lieber Eugen, so ist der Schluss gut. (Es müssten also natürlich alle auch die jüngsten Jahrgänge mitstimmen und damit das keinen Präzedenzfall bedeutete, bei dieser Abstim-mung die ältesten Jahrgänge, die also die weder Soldaten noch Hilfsdienst-pflichtige waren, ausfallen. Sonst wäre es ja nicht das Volk in Waffen). Komisch, dass mir beim ersten Lesen, und auch jetzt wieder, das Konservative des Aufsatzes (nämlich die Rechtwerdung des Octroiunrechts von 1849 durch die Konflikslandtage) das eigentlich Neue und Auffällige war; das Revolutionäre wusste ich “schon so”; aber Delbrück scheint es anders zu gehn. Wird denn nun dieser und die andern Aufsätze an einer “radikaleren” Stelle erscheinen? Gritli schrieb von einem neuen Zeitschriftenplan; nächstens wollen wir sie nummerieren. An dem kleinen III. Teil der Denkschrift habe ich wieder gemerkt, dass ich nicht richtig überzeugt bin. Ich bin eben restlos einverstanden mit der Lösung der neuesten Krise (meine Zeitungsgleichzeitigkeit bricht allerdings vor einer Woche ab; seitdem habe ich nur Presseberichte). Trotzdem dass ich Etappen-schwein und Doktor der Philosophie (papyri inopiae causa) geworden bin (Etappen-schwein papyri superfluentiae causa).
Quod …[?]
Franciscum tuum.
4.XII.17
Lieber Eugen, es wird mir doch jetzt etwas klar, warum ich deine Lösung der Krise nicht verstehe. (Formell ist der Grabowsky Aufsatz die beste Fassung). Nämlich: was soll denn dein Reichstag im Frieden machen? da giebt es doch nicht soviel auswärtige Politik. Soll denn nur der Bundesrat die ganze Arbeit tun, die bisher den Reichstag beschäftigte? Zolltarife, soziale Gestzgebung und was weiss ich? Aber das willst du natürlich nicht. Du willst die Differenzierung bloss durch die zwei getrennten Häupter in der Reichsleitung. Aber wird dem Reichstag ein Haupt genügen, das ihn bloss in der auswärtigen Politik vertritt? Heute ja, weil im Augenblick die Stellung zum Frieden alles beherrscht. Aber später? wie nuttig sind die auswärtigen Fragen, die selbst das englische Parlament in normalen Zeiten beschäftigen. Ich sehe wie du das Nest der Krise in dem Bismarckschen Erbstück, dem Kanzleramt. Und halte wie du eine Entlastung für erforderlich. Halte auch den Kanzler nicht für parlamentarisierbar, er muss der “Bismarck” bleiben (“Bismarck” nach Analogie von “Cäsar” und “Krali”), der Exponent der Reichseinheit, grade weil der Kaiser stets König von Preussen sein soll. Er steht und fällt mit dem kaiserlichen Ver-trauen. Aber der Vizekanzler, sozusagen Premierminister des Reichskanzlers, der kann parlamentarisiert werden, Haupt der Mehrheit, der sie und damit den Reichstag in allen Punkten vertritt; man kann ja der Geschichte nicht vorschreiben, welche Fragen sie grade auf die “Tagesordnung” setzen und zu “Kabinettsfragen” machen will. Die Verantwort-lichkeit des Kanzlers vor dem Reichstag bleibt so papierern (d.h. so “ideal”) wie sie war. Das berechtigte Verlangen nach einem wirklich, reell, ihm verantwortlichen Premier-minister wird dem Reichstag im Vizekanzler erfüllt. Das habe ich mir schon im Oktober so zurechtgelegt, nicht erst jetzt nach Payer[?]. Der Vizekanzler ist so nur die Mittelper-son, kein wirkliches Gewicht im System der Geschichte, und das wirst du dagegen sagen; aber das ist vielleicht grade richtig; denn die Macht der “Demokratie” soll eine schwank-ende Grösse sein, es soll Zeiten mit mehr und Zeiten mit weniger Demokratie geben; und zwar deswegen, weil das Volk nicht wie Kaiser und Regierung nur politische Grösse ist und sonst nichts; sondern das Volk soll seine unpolitischen Zeiten haben können sogut wie sein politischen. In den unpolitischen Zeiten ist mein Vizekanzler eine uninteressante Figur, in den politischen ist er ein Diktator, der dem Kanzler faktisch über den Kopf wachsen muss (also mehr als Payer).
Obwohl nur Grabowsky und nicht du um kurze Äusserungen zu der von Dr.jur Eug R…k Privadozent des Staatsrechts an der Universität Leipzig skizierten Lösung bittet, schicke ich doch diese Äusserung lieber an dich.
Dein F.
[Schluss fehlt?] 14.XII.17.
Liebes Gritli, heut kam dein und Eugens erster Brief nach einer längeren Pause. D.h. von dir sind auch schon die Georgsreden gekommen; ich habe sie aber noch nicht gelesen.
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch …
steht fast zu Anfang eines langen Hölderlinschen Gedichts “die Alpen” aus der Über-gangszeit zum Wahnsinn. – Meine Briefe an Eugen – und Eugens an mich, da du davon anfängst, muss ich dir einen von meinen Plänen für die ersten Friedenswochen erzählen: Nachmittags zwischen 2 und 3, wenn der Stumpfsinn der Verdauung über einem liegt, sitze ich und diktiere diesen ganzen Briefwechsel vom Juni bis Dezember 16 (denn da ist ein Abschnitt) und als Abschluss dahinter zwei Eugensche Gedichte vom Frühjahr u. Sommer 17 die die Summe ziehn; ein Durchschlag für Eugen, einer für mich und das Hauptblatt sollte, nach eingeholter Eugenscher Genehmigung, ein Geschenk für Rudi sein. – Von der Hälfte würdest du nun nicht viel haben; denn jede Hälfte für sich ist wesentlich klug, erst der Briefwechsel zeigt, die Klug = und Gelehrsamkeiten als das was sie waren, Hieb und Gegenhieb. Käme ich jetzt auf Urlaub, so könnte ich Eugens Hälfte zusammensuchen und dir geben. Oder höchstens Mutter müsste die Briefe heraussuchen und dir, eingeschrieben, schicken. Lohnen würde sich die Abschrift schon; es verläuft trotz der Zufälligkeiten des Briefstyles und trotz (oder da sogar z.T. wegen) des gelegent-lichen a tempo Fallens der beiden Hiebe – Postentfernungen! – doch merkwürdig dramatisch. Es müssen reichlich ein dutzend je Brief und Gegenbrief sein, also vielleicht 200 Seiten Maschinenschrift. – Dank für das Autogramm. Ich war ganz erschrocken und dann habe ich fast geheult, – so schön ist die Schrift. Und so einer konnte verbraucht werden. Die Schrift ist aristokratisch und doch gar nicht preussisch. Wie der Kopf. Und wie der Mann selber war. Aber ich habe doch meinen Frieden mit der Politik gemacht, seit Anfang November. Sie hat sich freilich sehr verändert in diesen paar Monaten. Oder vielmehr mein Verhältnis zu ihr. Ich bin gar nicht mehr einfach dabei, sondern sinneriere hülflos. Ich traue meinem Demokratismus nicht mehr. Seit ein paar Tagen habe ich nun angefangen ihn “peinlich zu befragen”, spanne ihn täglich über ca 2 Seiten Folio und zwinge ihn zu Geständnissen. Ich weiss heute, nach 4 Tagen Verhör noch nicht, wie der Fall liegt. Ich habe Eugen gefragt, schon vor Wochen, aber er hat nicht geantwortet. Ich will wissen, ob das Volk belogen werden muss, ob cant eine allgemeine politische Notwendigkeit ist. Das Geständnis das ich der demokratischen Idee abzwingen will, heisst: “Alles durch das Volk, alles gegen das Volk.” Sie stöhnt und windet sich, gesteht es und nimmt es wieder zurück. Über dieser inquisitorischen Tätigkeit bin ich ein rechter Jurist und Formalist geworden und war ganz verwundert, als mich Eugen per “mein Historikus” anredete; ich bin so abstrakt wie lange nicht. Davor habe ich eine Art theoretischer Physik des Krieges geschrieben, ebenfalls verrückt mathematisch; Eugen wird sie von Kassel kriegen (wirklich mathematisch. Untertitel: “Erörterung des strategischen Raumbegriffs”. Erörterung ist ein richtiges Mathematikerwort; sie “erörtern” eine Formel, d.h. sie machen anschaulich, was alles damit gesagt ist.) Aber du siehst schon dass ich es hier warm habe; ich bin doch in der Etappe! und beim Schreiben
[Schluss fehlt?]
15.XII.17
Lieber Eugen, gestern und heute kam ein Brief von dir. Inzwischen habe ich mir nun weil deine Antwort auf meinen Notschrei eines Möchtegerndemokraten ausblieb, selber eine Antwort gegeben; ich male schon 5 Tage an einem opus abstractissimum “Die Gewis-sensfrage der Demokratie” herum und habe mich so allmählich wieder zu der Friedens-resolution des Reichstags zurückgeschrieben. Ich war tatsächlich schon so weit, dass ich die Lüge für ein notwendiges Werkzeug des Staatsmanns im Volksstaat hielt. Heut habe ich mir Gott sei Dank erschrieben, dass das nicht wahr ist. Kurzum ich schreibe mir die Ära Michaelis vom Halse und grade zur rechten Zeit hat mir Gritli die Handschrift des Staatsmanns geschenkt, – ein Amulett für die Brieftasche. – Es wird überhaupt viel geschrieben. Vorher ein militärisches Gegenstück zur Ökumene, nämlich wieder ein quid sit spatium (ein Seitenstück zur Ökumene ist ja auch der Macedonikusaufsatz vom Juli nach dem Urlaub und vor der Nachricht von der Krise; du wirst ihn jetzt von Kassel haben), – nur diesmal nicht die “Grenze” sondern die “Front”. “Cannä und Gorlice. Eine Erörterung des strategischen Raumbegriffs”. Du kriegst es von Kassel; es sind ausge-tragene Gedanken und mir infolgedessen wenig wichtig, ganz anders wie die “Gewis-sensfrage” die wirklich eine ist. (Wenn der gute Onkel Richard -, über den du dich auch amüsieren wirst; es ist guter Beitrag in deiner Familie = Ehrenberg = Kenntnis; du kennst Hansens Familienbasis nicht, wenn du nicht auch diese Komponente kennst; also wenn dieser gute Onkel wüsste, wie sauer wir “Jungen” uns unser bischen Demokratie werden lassen müssen und wie liebend gern wir “Aristokraten” wären, – wenns nur der liebe Gott erlaubte!). “Cannä u. Gorlice” wird selbst dir genügend mathematisch sein. – Um die gesammelten Werke zu erledigen: ich weiss noch heute nicht, ob Rudi meine am 18.XI. an ihn abgegangene Summa gekriegt hat; ich bin froh, eine Durchschrift zu haben. Ich habe es auf deine Anfrage hin wieder durchgesehen; es steht mehrmals darin, dass und weshalb er es dir nicht schicken soll; aber ich finde jetzt, es ginge doch und falls es verloren ist und ich es nochmal abschreibe, kriegst du die Durchschrift. Aber Heim ist besser, in jeder Beziehung. (Ausser dass ich einen tieferen Wahrheitsbegriff ins Treffen führe). Aber die Eleganz seines Denkens und dabei die absolute Glaubwürdigkeit seines Gefühls – wirklich! – das ist prachtvoll. – Warum bist du so böse auf Scheidemann und Consorten? Sie waren doch schon lange, schon seit 1890 keine schönen Revolutionäre mehr, sondern nicht Fisch und nicht Fleisch. Nun sind sie zu Ehren gekommen und neben ihnen ist (wäre, und wird sein) Platz für schöne Revolutionäre. Was wollen wir mehr? (Aber so wie Lenin dürfen sie nicht aussehen, das ist ja Jensens Mongole, nur ohne – leider ohne – Grausamkeit, sondern lauter “pazifizistischer Zug” nicht bloss um den Mund, sondern um alle Körperöffnungen, Augen und Ohren und Nasenlöcher und – ich möchte darauf schwören: auch um …. und um …. – Du schreibst immer als wenn ich kein maqhthı deiner Revolutionstheorie wäre, ich bin es aber (schon wegen der prächtigen Bestätigung Russlands); nur da wo es arithmetisch wird streike ich, aber alles andre ist ja stupend. Wenn du die Methode des Herrn Dick aus David Copperfield anwenden würdest (der nämlich alle Akten, die er schrieb dadurch unbrauchbar machte, dass er überall plötzlich in eine Bittschrift und Rechtsverwahrung an das Cromwellsche Parlament betr. des Prozesses König Karls I. hineingeriet und aus welchem David Copperfield einen nützlichen Menschen machte, indem er ihm neben das Aktenkonzeptpapier eigene Bogen legte auf die er zwischendurch alle seine Einfälle für die König = Karl = Denkschrift schreiben konnte), also wenn du die entsprechende Methode anwenden könntest, so würde ich wünschen, du machtest schon jetzt ein Buch daraus:
Revolution
Eine Philosophie der europäischen Geschichte.
von
Dr. Eugen Rosenstock
- Professor des Staatsrechts an der Universität Wien.
Berlin bei S. Fischer 1918
[seitlich] oder: Europas Revolutionen
Eine Philosophie der Geschichte
Dass Rickert nach Wien abgelehnt hat, ist doch gut. Der gehört nicht in die Hauptstadt Europas (denn wenn sich Berlin nicht sehr eilt, wird der D=zug der Weltgeschichte an der Station Mitteleuropa nicht halten, sondern durchfahren. – Dass und was ich in Ökumene über Afrika geschrieben habe, weiss ich nicht mehr – und wird es mich interessieren dasselbe aus Ihrem, sehr geehrter Herr, Plagiat kennen zu lernen. – Meine Mutter schrieb mir mehrmals, die italien. Erfolge und ebenso die russ. Sache ginge eindruckslos vorüber; sie hat im Rechtsschutz u. Suppenanstalt Gelegenheit, das Volk – und kat∆ ejxochn das sind doch die Frauen – zu hören, und hat die Objektivität, wirklich zu hören. – Loyd Georges Pariser Rede – der Inhalt unser Sieg, die Form unsre Nieder-lage. – Und trotz allem, ich kann mich nicht vor dem Frieden fürchten; ich habe ihn jetzt, wo er im Osten aufgeht, zum ersten Mal wieder zu denken gewagt und bin für einen Augenblick aus meinem Schutzpanzer herausgekrochen – es wird dochgehen. Nein grade weil die Welt “vertiert, entsehnt, entseelt, glaubenslos” eine menschenleere Hindenburg und ein durchorganisiertes Ludendorf geworden sein wird, grade darum werden es die Menschen nicht sein. Ist es nicht merkwürdig (im Sinne meiner Summa), dass die militärische Sprache das Du oder Ihr (unser “Sie” ist uns ja nicht mehr bewusst als 3. Person) durch die 3. Person ausschaltet. Darin zeigt sich dass der Militarismus weltlich par excellence ist. Deswegen werden die Menschen das Du lieben wie sie das Leben lieben werden, denn sie haben das Er und den Tod geschmeckt. Glaubst du das Lessing-sche Schulschnäcklein, “den” Griechen hätten die Tränendrüsen offener gestanden als den “Modernen”? Sondern Achill und Odysseus hatten 10 Jahre trojanischen Krieg im Leibe; da werden auch σκηπτουχοι βασιληες ής κακοτητος gewahr. Sieh dir doch die Kunst der Jungen an. Ich verstehe ihre Sprache schon kaum mehr, aber das sehe ich: sie sind menschlicher als wir zu unsrer Zeit waren. Sie “überwinden” nicht, sie schreien.
17.XII.17
Lieber Eugen, – o weh! oder besser: herzlichen Dank! denn ich habe dich heut unver-schämtest plagiiert. Nicht bloss so nebenher, sondern richtig systematisch, nicht mehr Diebstahl, sondern Plünderung. Ich habe heut in “Vox Dei?” (diesen Obertitel hat, wegen zunehmenden Umfangs, die “Gewissensfrage der Demokratie” vor 5 Minuten verliehen bekommen) den Abschnitt geschrieben wo ich exempli gratia die 5 Völker des August 14 vorführe (die Volks = vox, und [zwar?] – wie in der ganzen Arbeit – nebeneinander und identifiziert das Volks als Demos und das Volks als Herrn v. Goethes “Volkheit”, bei Kriegsausbruch – oder das Volk wie es A sagt). Und da traten als Figuranten der Volk-heiten deine Geschöpfe auf: der Gentleman, die Delacroixsche Revolutioneuse, Dosto-jewskis Werdender, die nubierende Braut und Jungsiegfried = Teuerdank. I can’t help it – es wird wohl eben einfach richtig sein. Mit dieser unverschämten und benevolentiam captierenden Entschuldigung – oder nein, doch lieber “mit nochmaligem besten Dank”
verkriecht sich schamrot ins Bett
Dein Franz.
I beg our pardon – pardon monsieur – molim gospodin (oder so ähnlich) – nix für ungutt – behalte mich trotzdem lieb!
19.XII.17
Lieber Eugen, lauter paterpeccavis: 1.) ich habe den Bock mit causa und propter gleich gemerkt, dachte aber vielleicht merkt ers nicht und liess ihn laufen. Aber natürlich hast dus doch gemerkt. – 2.) Chesterton – damals hast du mir nur What’s wrong in the world gezeigt. Von Heretics wusste ich nichts. Immerhin ist es doch weniger schlimm, auf gute Bücher aus einem Versehen hingewiesen zu werden als auf – aber ich halte die Antithese zurück, bis ich deine beiden Österreicher ganz intus habe. Und 3.) noch einmal mein Plagiat. Das Schlimmste ist, dass ich dich eigentich nur ausbeute und also letzthin deine Idee travertiere; ich raufe ein paar Blumen aus deinem Garten aus, statt dass ich Samen von dir bei mir einsetze. Denn selbst dass mir überhaupt die Demokratie so heftig Problem geworden ist, verdanke ich nicht deinen Briefen vom Mai u. Juni, sondern der Friedensresolution und der Vaterlandspartei. Grade was du über Preussen als dein Urphänomen schreibst, – es wird ja ganz deutlich wie grade das woran ich mich seiner Zeit (abgesehen von der Arithmetik) am meisten gestossen habe, grade die Hauptsache ist, die Zerstörung der Gleichung Staat (nicht bloss Nationalstaat) und Grossmacht. Ich wollte noch etwas schreiben, merke aber dass ich etwas ausgebrannt bin. – Ich lese (und du auch, wenn dus noch nicht kennst) Overbecks berühmte 1873er Schwesterschrift zu Ns erster Unzeitgemässen, “Über die Christlichkeit unsrer Theologie”, Neuausgabe mit sehr wichtigen Vorundnachwörtern, von 1903 (bei Naumann, Leipzig). Ferner zum zweiten Mal – Hansens Parteiung, ein imponierendes Buch; dann Siebecks, des Heidel-berger Medizinprivatdozenten, Freundes von Weizsäcker und Rudi, kleines religions-philos. Schriftchen “Das Unmittelbare” unendlich fein, fast weiblich (aber die Art Weiblichkeit die nur bei Männern vorkommen kann) – Schmelz, auch in der Sprache; du musst es lesen (verlegt ists natürlich beim Papa). Und sonst noch allerlei, den Parmeni-des, den Newman, den Stegemann, den Wotansknecht (so etwas ist doch ganz gleich-gültig und macht weder lieben noch hassen, höchstens kann es einen hie und da etwas misstrauisch gegen sich selbst machen, z.B. in puncto Schiller contra Goethe, wo er mir durch seinen Beitritt meine eigene Haltung etwas diskreditiert). – Vox Dei? ist heute nach Kassel gegangen, wird dich also vor Neujahr erreichen; du bist in diesem Fall erster Adressat (bei “Cannä u. Gorlice” wars Hans, bei der Summa Rudi – so besetze ich die Ordinariate meiner privaten universitas). Ob neben den Plagiaten auch Parallelen vorkommen? in Anbetracht der Gleichzeitigkeit unsrer “schweren Stunden” nicht unwahrscheinlich.
F.
[25.12.17]
“O Eugen – ” – – da bist du also, kamest sogar sogenau heut am 25ten dass mir die Märchenprobe mit dem verschlossenen Kästchen erspart blieb (übrigens kennst du eigentlich die Natürliche Tochter?). Also “so siehst du aus”. Ja natürlich siehst du so aus, bist so, siehst dich so (gelegentlich) und wirst so gesehen (von deinen Schätzern, ums josephinisch zu sagen). Wenn du je bei S.Fischer zu Stuhle kommen solltest, soll und muss dies Bild seinen Verlagsweihnachtskatalog zieren. Aber Aber ! – ich würde das gar nicht sehen, wenn ich nicht in der gleichen Verdammnis briete; es giebt ja “so ein” Bild auch von mir und ich schätze es ausserordentlich (ich meine die Photografie die Frau Gronau gemacht hat; sie steht auf dem Schreibtisch in dem grossen Zimmer), aber ich glaube (und seit heute weiss ichs, aus Sympathie) dass du es gar nicht schätzest. Denn grade weil ich dich kenne wie du bist, so ist es so ausserordentlich nett, dass ich dich kenne und liebhabe wie du aussiehst. Deine Totenmaske bleibe neidlos der Nachwelt und einem löblichen S. Fischerschen oder sonstigen Publikum.
Ist dies Bedankemich sehr unanständig?
Einer geschenkten Photografie
sieht man nicht in die Vi–
sage? ich weiss nicht. Ich war quoad Selbsterkenntnis (die ja immer erst aus der Erkenntnis des andern kommt) so erschrocken, dass ich das Wort entfahren liess. Wenn dir das “Entfahrene” stinkt, so nimms so grosszügig wie wir 50 Millionen uniformierte Europäer jetzt alles in 3 1/2 Jahren “Entfahrenes” zu nehmen gelernt haben.
Ich habe eine Mitteilung, die mir diebischen Spass macht. Nämlich du hast doch einen Aufsatz über Freiheit der Meere geschrieben. Ich schreibe auch einen:
Thalatta
Seeherrschaft u. Meeresfreiheit.
Das feuchte Supplement oder vielmehr Komplement zur “Ökumene”. Jensen ist doch nicht meine andre Hälfte, sondern die kommt erst jetzt. Es wird die ganze Diskussion über Ökumene wieder von vorn anfangen, aber ich glaube, das Ganze wird dir glaubwürdiger erscheinen als der erste Teil damals allein; ich selbst merke jetzt erst, was ich damals wollte. Begriffsschärfer ist es nicht geworden, aber eben – komplett.
Sphaira
Zwei Kapitel zur Geopolitik
Inhalt
1.) Ökumene
2.) Thalatta
Wie siehst du nun aus?
Dein Franz.
[28.12.17]
Lieber Eugen, “Meldung am 6.I. bei Koflak 5”. Also vom 7. ab bin ich 14 Tage auf der Flakschule Montmedy. Das hat den Vorteil dass ich deine beiden Österreicher nicht zu lesen brauche, dass ich dich sehe, dass ich Weizsäcker sehe und vielleicht sogar auch Rudi. Ich denke, allzuviel Zeit kann der Kurs nicht beanspruchen. Ich werde versuchen, Urlaub gleich daran zu schliessen. Für dich hat es den Vorteil dass du Thalatta in einem druckfehlerlosen Exemplar zu lesen kriegst. Also lauter Vorteil – wie Henophanes in dem prachtvollen mir leider so ohne Transe nicht überall verdaulichen Parmenidesbuch; wer ist Reinhard? (überleg dir das bis wir uns sehen).
Es freut sich
Dein F.
28.XII.17
[29.12.17]
An die Redaktion und Expedition der
Halbmonatsschrift “d. br. Gr.”
ich bitte höflichst, die Zustellung der Hefte bis auf weiteres zu sistieren, da ich vom 7.-20. einen “Lehrgang” in Montmedy und anschliessend hoffentlich eine Nährgang in Kassel durchmachen muss bzw. möchte.
Mit vorzüglicher Hochachtung
ergebenst
Uoffz. Rosenzweig Flakzug 165