Gritli Letters (Gritli Briefe) 1918

Contents

Januar 1918

[Anfang 1918?]

[aussen auf Umschlag geschrieben, – in Gritlis Handschrift:

Etwas Liebes zum Ansehen! – ]

[…]*

und vielen Dank dafür. – Hier sind die Reden wieder. Er wird sie doch einmal fertig machen müssen. Er wird sich nie verständlich machen können, wenn er dem Leser des K. d. W. – pfui, das heisst ja Kaufhaus des Westens! also: des + [Kreuz] d. W. nicht die Begriffe mit denen er darin arbeitet, erst einmal in statu nascendi vorgeführt hat. Und das tuen die Reden, wenn auch vorläufig verschieden gut. Am vollkommensten vielleicht die von der Schrift; auch die von der Gemeinde ist schön. Doch liegt das vielleicht nur daran, dass hier eben der Inhalt selber zur Ruhe und Vollkommenheit gekommen ist. Kurzum er muss es machen. Nachher kann er dann dem Leser ruhig zumuten, dass er ihm in seine eigengebaute Scholastik nachfolgt; das ist ja schliesslich doch unvermeidlich, – soll wohl auch gar nicht vermieden werden. Eine anständige Melodie muss zum Nachsingen sein. (Und “ein Schulmeister muss singen können”). Nur muss das Preislied vor dem Volk erst im Augenblick in Hans Sachsens Stube entstanden sein. – Und da ja das Notizbuch mit den Skizzen da ist, so ist es später nur ein Entschluss zum Anfangen und Durchhalten. “Später”! Lieber Gott, lass “später” werden! (Trotzdem wird mir Kühlmann immer widerlicher. Obwohl er der Mann ist, den wir brauchen, damit es “später” wird. Er ist ein Frack, der einen Menschen angezogen hat. Brr!

Dein Franz.

[Anfang Januar 18]

L.E., für den Fall, dass ich dich telefonisch nicht erreiche: Ich komme Sonnabend nachmittag zu dir u. bleibe bis Sonntag. – Ev. fahren wir Sonntag Mittag nach Montmedy und sind dreieckig mit Weizsäcker zusammen (oder er kommt Sonnatag Mittag nach Dun herüber; aber wahrscheinlich kann er nicht von Montmedy weg). Nein – er ist mehr als Kartellträger. Das war gestern ein Abend! Hast du nicht gesehen, dass er ein neues Gesicht bekommen hat? eine augenblickweise chaotische Leerheit.

Vox Dei und Thalatta gingen gestern an dich. Vor allem bin ich neugierig was du zu Thalatta, oder vielmehr zu dem Buch Globus überhaupt sagst; eine kleine Ouvertüre zu den beiden Teilen wird dir aus Kassel zugehn.

Verbiete deiner Frau kraft ehemännlicher Autorität dass sie angesichts des immerhin sehr wahrscheinlichen Falls meines Urlaubs in der betr. Zeit bei Pichts annimmt.

[Anfang Januar 18]

Lieber Eugen, telefonisch wirds doch nichts. Ich fahre Sonnabend Mittag um 120 ab Lamarteau zu dir; die Reise dauert aber blödsinnig lange; ich habe es noch nicht genau heraus, aber ich glaube bis Abend. Deshalb wenn du dich frei machen kannst, so tus Sonnabend, so dass wir uns hier oder in Lamarteau oder in Montmedy treffen und zusammen fahren; oder bei schönem Wetter vielleicht laufen? Ich glaube Dun ist zu Fuss beinahe näher als mit der Bahn.

Es ist schon der reine Urlaub für mich.

[Eugen und Franz gemeinsam an Gritli]

[Eugen:]                                    13.I.18.

Liebes Gritli!

Franz ist also da. Er behagt sich in dem schönen Blickhaus, meint auch, es wär wohl meine schönste Behausung bisher überhaupt. Freitag fuhr ich nach Montmedy, übernachtete, ging dann bei Weizsäcker vor, nahm ein herrliches Bad, erst warm, dann Schw[?]immer, fuhr weiter, ging einen eklig vereisten Berg hoch. Da kam er oben her, wir ruschten hinunter, fuhren wieder nach M. assen mit Weizs. Dabei deckten W. und ich Franz mit der Resignation überdrüssiger Verdunkämpfer zu. Er glaubt nämlich, die Deutschen würden im März Paris erobern. Im Postauto fuhren wir nach Dun. Um 1/2 8 waren wir bei mir – durch Schnee und Wind. Obwohl wir sehr müde waren, ging es doch bis 2 Uhr. Wir tranken den edelsten Rotwein seit langem, aus Vaters Weihnachtssendung von Anfang Dezember wartete eine wunderbare Flasche mit rot u. silbernem Siegel. Franz las seinen Brief an Rudi über die Vier. D.h. er nennt es nicht so; versucht mit einem schrecklich unverständlichen Dreieck als noch im letzten Atemzug freimaurerisch – dialektisch – hegelscher Philosoph auszukommen. Wir waren uns ganz fremd in dem was er da geschrieben. Das war gut so. Heut Thalatta verhandelt, unsre Freude an Brest Litowsk wiedergefunden, – ich glaube die Schweizer Zeitungen sind belanglos – Volksstaat und Reich Gottes gelesen. Natürlich ausserdem alles und noch etwas mehr besprochen. Dein Brief mit der Einlage von Frau Adele kam. Von den Masern bei Thea hast du garnichts geäussert. Ist das kein Hindernis?

Heut ist Sonntag.

Dein Eugen [Franz:], der

sich wohl irrt mit der “Vier”. Mein Brief an Rudi bewegt sich in Vorhöfen, in denen der glückliche Eugen nichts mehr (mehr?) zu suchen hat. [Eugen:] Und Heim? Franz meint doch Heim für sich erschrieben zu haben. Also scheint das Heim die Mitte zwischen Hof und Haus? Und gehört beiden an? [Franz:] Gewiss, Eugen hat sich in unsrer Heimat schon ein Haus gebaut und vergnügt sich mit der Inneneinrichtung; und ich kann mir noch keins bauen und muss mir die Zeit bis ich es kann (=muss) so gut wie es geht im Hof vertreiben und mir den zukünftigen Bauplatz angucken – das ist alles, – nicht viel. Er hat eben sein Gritli und ich meins noch nicht. Quel malheur cette guerre.

[Eugen:] Armes Gritli, Du bist wirklich nicht schuld daran! Dies bezeugt Dir

Eugen.

[Postkarte: Photo von Offiziersgruppe vor Weihnachtsbaum mit “Prosit 1918” = Schild.]

[Unter dem Photo:]

Liebes Gritli,

Eugen.

[Rückseite:]

Liebes Gritli, das Bild ist – hoffentlich – ein …[?] und der Krieg geht zu Ende, ehe eine Neuauflage möglich wird. Ich lebe einen Tag an Eugens Hof (und sehe mit wie wenig Weisheit die Welt regiert wird – es bleibt jedenfalls genug davon für mich übrig). Mit dem Urlaub weiss ich noch immer nichts Genaues. Aber für den Fall dass: Mutter hat sich an Dich verschrieben; nun schreibt sie, sie hätte dich gebeten Anfang Februar zu kommen. Und daran halte ich mich, nicht an den Druckfehler mit dem 7ten. Den einen oder die zwei Tage Berlin erledige ich vorher, allenfalls ruhig ohne die Eltern, mit denen ich ja doch da nicht viel zusammen wäre. Aber vor allem, erst muss mal Mazedonien gesprochen haben. Es ist eine scheussliche Unsicherheit und alles bloss [weil] ich nicht Skat spiele!

Dein Franz.

[Eugen:]

Natürlich: er stellt den Weihnachtsbaum auf den Kopf.

[Mitte Januar 18]

L.E., zu hause – oh pfui: bei der Formation fand ich deinen Geburtstagsbrief nach Mazedonien. Ich habe so eine Ahnung als ob ich dich hier nicht mehr sehen würde, entweder weil ich (sehr wahrscheinlich) keinen Urlaub kriege und also schleunigst fahren muss, um noch einen Schnitt Kassel zu machen oder ich kriege Urlaub und muss wegen der Sperre froh sein wenn ich durchkomme. Von Rudi noch nichts. Am Freitag sind wir qua Kurs vielleicht in Montmedy beim dortigen Flakgeschüz; vor Donnerstag weiss ich nichts Sicheres; ich werde dich ev. benachrichtigen. Reisetag ist wahrscheinlich Sonnabend. – Wilhelm Ohrs[?] Torheit[?] ist eine schlechte Reklame für die Fortsch. V.partei. Er hat auch den “Zug um den Mund”. – Über Marcks war ich entsetzt, und dabei hatte ich ihn neulich noch, Weizs. gegenüber, in Schutz genommen. – Ich glaube, ich habe “Sinn für Quantitäten”; auf Rich. Ehrenberg als Hansdeterminante habe ich dich nur deswegen aufmerksam gemacht, weil du ihm als dem “Alten” ja sowieso begegnetest. Übrigens halte ich das Kennenlernen eines Menschen aus seinen menschlichen Pertinenzen für zuverlässiger als das aus Indiskretionen. Indiskretionen strafen sich selbst, indem sie das Bild grade verzerren. Denn was einer zu einem andern spricht, kann ich nur falsch verstehen; dagegen kann ich sein Andern zuhören ihm nachmachen und ihm dadurch mich nahe leben.

Ich hatte noch einiges auf dem Herzen. Aber es wird schon spät und der Katzenjammer des wahrscheinlichen urlaubslosen WiedernachMazedonienmüssens spuckt vor. Dann waren die 40 Stunden in deinem Dunstkreis der Rausch.

Dein F.

[18.I.18]

Liebes Gritli, Urlaub vom 19. ab; am 11. oder 12. muss ich wieder fort.

Wenns möglich ist, so bring doch meine Briefe von 1916 mit; dann ordnen wir Brief und Gegenbrief zusammen; ich bin selbst sehr neugierig.

Ich freue mich wie – nun eben wie ein Urlauber. Schneekönige freuen sich sicher lange nicht so.

Dein F.

 

Februar & März 1918

II.[2.]III.[18]

Liebes Gritli, das Barometer steht noch unter Simplicius. Ich sitze zwischen seinen lebenden Kameraden, fahre immer weiter weg von dir und rieche ohne Aufhören an der blauen Riesenblume. Liebes Tröpfchen, wenn – und wenn – und wenn –  Ich bin viel mehr als ich gedacht hätte voll von Unerzähltem und Ungesagtem, und vielleicht jetzt nie mehr Gesagtem. Als ich gestern Mittag in Dresden in der Droschke aus meiner allgemeinen Verduseltheit aufzuwachen versuchte und von Trudchens Schokolade essen wollte, lag ein Blatt von ihr darin, das wie ein Trompetenstoss in meinen Schlaf hineinfuhr, denn es stand das Wort darin, das einzige vielleicht, das mir in diesen Tagen – wie lange noch? – ganz unanhörbar ist: Unsterblichkeit. Denn ich bebe an allen Gliedern vor lauter Sterblichkeit. Hilf du mir, wenn du es kannst. – Ich küsse dich auf deinen blassen brennenden Mund – nein aber auf deine Finger und vornehmlich auf den einen, und spüre deine Hand auf meiner Stirn, auf der “steilen umdüsterten”. – Ich schreibe ihm noch selbst. Dein

Franz.

3.III.[18]

Liebes Gritli, gesegnet die diversen Erfinder des Worts der Schrift des Bleistifts und der Feldpost – als ich gestern geschrieben hatte fing ich an mich wieder zurechtzufinden – ist nicht die Welt noch übrig, wie der Mensch unsres grossen Hasses und unsrer noch grössern Liebe sagt. Die Welt zwar noch nicht gleich die simpliciusische, aber immerhin doch schon die des Cohenschen Closettpapiers. Es war sogar ein ganz wunderbares Kapitel und mir sehr gesund. Gleich auf dem ersten Blatt stand: die Menschen sehen ins Auge, Gott ins Herz. Es war so nebenher gesagt, aber in diesem Umweg liegt alles. Ich kann ihn noch nicht abschneiden und du auch nicht. Wir sehen uns durchs Auge ins Herz. Liebes Gritli sieh!

Ich habe dich lieb.

4.III.[18]

Ich bin noch immer nicht wieder zur allgemeinen Menschenliebe fähig und sehe die Soldaten an als ob es Haustiere wären, noch nichtmal Tiere im Zoo (was sie doch sind). Ich habe den ganzen Tag in mich Eugen und dich hineingestarrt, und Eugens Wort von den Klangfiguren (aus dem grossen Gedicht) hat mich nicht losgelassen – ohne dass ich es verstand. Wir sind ebenkeine Klangfiguren, keine reinen Klänge. Was sind wir denn? Weiss ich’s und will es mir bloss nicht sagen?? – Animula, ich ärgere mich, dass ich noch kein Wort von dir habe und dabei ist es ja natürlich ganz unmöglich und ich weiss ja, dass du mir schreibst wie ich dir.

Ich denke an dich.

5.III.[18]

Armes Gritli, ich glaube ich schreibe dir immer wenn mir besonders jämmerlich zu mute ist. Nimms nicht zu schwer – die Kruste wird schon wieder wachsen; diese zwei Monate Kriegslosigkeit waren zu viel. Und doch nicht zu viel. Und nun kommst du gar selbst, mit Buch, Handschuhen und beiden Briefen. Zwei so “erledigten”Briefen! Alles – sogar dem kleinen  Georg sein “Gutes”. Auch die Handschuhe sind ja nun erledigt; man  wünscht sich ordentlich einen Winterfeldzug, um sie mit Genuss zu  verbrauchen. Nur der Santo hängt noch unentladen am Himmel; hoffentlich reicht mein Italienisch zum glatten Lesen, sonst  lasse ich ihn mir doch noch deutsch kommen; aber erst will ichs versuchen. – Ist es nicht schön, dass soviel “erledigt” ist? Du  meintest, ich sollte die beiden Briefe lieber nicht lesen – nein  es war grade gut so, ich musste aus dem Februar wieder in den Dezember zurückkucken und lernen dass ja alles gleich geblieben  ist, im Februar nichts war, was nicht auch schon im Dezember war  und schon im Juni, nein und schon viel länger, schon längst ehe wir nach Monaten zählten. Wir sind doch Klangfiguren. Haben wir  uns denn im Juni 17 “kennen gelernt”? Doch wirklich nicht; sonst  wären wir nicht gleich “so befreundet” gewesen. Februar ist nur ein Glied in der Kette.   Liebes liebes Gritli —

o kleiner Georg!

Aber von nun ab schreibe ich dir wirklich wieder mit Durchschlag!

6.III.[18]

Liebes Gritli,

doch lieber noch nicht mit Durchschlag, aber beinahe.

Denk, als ich deine “gestrigen Briefe” bekam, dachte ich (natürlich): ach wenn ich doch auch einmal von dir träumte. Aber so etwas darf man nicht wünschen; es wurde mir erfüllt und war – ganz scheusslich. Nämlich ich war plötzlich aus Mazedonien zurück, aber nur auf ganz kurz, und wir waren auf meinem Zimmer und du hattest gar keine Haare auf dem Kopf, nur so unangenehme Stöppelchen. Ich war ganz traurig und sagte zu dir: “ach wenn es doch nur ein Traum wäre” und darüber bemerkte ich dass es einer war und wachte auf, halb ärgerlich dass ich nun doch wirklich in Mazedonien sass und halb froh dass du deine Haare noch hast. Aber schön wars nicht und nach diesem einen Mal zu urteilen hast du also kein Talent dich träumen zu lassen.

Da du mir nun “heute nicht geschrieben hast”, sehe ich nochmal in die gestrigen, ob nicht noch was zu beantworten drin steht. In die Kirche wird man freilich hineingeboren, aber ins Christentum nicht – das ist auch ein Fall von + [Kreuz] und vielleicht der eigentliche Antrieb der Bewegugng in der Kirchengeschichte.

Mit den Leuten umgehn können auch Aristokraten nicht, höchstens besser mit ihnen fertig werden. Umgehen mit den Leuten kann überhaupt niemand und es wäre auch schlimm, wenn es eine so billige Art gäbe mit Menschen zu leben: man “geht mit ihnen um”. Nein es bleibt einem schon nichts andres übrig als entweder wirklich mit Menschen zu leben oder mit ihnen “fertig”zu werden. Tertium non datur und was wie ein tertium aussieht ist leichtsinnige Selbsttäuschung, eine ins Praktische übersetzte liberale Theologie, also ganz gut zum Einpökeln der menschlichen Beziehungen, bis das Rechte vielleicht am Ende doch noch kommt.

Wie schwer das ist, das haben nun während dieses Kriegs in allen Ländern Zehntausende erlebt – davon müsste man eigentlich nach dem Krieg etwas merken. Aber in solchen Dingen kommt alles immer ganz anders als man sichs vorher ausdenkt. Die Laubfrösche spüren den veränderten Luftdruck, aber nicht die Schwankungen des Herzdrucks. Deshalb können diese Dinge nur Profeten profezeien, nicht kluge Leute.

Weizsäckers Brief war sehr schön. Was ihm so dringlich ist, (warum er über Natur, Eugen über Sprache philosophiert und doch dabei – dabei – über das selbe Ganze) ist genau so auch meine Frage; ich glaube freilich die Antwort zu haben. – Reizend ist wie er ihm die linierten Vogelbauer aufmutzt).

Da war doch noch allerlei zu beantworten. Aber was mach ich nun morgen? Einen alten Brief beantworten, ist ja wirklich fast mit Durchschlag schreiben. Und schreiben muss ich dir wohl, solange mir ohne das noch übel zu mute ist (denn grade “so befreundet” sind wir). Bis morgen

Dein Franz.

7.III.[18]

Liebes Gritli, wie siehst du aus?? das habe ich nun von diesem unglücklichen Traum. Ich weiss nicht mehr wie du aussiehst, der geträumte Stoppelkopf schiebt sich davor. Ich suche mir vergebens alle möglichen Augenblicke wieder auf, Kleid und alles ist da, nur das Gesicht will nicht kommen. Sogar das sonst sichere Mittel, an eine Fotografie zu denken (die auf Mutters Schreibtisch), versagt: auch da die ganze Haltung, nur nicht das Gesicht. Befreie mich von dem blonden Glätzchen – und von einem zwischendurch mich plötzlich foppenden ebenso unsinnigen Reminiscenzlein an eine Primanertanzstun-dennuttigkeit. Schick mir ein Bild, irgend eins egal welches, damit du wieder da bist. Es braucht gar nicht das richtige zu sein, das hat Eugen und ich will es nun nur von ihm haben und nur wenn er es mir von selbst, ganz aus eigenem Einfall, schickt; also das darf es gar nicht sein, sondern irgend eins. Du hast ja mein “richtiges”, die Jonassche Zeichnung; ich werde dir mal die, auch Jonas selbst unbekannte, Entstehungsgeschichte schreiben; dann hast du nicht bloss das Porträt, sondern auch eine Illustration oder weingstens eine Vignette zu etwas. Also schick, dann erzähle ich. (Das ist ja ordentliche Erpressung). Aber jedenfalls schick.

Im Anzeigenteil des deutschen zionistischen Wochenblatts “Jüdische Rundschau” stehe ich mit Gustav Meyrinks Gesammelten Werken unter “Neue Bücher” folgen-dergestalt: Franz Rosenzweig: Zeit ists… Hermann Cohen gewidmet. Interessanter Bei-trag zur Psychologie desjenigen Teils der deuschen Juden, “welcher sein Judentum irgendwie im Rahmen der deutschen Volks= und Staatsgemeinschaft auszuwirken gedenkt” und, fügen wir hinzu, den rechten Weg nicht findet. – M1 Porto 10 Pf.

Nun weiss ichs also. –

Heut abend kommt Post, aber für mich kann noch nichts dabei sein.

– ich möchte das Papier zerreissen. Gritli – wie siehst du aus?

7.III.[18]

Liebes Gritli, nun bist du doch da, die Post kam und brachte den 1.März. Was ist das für ein wunderliches Zickzack, das so ein paar 1000 km Raum in die vorgeblich so ruhig abrollende Zeit bringen. Heut ist mein 7.März und nun kommt dein 1ter und nun ist auch mein 1ter wieder da. Mir verschlug es wirklich das Wort, ich konnte dir erst am 2ten schreiben. Und nun schlägt mein Herz hin und her zwischen 1tem und 7tem, zwischen Weinen und Lachen. Ich hing ja wie im Leeren, ich fiel nicht, aber ich hing, nun sitze ich wieder, du hast mir meinen Stuhl hingeschoben; du weisst ja, ich bin ein Stuhlmensch wie du ein Erdmensch – dir ist doch nur wohl wenn du kein Stuhlbein zwischen dir und dem Boden hast. Immer hin und her – Eugen und Schiller haben recht: die Zeit ist Eine blühende Flur, Was ist heute und gestern! Ich musste nach Mazedonien müssen, um es zu lernen.

Gritli, du brauchst mir kein Bild zu schicken das wird alles wiederkommen – ich brauche dich gar nicht zu sehn, ich spüre dich – du bist da – es ist wie wenn du seitlich von mir sässest, da sah ich dich auch nicht und du warst doch da.

Gritli Gritli liebes Gritli

Du findest mich ja “auf der Strasse”!

Ich flüchte nicht mehr vor dem Wort Unsterblichkeit – ich habe die Menschen wieder lieb. Bleibe!

[8.?III.18]

Liebes Gritli, warum kommt die Post nicht wenigstens täglich? Heut ist wieder der postlose Tag und ich bin es nun schon gewöhnt, dich und seis auch eckig und glatt hier hereinkommen zu sehen. Eckig und glatt – es ist ja so gleichgültig; auch die nächste rundeste Fühlbarkeit ist noch keine Nähe. Wir sind immer nur auf dem Weg zueinander hin. Wär es anders, die Menschen könnten sich genügen und wären einander genug. Aber sie sind es sich nie.

Ich schreibe dir ja eine richtige Sonntagsvormittags 10 Uhr = Predigt! Aber ich habe eigentlich mehr das Gefühl, es ist eine Antwort auf etwas was du mir geschrieben hast und was noch nicht in meinen Händen ist. Ich sehe ja deine Briefe heranreisen, eine sonderbare Landkarte Europas mit kleinen weissen rechteckigen Fleckchen drin: eins noch auf Sichtweite von hier still liegend und auf unsern Postempfänger morgen wartend, eins vielleicht auch noch auf Sichtweite auf der kleinen Pferdebahn am andern Rand der Ebene, eins im Lastauto über den Pass rappelnd, eins in der Bahn in Serbien oder irgendwo in Ungarn, eins in Deutschland oder vielleicht grade auf deinem Schreibtisch. Aber wo mag der sein? Noch bei uns oder doch schon in Hinterzarten? Ich glaube du tust Mutter gut. Ich hatte zuletzt ein böses Gewissen gegen sie. Es ist mir zwar eine unmögliche Vorstellung, sie mit dir über 1914 sprechend. Sie weiss zu wenig davon. Ich kann jemandem doch nichts erzählen, wenn ich nicht das sichere Gefühl habe, er weiss es auch ohne mein Erzählen. Das ist ja auch der Grund, nebenbei bemerkt (und nicht nebenbei bemerkt), weshalb man sich Gott “allwissend” vorstellen muss – was sonst doch ein blosses privates Fündlein der Philosophen wäre.

Liebes Gritli, weisst du noch, dass ich Eugen gegenüber das “L.E.” trotzdem ers längst wünschte, erst abtun konnte, als du hinzugekommen warst? – Das ist auch eine Antwort auf einen deiner Unterwegsbriefe oder mindestens auf einen ungeschriebenen aus den letzten Tagen – und ausserdem auch ein Zusatz zu dem was ich dir gestern schrieb.

Der braune Klex da oben [Pfeil] stammt von einer der mitgenommenen Trixzigarren, die ich ganz sparsam aufrauche, weil an jeder das ganze grüne Zimmer hängt und zwanzig nach Tisch = Stunden. Ach was sind das alles für schwanke Brückchen. Ich hatte doch nicht recht, mit dem was ich vorhin schrieb. Nähe ist wenig und doch alles!

o du Nahe!

Dein.

9.III.[18]

Liebes Gritli,

die Zeit schlägt einen neuen Purzelbaum. Ziemlich sicher (entscheiden muss es sich in den 2, 3 nächsten Tagen) komme ich zum Kurs nach Warschau, der am 18. beginnt. Vielleicht kann ich doch über Kassel hinfahren. Ob du noch da bist? und wie es mit Tante Julie sein wird? Diese 7 Tage Zwischenraum! Über die man nicht hinüberspringen kann. – Aber Warschau das heisst 2 Tage Briefentfernung und das ist fast Sehweite. – Ich komme aus dem Rechnen gar nicht heraus.

Und nun kam die Post vom 2. u. 3. Wir haben uns zur gleichen Stunde das Gleiche geschrieben, du hasts geflüstert, ich habe geschrien – das ist der ganze Unterschied – du warst ja auch unter Menschen, ich war allein. Ich habe es die ganzen Tage seitdem immer wieder geschrieen; es ist so und es soll so sein wie du es sagst und wenn ich nicht in deiner Liebe ihn mitlieben kann, jeden Augenblick und ohne Unterschied, so bitte ich den, den man bitten kann, das er mir die Kraft gibt, auch den Schlüssel zu den neun erlaubten Türen von mir zu werfen ins Nichts wo es am tiefsten ist. Den Finger, Gritli, den Finger! Hilf mir und hab mich lieb.

Gritli ———— liebes Gritli —-

[10.?III.18]

Liebes Gritli,

heut habe ich dir Werfel vorgelesen. Es war sehr schön. Hast dus gehört?

Franz.

11.III.[18]

Liebes Gritli, ich bin stumpf heute, in der Unsicherheit ob ich hier bleibe oder nach Warschau gehe. Der Verkrustungsprozess wird durch so etwas verzögert – obwohl ich die Kruste ja in Warschau genau so nötig habe wie hier, aber der möglicherweise eine Tag Deutschland dazwischen – das ists. “Ort und Stunde” ziehen immer neue Saiten auf, um uns zu beweisen, dass sie wirklich “das Wichtigste bei jedem irdischen Ding” sind. Geografie und Chronologie lassen uns nirgends los und nie – würde ich dichten wenn ich Eugen wäre. In den letzten Tagen habe ich viel über meine eigene Chronologie in der Vergangenheit nachgedacht und fand sie viel einfacher als ich wusste; die Erdgeschichte und die planetarischen Konstellationen in klarster Übereinstimmung. Die Knoten, vor 1913, liegen 1909/10, 1906/07, 1900/01 – so alt bin ich schon, denk! Die Kindheit liegt auf einer Insel ganz für sich und ganz komplett. Sie ist vielleicht sogar die einzige ganz komplette Welt, die man besitzt, bis man einmal alt geworden ist und dann das ganze Leben hinter einem so da liegt wie jetzt bloss die Insel der Kindheit. Die man besitzt – wenn man sie besässe und nicht vielmehr nur besessen hätte. Die ganzen älteren Werfelschen Gedichte leben ja von diesem Rückblick zur Kindheit. Das Gefühl des Wir sindkann er ja nur an dieser Welt jenseits seines Lebens sich erfühlen. Er macht Anleihen bei dieser Welt, ja er bettelt sie gradezu an. Denn diesseits in seinem wirklichen Leben, wo Ort und Stunde regieren, kommt er nicht drum herum, Ich bin zu sagen und nicht Wir sind. Und in den neuesten Gedichten hat er sich denn auch wirklich entschlossen, ich zu sagen. Deshalb sind sie viel gewöhnlicher als die früheren. Es ist aber fein, dass er keine “Spezialität” daraus gemacht hat, sondern weitergeht, auf die Gefahr sein Dichtertum zu verlieren; in der langsätzigen Prosa dieser neuesten Gedichte steckt mehr als ein “Dichter”. Such dir mal im Zarathustra das Kapitel “Von den Dichtern” heraus; da ist von ihm geweissagt, am Schluss wo er die neuen Dichter weissagt: “Büsser des Geistes, die wuchsen aus ihnen”. – Ich lese im Santo –

Sei mir gut. Ich bin es dir auch.

Dein Franz.

11.III.[18]

Ach, Gritli, die Ohren haben mir am 4ten Abends wohl gar nicht geklungen, soviel ich mich erinnere. Ich sass in Prilep im Soldetenheim bei einem Kerzenstumpf und schrieb mit dem bekannten preussischen “eisernen Pflichtgefühl” den Aufsatz für Kaplun = Kogan fertig – der wohl auch danach (nach “Pflichtgefühl”) geworden sein wird. Dazu schimpfte ein rheinländischer Angestellter auf Grund von Beichterlebnissen seiner Frau und seines Töchterchens wütend auf die Pfaffen und was damit zusammenhähgt und ein schöner Norddeutscher mit handwerklichem Pietistenkopf suchte ihm vergebens Widerpart zu halten. Dann versuchte ich Cohen zu lesen, hörte aber zwischendurch einem Jägerfeldwebel zu, der vom Westen erzählte und muss mich benommen haben wie von einem andern Stern, fühlte mich überflüssig und legte mich schlafen. Zwischenhinein werde ich wohl an dich geschrieben haben. Das war mein 4ter März Abend. – Aber über deinen habe ich mich gefreut. Ich hatte schon zu resignieren versucht für dein und Trudchens Zusammenkommen. Grade das was man für selbstverständlich hält, will ja manchmal nicht. Und Trudchen hat Hemmungen, – die ich an ihr liebe, weil sie ihr Schicksal und mein Wille (lange Zeit empfand ich: meine Schuld) sind, die aber für den Dritten wohl nur hemmen. – Aber du bist ja eben kein “Dritter” hier. – Ihr Blatt hat sie dir wohl nicht gezeigt; selbst wenn sie ein Unreines dazu hatte was ich noch nicht mal weiss. Aber nachdem sie dir meine Antwort, die kaum eine war, gezeigt hat, will ichs dir abschreiben. Du wirst dann auch erst begreifen wie es mir kam, wie erschreckend und zerreissend, so dass ich gar nicht gleich anfangen konnte zu klettern und auch jetzt noch auf halber Höhe halte. – Ich bin auch froh, dass dir Eugen die Briefe schreibt die du brauchst; ich weiss dass ich dir sinnlos rücksichtlos schreibe, nur wie ich es brauche und kaum fühle ob es dir wohl oder weh tut. Es muss heraus und du musst es aushalten. Und willst es ja auch. – Hier kommt Trudchens Blatt:

Auf Wiedersehn! – ich muss es dennoch sagen

Das ganz verbrauchte Wort;

Den Kindern wards zum vaterländschen Sport

In jenen leidenschaftlich grausen Tagen,

Als eng die Grenze uns umband,

Und zur Gewohnheit wards im Land

In den bedrängten, engen Jahren.

Doch da die Märzenstürme brausend wollen

Das Band zerreissen, das gefesselt hält,

Dass wieder weiter werde unsre Welt,

Da sag ich es noch einmal mit dem vollen

Tönen der Tiefe dessen, was geschehn:

Auf Wiedersehn –

Auf dass du nicht entgleitest

Im Sturm der Zeit,

Noch festeren Grund bereitest

Deiner Unsterblichkeit,

Wie du im Hoffnungsgrün

Stehst heut, da Wolken türmen,

Sollen dir nach den Stürmen

Noch Sommerblüten blühn.

Du siehst, es handelt wieder von “Raum u. Zeit”. Alles handelt davon. Die “Grenze”! Und die “Ahnungen”, deren ich mich übrigens jetzt schäme, nachdem sie auf dem Weg hierher immer bestimmter geworden waren. Ich habe nämlich früher nie welche gehabt, und auch diesmal war es mehr Vernünftelei, mehr das alberne “Ring des Polykrates” = Gefühl (ein wirklich dummes Gedicht!): Nachurlaub, die Berliner Anfänge u.s.w. – Es ist Betrieb um mich herum. “Fliess” ist wieder im Land und stellt alles auf den Kopf. Ich will zu Abend essen; – eigentlich war es auch in der Beziehung in Kassel blödsinnig schön. – Warschau scheint nichts zu werden; sonst müsste der Befehl schon da sein. Es schadet nichts; ich bin grade im besten “Eingewöhnen” hier und lebe schon auf den nächsten Postempfang hin.

Schlaf gut, liebes Gritli.

[12.?III.18]

[Anfang fehlt]

Heut morgen verlässt mich unser Zauberflötenersatz = Beethovenandante nicht, – obwohl ich mich auf den Wortlaut genau so wenig besinnen kann wie, noch immer, auf den Wortlaut deines Gesichts. – Da fällt mir sogar grade der Wortlaut des Satzes ein! der andre natürlich nicht; damit bin ich schon ganz abgefunden. Was war das für ein wunderschöndes Geschenk des Zufalls, dass es an jenem Abend mit Carmen nichts wurde.

Elsabell hat freilich ein ganz andres Schicksal wie du, in jedem Zug anders, aber ihr seid ja eben auch bloss Geschwister. Familienähnlichkeit und doch ein ganz andres Leben.

Vom Santo habe ich erst ein paar Stellen vorweggelesen, das Gespräch mit Elia Viterbo, die Geschichte von den 3 Ringen oder vielmehr den 4 Teufeln; dann ich bin ich richtig hineingestiegen und freue mich am Italienischen, das doch eigentlich weder mit Lateinisch noch mit Französisch mehr als eine ganz äusserliche Ähnlichkeit hat. Es ist ein Gesicht ganz für sich und spricht michtunmittelbar an, ohne Umweg über das Übersetzen, wie sonst keine moderne Sprache und von den alten auch nur griechisch und hebräisch. Auf das Buch war ich seit Jahren schon neugierig, ohne die geringste Ahnung was eigentlich drin stehn möchte.

Diese Zwiebelbriefe die ich dir schreibe!, du liest sie doch hoffentlich nicht wie man die Zwiebel entblättert, sondern von inne n nach aussen. Sie entstehen so durch die seltenen Postabgänge und weil ich nicht nochmal ansehn mag was ich geschrieben habe, – ich könnte jetzt gar nicht mit Durchschlag schreiben. Ich muss immer neu zu dir flüchten können. – Immer wieder: “ich muss” “ich brauche” und gar nicht gefragt, was du brauchst – o Tröpfchen.

Warum haben wir uns nicht gleich am ersten Tag du gesagt? Wie konnten wir 14 Tage lang auf Sie = Stelzen nebeneinander her laufen?

Dein Franz.

[13./14.III.18]

Liebes Gritli, ich barme sehr nach der Post. Mit Warschau ist es nichts. Dafür kann ich Ende des Monats nach Üsküb zu den Feiertagen. Ich bin es ganz zufrieden so; ich war eigentlich bei dem Gedanken, wieder auf einen Tag, und nur einen Tag, zu hause zu sein, fast erschrocken. – Der Santo ist trotz des aufregenden Inhalts gar kein aufregendes Buch, vor lauter Anschaulichkeit. Darin ist es ähnlich wie Tolstoi. Und das ist wohl auch seine Grenze. Nämlich dies: dass die Dichter ihren Stoff nicht erfunden hätten, wenn er nicht schon da wäre. Während die ganz grossen Dichter ihren Inhalt s’il n’existait pas, inventiert hätten. Wie Dostojewski das Christentum. – Die “Grossmacht” Kirche ist ganz darin, weit mehr als etwa in Newmans Apologie.

Im Postsack lag dein Brief vom 5ten (neulich machte ich den Sack selber auf, da lagst du gleich zuoberst!) und hat mir warm gemacht; ich bin voller Antwort.

Ich bin etwas aus der Fassung über die Adresse; ich wusste es doch natürlich, aber ich hatte mich so daran gewöhnt, dich in Terrasse 1 zu sehn, – ja eigentlich Terrasse 1 zu sehn, dich “sehe” ich ja nicht; nun sehe ich also weder dich noch dein “Milieu” – ich glaube, wenn ich das merke, so giebt dies hier einen Brief von der Höhe der Kletterstange, einen der nach Durchschlag schreit. – Und übrigens, da du mich durch eine Adresse verstörst, gleich die Revanche: bis zum 23. schreib mir “m. Br. Armeerabbiner d. XI. Armee  Dr. Lazarus  Dtsche Etappeninspektion XI.  Dt.Feldpost 176. Und am 24. u. 25. ebenfalls “mit Br. Armeerabb. d. XI. Armee  Dr. Lazarus, (aber:) Kommandantur Üsküb”. Was wird Frau Picht sagen, wenn sie etwa dir diesen Brief in den Kasten stecken sollte! Ich aber sage, dass ich dich auch dort schrifthaftig bei mir haben möchte, trotz der Befreiung aus Egypten, denn du weisst ja – ich schrieb es dir im Sommer einmal: du – und alles Du zwischen Menschen, die nicht im Du geboren sind – du bist nur der Vorbote der letzten Befreiung, und die wird nach dem Profeten ein grösseres Wunder sein als die erste. Also komm du zu mir auch in den Üsküber Tagen.

Mutter ist dir um zwei Posttage voraus; sie schreibt schon vom 6. u. 7., und erst am 7. hat sie Nachricht von mir, offenbar einen Brief, den ich in der Nacht vom 3. zum 4ten – nein aber am 3. einwarf, von unterwegs.

Ich schreibe morgen früh weiter. Ich will heut abend noch etwas im Santo lesen.

Felicissima notte — Gritli!

14.III.[18]

Ich bin mit bösen Gedanken aufgewacht.

Wenn ich nun jetzt nach Warschau gekommen wäre, so hätte ich dich noch in Kassel getroffen. Es ist besser so. Lieber den Gleichtakt der Briefe aus der Ferne, der so nahen Briefe aus der Ferne, als so ein einzelner Tag.

Frühlingsanfangstag – im Feld hat man andre Jahreszeiten. Voriges Jahr fing der Frühling an  an dem Tag wo ich nach Üsküb ging, obwohl das Wetter nicht anders war wie die ganzen Tage vorher; aber ich ging, ich war mein eigner Herr, hatte ein paar Tage frei vor mir mit selbst zu findenden Menschen; der Wachtmeister bei der Protzen hielt mich für übergeschnappt, dass ich nicht auf unsrerm Fuhrwerk fahren wollte, das grade den gleichen Weg machte, sondern die paar Stunden bis zur ersten Feldbahn lieber allein mit meinem Rucksack machte. – So ein Frühlingsanfangstag kann also auch ganz ausbleiben.

Nun muss ich dir etwas schreiben, trotz der Adresse, unter der der Brief zu dir kommt. Pichts Brief. Er hat mich furchtbar erschreckt. Trotz allem was du mir gesagt hattest, so hatte ich es mir doch nicht vorgestellt. Diese temperierte Fremdheit, nach so viel Jahren! Da ist etwas unrichtig. Und zwar nicht auf Eugens Seite. Der Liebende ist immer im Recht. Ganz einfach: Picht ist ein kurzatmiger Mensch. Das Wort vom Takt, der zum Christsein gehöre, das mich so erfüllt hat, das hat er – fürchte ich – geschrieben ohne selber von seiner Furchtbarkeit ganz erfüllt zu sein. Denn sonst könnte er nicht so beruhigt die Grenze, wo die Liebe aufhört und der Takt anfängt, so gar dicht um sich und seine Allerdichtesten (“Nächsten” darf man doch hier nicht sagen – denn wer wäre mehr sein Nächster als der Mensch Eugen der so nach ihm schreit) herumziehn. Hätte seine Liebe den langen Atem, so würde sie es in dieser umzäunten Enge nicht aushalten. Sieh, es ist wieder das alte Lied: die frühe Heirat, die den Menschen da abschneidet, wo sie ihn trifft. Nun bleibt es bei dem Geheimchristentum des Geheimbüchleins, und in dem gezogenen Kreis kann er noch atmen und kann sich neue Widerstände erleben und wird so drinnen nie erstarren (ich denke an das Kapitel in K. u. K. vom Mann und Weib), wird immer ein lebendiges Feuer bleiben, und doch wird seine Wärme nie durchschlagen ins Grenzenlose, ins Freie, in das ihn der Schöpfer doch hineingeschaffen hat. Wer ihn befreien könnte, der müsste ihn so gewaltig pressen können, dass er meinte ersticken zu müssen und einen tiefen Atemzug täte. Einen einzigen, den ersten seines Lebens! aber es würde nicht der letzte bleiben. Aber wie sollte er je bis an die Erstickungsgrenze kommen! seine Frau würde ihm ja von ihrem Atem abgeben und so ihn immer vor diesem Äussersten bewahren. Nur das Schrecklichste was ihm geschehen könnte, könnte ihm helfen. Und wer darf das wünschen, ja auch nur denken. – Die Schrift ist auch nicht gut, sowenig wie Eugens oder meine. Diese Schriften sind alle zweideutig. Sie bestehen aus starken und schwachen Buchstaben. Stark ist bei ihm z.B. das M. Stärke und Schwachheit sind eben bei Männern zwei geschiedene Dinge. Bei Frauen ist das ja anders und deshalb giebt es soviel leichter gute Frauenhandschriften. Frau Pichts ist gut, deine auch. Ihr habt keine verschlafenen Buchstaben neben den lebendigen. – Ich glaube, für Picht ist die Selbsttäuschung, ein tätiges Leben zu leben, die Scheinerlösung vom Banne des blossen Intellektuellentraums, die der Krieg so billig gewährt, gradezu ein Unglück. Eine richtige Tätigkeit mit mehr Inhalt und weniger Schein, wie sie der Frieden, überhaupt jeder nichtmilitärische Betrieb, verlangt, wird einmal gut für ihn sein, – einfach weil das Takthaben doch nirgend so leicht ist als in dem so schon taktmässig ablaufenden Uhrwerk des “Militarismus”. – Aber was geht mich Picht an! Eugen geht mich an. Es täte mir leid, wenn er hier lernen sollte bescheiden in seinen Ansprüchen und Wünschen zu werden. Bescheidenheit ist immer ein Laster. Etwas andres ist es mit der Geduld, und wohl unwillkürlich hatte ich es mir nach allem was ich wusste so vorgestellt, dass Eugen wartete. Aber wie ich nun gestern abend plötzlich den Stand der Dinge zum ersten Mal unmittelbar mit Augen sah und sah wie weit es nun über dem Warten gekommen war, erschrak ich und fürchte dass er resigniert. Absit.

Greda gegenüber wird dich das Geschriebene doch nicht beengen? du wirst es am besten los, wenn du mir gleich wieder schreibst. Und sonst – ich kanns nicht ändern.

Es stand noch etwas in deinem Brief, was mir schon seit ich fortging, immer wieder auf der Zunge lag (ach Gott! die Zunge ist von Graphit) und was ich doch nicht fragen mochte. Nun fängst du – o herrliche Selbstverständlichkeit, dass es so ist – selber davon an. Ich hatte keine Vorstellung von deinem Protestantismus, am wenigsten von dem, den du gegen Eugen verfochten haben könntest. Allerdings dachte ich auch nicht, noch weniger, an einen eindeutigen Hang zum Katholischen und hatte den katholischen Kirchgang vom letzten Sonntag, den ich ja aus deinem Brief merkte, bloss für zufällig, nicht für selbstverständlich gehalten. Die “sichtbare”? Was ist denn sichtbar? die Stickereien, die Bilder. Aber das eigentlich Sichtbare, die Menschen, unter den Sticke-reien, vor den Bildern, die sind in Rom ebenso sichtbar = unsichtbar wie in Genf u. Wittenberg. Und die wahre Sichtbare wäre doch die, wo die Glieder des Leibes selber, also eben die Menschen, sichtbar wären und nicht die Gewänder, bei denen doch immer die Gefahr ist, dass es umgekehrt geht wie in dem Andersschen Märchen von des Königs neuen Kleidern. Ich trage die Sache mit mir herum, weniger für dich als für Eugen. Denn während es für Rudi gar nicht gefährlich wäre, wenn er katholisch würde, wäre es für Eugen ein Unglück. Eugens Trieb zum jeweiligen Gegenteil, zur “andern Seite der Wippe” würde dadurch der Eckstein seines Lebens werden und während er bisher doch nur die Unruhe in seinem Uhrwerk war würde es dann eine schwere unverrückbare Last sein. Denn er ist eben doch Protestant, Ketzer oder wie du willst, und der Katholizismus, der Grossinquisitor ist ihm immer nur sein “Andres”, sein Gegenüber. Es wäre schlimm, wenn er sich auf sein Andres festlegen wollte. Und eben du kannst ihm helfen, weil du das hast was er nicht hat: protestantischkirchliches Erbe: Du musst die Erbschaft nur wirklich antreten. Der Sonntag Vormittag tut es nicht, die katholischen Glocken brummen tiefer und die Glöcklein zittern heller, da kommt die Lutherkirche nicht gegen an. Das protestantische Erbe ist aufgespeichert zwischen Buchdeckeln. Lies die grossen Ketzer. Seit der Kirchentrennung hat die Una sancta keine Ketzer mehr. Vor Luther war sie ja “katholisch” und “protestantisch” in einem. Aber seitdem sind die Ketzer der Eigenbesitz der neuen Kirche geworden. Lies Eugens Abscheu Kierkegard. Oder wer dir sonst zwischen die Finger kommt. Lies gar nicht, sondern denk bei denen, wo man sonst kaum daran denkt, dass sie Christen sind, denk bei Schiller Goethe und Consorten dass sie in der protestantischen Kirche und nur in ihr gross werden konnten. Denk dass der Heide an der katholischen Kirche zum Voltaire wird, in der protestantischen zum Goethe. Zur Protestantin kannst du dich auf Grund deines Erbes bilden; Kirche und Christentum ist eben immer wieder zweierlei; als Christin kannst du jenseits von beiden Kirchen wohnen, musst es sogar. Aber um Eugens willen wachs ein in dein Eignes!

– Liebes Gritli – nein ich habe nicht mehr geschrieben als ich durfte.

Und du sagst noch etwas, aber ich weiss nicht ob ich recht darauf antworten kann. Die “Einheit im Raum”, die der Ewigkeit für die Zeit entspricht, ist doch – das Himmelreich. Aber während von der Zeit zur Ewigkeit jeder Augenblick und vor allem jedes letzte Augenschliessen die Brücke schlägt, gehen vom Raum zum Reich Gottes keine festen Brücken, sondern nur der harte langsame bodengefesselte Weg über die Eine Erde. Die Seele hätte keine Weltgeschichte nötig. Aber weil wir Leib und Seele sind und also dem Gesetz des Raumes untertan, deshalb geht der lange Weg in der Zeit über die Erde. Die Ewigkeit umrauscht uns in jedem Augenblick, es brauchen uns bloss die Ohren aufgetan zu werden, im Leben und im Tode; sie war, ehe die Welt geschaffen wurde. Aber das Reich Gottes wird. Gott lässt sich leicht lieben, der Nächste sehr schwer (weil sich Gott schenkt, aber der Nächste nicht).

Und doch  — hab du mich lieb!

Franz.

15.III.[18]

Liebes – oder vielmehr Braves Gritli,  du musst mir gelegentlich, wenn du sie mal findest, Stellen aus Eugenbriefen über den Santo abschreiben. Es schwant mir als ob er mir auch einmal davon erzählt hat, aber ich weiss nichts mehr davon. – Und trotzdem: Dass der Heilige hier nicht zum Ketzer wird, sondern eben doch wirklich zum Heiligen, das ist gewiss die Stärke der kath. Kirche, aber auch ihre Schwäche. Sie schlägt auch um den Ketzer ihren grossen blauen Mantel und ist stark durch seine Demut; aber sie raubt dem Christentum die lebendige Kraft, die von dem unheilig freien Ketzer ausgeht. Das grosse Wort, das der Santo selbst in dem Vortrag vor den Intellektuellen sagt (der Protestantismus baue auf dem toten, die kathol. Kirche auf dem lebenden Christus) mag – vielleicht – als Kritik gemeint sein, ist aber keine; denk an Rudis Pfingstmontagspredigt über “euer Herz erschrecke nicht; meinen Frieden lasse ich euch”, um zu sehen, was dies Bauen auf dem Gestorbenen bedeutet. –

Nachher kommst du wieder. Ich freue mich auf dich.

– Eben wirst du von 2 Gäulen den Berg hinauf gezogen.

Und bist nun da, mit zwei Briefen, vom 7. u. 9. Warum schreiben wir uns? doch mehr um des Schreibens willen als wegen des Augenblicks des Empfangens. Denn wir antworten uns ja schon im Schreiben, längst ehe uns das Geschriebene in die Hand kommt. Und doch sehne ich mich nach deinen Worten, und wenn es nur um die Bestätigung wäre.

Ich “weiss” nicht mehr wie du, aber das weiss ich auch. Ich habe dir ja inzwischen das Gleiche geschrieben. Ich küsse die Hand, die dich hält, in die du deine gelegt hast.

Liebe Liebe, ich bin ja nicht über die Sterblichkeit erschrocken; sondern bis zum Rande voll vom Gefühle meiner Sterblichkeit stiess der Ton “Unsterblichkeit” auf Trudchens Blatt in mich hinein und entsetzte mich. Nun nachdem du das Blatt selbst gesehn hast, musst du das verstehn. Ich mag nicht mehr sagen. Und du wirst es auch so schon verstehn. Glauben Vertrauen Liebe kannte ich schon lange; aber was es heisst: ihm danken – das weiss ich erst seitdem. ——————————————————————————————-

Stille! auch vor dir.

Gute Nacht.

15.3.[18]

Liebes Gritli,

Ich danke dir für das Buch. Ich bin nun fertig damit und kann noch nichts “darüber” sagen. Es ist ja gross wie die Wirklichkeit selber; es spricht von den Geheimnissen der Seele ebenso einfach, ja noch einfacher, wie von dem Sichtbaren der Strasse. Hier ist das, was ihre Gelehrten nicht haben, eben die Einfachheit. Und was sie auch nicht haben können, sowie sie eben bei Einzelfragen bleiben. Der Katholizismus kann nur “katholisch”, nur als Ganzes gesehn werden; jedes Herausgreifen eines Einzelnen führt zur Karrikatur. Und dies Ganze ist hier da und daher die Wahrheit bis ins Innerste.

Nochmal Dank.

Dein Franz.

16.III.[18]

Liebe, “schade” sage ich auch, aber eigentlich mehr dass du es alleine hast lesen müssen; das geht eben wohl doch nur mündlich. Alleine hast du dich wie du selber ja fühltest, verstiegen; ich will sehen, dass ich dich von dieser Martinswand wieder heruntertrage. Am Fremden das Eigene erfahren, das geht ja immer so. Eugen zitiert (ich weiss nicht woher): nur aus dem Fernsten kommt die Erneuerung. Ich habe ja auch ursprünglich am Christentum das Judentum begriffen; das Selbstverständliche hört eben durch das Andre auf “selbst” = verständlich zu sein und wird so verständlich. Aber aber – ich weiss von mir selbst her, wie man dabei doch in Gefahr ist, das was einem selbstverständlich ist, unwillkürlich auch in das Fremde hineinzusehn. So ist es mir bis zu jener Leipziger Nacht (es ist das die wissenschaftliche Seite des damals Geschehenen) mit dem Christentum gegangen: ich liess es nur als ecclesia pressa gelten und schon die militans, erst recht die triumphans waren mir Entartungen; das Jahr 313, wo es Staatsreligion wird, ein Abfall. So gab ich der wahren Kirche das Gesicht der Synagoge. Nun hör: Monotheismus ist natürlich ein schreckliches Wort, und Cohen grenzt allerdings damit das Judentum gegen das Christentum ab, wie es jeder Jude tut, der das Bekenntnis sagt. Die “13” Eigenschaften sind ja eben keine 13, sondern diese offenbar sonstwoher heilige Zahl wird gewaltsam in die Stelle hineingedeutet, indem z.B. der doppelte Anruf des Gottesnamens zu Anfang als zwei “Eigenschaften” gezählt wird – Gottes Liebe ehe und nachdem der Mensch gesündigt hat – u.s.w. Es sind eben doch alles nur Umschreibungen der einen dem Menschen einzig erreichbaren Eigenschaft Gottes, der Liebe. Alles andre, die “Eigenschaften seiner Gerechtigkeit” bleiben dem Menschen immer dunkel. “Wie Er barmherzig ist, so sei du es” sagt der Talmud, aber nicht “wie Er gerecht, so sei dus”. Du siehst aber: da ist nichts zu vergleichen. Sondern dem jüdischen “Einzig” entspricht das “Christus allein”, das “sola fide” der Reformation. Um dessentwillen ist das Christentum “Monotheismus”. Was ist denn das Wesen des Heidentums? Dass man vor einem Gott beim andern Schutz findet. Der Euripideische Hippolytos dient der Artemis und beleidigt dadurch die Aphrodite, Orest gehorcht dem Apollon und erweckt die Eumeniden. Das ist nun, wenns nichts Schlimmeres (nämlich Davonlaufen) ist, das was wir auf der Schule bei Max Pikkolomini u.s.w. als “Konflikt der Pflichten” kennen gelernt haben. Eben diesen Konflikt kennt die Offenbarung nicht, weil sie den unbedingten fraglosen einzigen Befehl in den Menschen schleudert (denk an die Worte vom Zurücksehn und vom Totenbegraben). Darin also giebt das Christentum dem Judentum nichts nach. Und deswegen verwehrt das offizielle rabbinische Judentum seit langem, den Begriff des “Götzendiensts” auf das Dogma von der Dreieinigkeit zu beziehen. Ja und? Es bleibt dennoch ein grosser, ein unüberbrückbarer Unterschied, nicht im Gefühl – das kann gleich stark sein, ob einer nun “allein” oder “einzig” sagt – aber im Ziel des Gefühls. Das jüdische Einzig zielt auf Gott selbst ,auf den Vater unmittelbar ohne etwas dazwischen, das christliche Allein bleibt auf halbem Wege stehn, bleibt eigentlich in der Welt, und es ist die ganze Verstandeskunst des Dogmas nötig, um den Zusammenhang der Welt mit Gott, des “Sohns” mit dem “Vater” zu sichern. Vom Dogma sagt Cohen mit Recht (mit geheimnisvoller Stimme und entsetzter Miene): “ich will Ihnen etwas sagen”!!! es hat noch niemand daran geglaubt!!!!!!” Aber sicher! das Dogma ist auch gar nicht dazu da, “geglaubt” zu werden; geglaubt wird Christus, das Dogma wird gewusst. Das Judentum braucht das Dogma nicht, weil es ja schon im Gefühl die Welt überspringt und sie freilich darum auch nicht besitzt. Und deshalb darf Cohen den jüdischen Monotheismus als reinen Monotheismus ansprechen.

Es ist mit der Erbsünde so etwas ähnlich. Auch ungeheuer tiefsinnig als Gedanke und doch eben bloss ein Gedanke (Dogma und Gedanke ist übrigens glaube ich Ein Wort). Wie Cohen es in Worte bringt, ist es weder spezifisch Cohensch, noch spezifisch jüdisch. Denk an das Wort vom reuigen Sünder oder an Luthers viel = missverstandenes aber so gemeintes “Esto peccator et pecca fortiter”, überhaupt an Luther. Gritli – es ist doch eben einfach wahr. Was hilft mir die schönste Erklärung. Sie wird sich doch immer mit andern Erklärungen schneiden. Wir müssen uns an das halten was uns über alle Erklärung hinaus gewiss ist. Es ist das Hinreissende des Cohenschen Kapitels, dass es das tut. Vielleicht hat es noch nie ein Denker getan. Vielleicht konnte es auch nur ein Jude. Denn es ist ja kein Zufall, dass das Judentum auch hier wieder kein Dogma ausgebildet hat. Wir haben ja faktisch die Erberlösung, die erbliche Gotteskindschaft. Und der Jude verwechselt immer sich selbst mit dem Menschen überhaupt (weil er ja die messianische Zeit immer wieder vorwegnimmt), und kommt so gar nicht auf den Gedanken, dass allen Menschen ausser ihm angeerbt ist nicht Abrahams Glauben und Bereischaft, sondern eigne Art und eigne Ehre. Und dass es also allen Menschen ausser ihm gilt, sich ihres Erbes zu entledigen um für Gott offen zu sein; ihm allein aber es eins ist: tiefer in sein Ererbtes hineinzuwachsen und sich Gott zu öffnen. Der Jude erlebt so das “ohne Erbsünde”, das – wieder – das Dogma von Christusaussagt. Und weil Cohen des Dogmas, der Erklärungen u.s.w. unbedürftig war, deshalb hat er so sehr das Wesentliche sehen können und hat davon reden können wie noch nie ein Philosoph.

56 Tage Briefsperre wäre furchtbar, auch kaum glaublich (es klingt wie 26 + 30 = März + April, so wäre das Gerücht wohl entstanden) Es würde mir gar nicht passen, dich so allein zu bombardieren; und ich muss dir doch schreiben.

Vom 25ten wusste ich nicht. Zum 10. habe ich dir wohl schwerlich etwas geschrieben – das widerspräche ja der Theorie vom Schreiben und Empfangen. Aber vielleicht am 10. Hoffentlich. Sag mir, ob ich es da gewusst habe. Mit Bewusstsein freilich sicher nicht. Am 10. früh fragte mich mein einer Feldwebelleutnant – was heut für ein historischer Tag sei. Ich wusste nur, dass Kaiser Wilhelm I heut einen Tag tot gewesen sei (er starb am 9. wo infolgedessen immer Abonnementskonzert in Kassel ist, und ebenso am 22. als am Geburtstag). Darauf triumphierte der Fwlt.:Todestag der Königin Luise, Aufruf an mein Volk. So überhörte ich also die Stimme von oben; es war auch ein gar zu unwahrscheinliches Organ. – Nun, so und so bist du nun ein Vierteljahrhunder alt und wohl jetzt die gleiche Zeit erwachsen, die du Kind warst. Werde wie Tante Julie.

Dein Franz.

18.3.[18]

Liebes Gritli, die Menschen reden immer wieder so kühl klug als ob sie sich, einer den andern, sehen könnten. Und dann erfahren sie immer wieder, dass es kein Einandersehen giebt, sondern immer gleich ein Einanderfühlen. Wir leben soviel dichter aufeinander als wir wahrhaben wollen. Jede Saite schwingt ihre Schwingungen für sich, aber schon in der Luft ist es aus allen Saiten nur Eine Schwingung geworden. Keine bleibt für sich. Es giebt keine Zuschauer, soll keine geben. Wer meint, sich das Anrecht auf einen Parkettplatz gekauft zu haben, zu dem kommt mitten im Spiel der Theaterdiener und bittet den Herrn, sich doch gefälligst auf die Bühne begeben zu wollen und mitzuspielen.

Ich komme nicht zurecht mit dem was du mir von Eugen schriebst, trotz allem und allem. Wäre nur diese unglückliche Postsperre vorüber. Du hast mir so gut zugesprochen und trotzdem – es bleibt ein Rest. Mein Herz ist bei deinen Tränen ..[unleserlich] bei deinem Lätare, – aber näher doch bei den Tränen[?]. Ps 130,6.

Sei gut.

Franz.

19.3.[18]

Liebe, mir ist schwer, sehr schwer zu mut. Ich warte auf die heutige Post mit Furcht und Zittern, als ob sie mir ein Orakel bringen sollte. Und dabei kann sie gar keins bringen, denn von dir und mir weiss ich ja, und Eugen sitzt hinter der Postsperre. Oder sollte mir schon der eine Satz genügen? müsste er nicht? Mein ganzes Gefühl ruht auf dem breiten Rücken seiner Liebe zu mir; wenn er mir den wegzieht, so fällt es ins Bodenlose; wieviel von mir mitfällt, weiss ich nicht. Empfindet er nicht das ganz Besondere zwischen mir ihm dir, empfindet er bloss das Natürliche, bloss das was “man” in so einem Fall empfindet – dann sind wir nicht über Paganinis Geige gespannt, sondern über irgend eine; und dann – dann ist uns das Gestz gegeben wie irgend einem. Es liegt alles bei Eugen, ich brauche seine Hand wie du sie brauchst (und jetzt mehr denn je), nicht zwar dass sie mich hält, aber dass er mir sie lässt.

Ich weiss nicht, zum ersten Mal seit ich dir scheibe, ob ich diesen Brief abschicken soll. Also wohl grade.

Gritli ————–

19.III.[18]

Und nun kam das Orakel und war so unzweideutig und gut, und am besten das was aussen auf dem Couvert stand obwohl es doch nur Etikett war, nicht der Wein selbst (aber dir glaube ich den Wein auch auf das Etikett hin). Es war mir so bitternotwendig zu wissen, dass ein “allerbestes” Wort von Eugen da ist – ein “gutes” hätte nicht genügt.

Ich bin nun wieder froh, ganz froh, Gritli. Auch mein eignes Wort, das du mir zurückbrachtest, vom Februar als Glied in der Kette, und wie dus mir zurückbrachtest, — aber die Hauptsache war doch das “allerbeste Wort”.

Nun kriegst du die gestrige Nacht und den heutigen Morgen und wieder die heutige Nacht – wir müssen durch alles hindurch, was menschlich ist; das Menschliche rundet sich auch im kleinsten Kreis immer wieder gleich: Inferno Purgatorio Paradiso – und kein Paradiso ohne die beiden zuvor (und du fragst, ob das “spezifisch Cohensch” ist!)

Ich freue mich, dass wir leben und sind, und fühle deine Gegenwart

gute gute Nacht –

dein Franz.

[Telegramm an Frau Rosenstock bei Picht vom 25.3.[18] aus Casselwilhelmshöhe]

Franz kommt diese Nacht

[Ende März 1918]

Liebes Gritli,

ich hatte den Brief von Eugen aufgemacht, weil ich dachte,  es läge einer für mich oder für Mutter drin – er fühlte sich von aussen so an als ob erwas Kouvertiertes drin läge.

Es ist wohl besser dass ich mit Mutter jetzt allein zusammen  bin; Edith ist ja ein Niemand oder macht sich dazu. Es ist besser für Mutter, und vielleicht auch für mich selber. Ich brauche diese Tage auch. Es ist ein Nachholen von Versäumtem. Ich  schreibe dir später, vielleicht noch von hier, wahrscheinlich  erst von dort unten. Ich glaubte schon auf der langen Reise ins Reine gekommen zu sein und doch fängt nun hier alles von vorne  an. – Mutter ist ein Wunder von Mensch, – das haben wir nicht  gewusst, so nicht gewusst. Wenn sie so bleibt, so hätte ich meinen Geburtstagswunsch neulich an dich auch anders ausdrücken  können.

Liebes Gritli, es giebt eine Freimaurerei zwischen allen,  denen das gleiche geschehen ist, das ganz äusserlich Gleiche – und grade das ganz äusserlich Gleiche (Geburt und Tod und alles was dahin gehört) ist das Wichtige und das einzig Wichtige in der  Welt. Ich will dir noch davon schreiben, aber auch nicht heute.

Denk, ich habe nicht das Gefühl, meiner Mutter nötig zu sein. Das ists was ich vorhin meinte und was ich nie vorher in dieser Lage für möglich gehalten hätte. Sie ist genau so gross  wie das was ihr geschehen ist – nicht kleiner (wie ich erwartet hätte) und nicht grösser (was ich schrecklich gefunden hätte),  sondern wirklich ganz genau so gross.

Ich sch – eben höre ich von Berlin dass Cohen sehr schwer  krank ist, wahrscheinlich im Sterben liegt.

Liebes Gritli, ich kann nicht weiter –

Dein Franz.

[Ende März? 1918]

Freitag

[TERRASSE 1]

Liebes Gritli,

es ist wahr, meine Gedanken kommen jetzt nur zeitweilig am Tage zu dir – auch im grünen Zimmer. Aber dann drängen sie sich zu dir und du nimmst sie in die Arme.

Ich schicke dir hier Cohens Brief. Es geht ihm besser; wenigstens ist wieder Hoffnung.

Edith bleibt bis zum 10ten. Willst du nachher kommen? es kann auch später sein, aber ich glaube du willst gern bald.

Du fragtest neulich wegen der Georgsreden für Rudi. Ja, und Kommentar überflüssig, dagegen das Gerüst, der Gesamtplan erwünscht, so ausführlich wie du ihn hast.

Liebes – Worte sind sehr viel; das habe ich jetzt gelernt; und doch hat man sie nicht immer.

Liebes – dein Franz.

Mutter sagt eben, es könnte sein, dass Tante Helene Ehrenberg aus Leipzig für die zweite Hälfte April herkäme. Mutter schreibt dir noch, wie es wird.

31.III.[18]

[TERRASSE 1]

Gritli – ich habe dich ja um mich, ich fühle dich ganz dicht, – nur ohne Sehnsucht. Ich weiss und spüre es vorweg: ich werde  mich in ein paar Tagen dort unten vor nachträglicher Sehnsucht nach dir verzehren, aber hier und in diesen Tagen nicht.

Wenn Cohen noch lebt, fahre ich über Berlin zurück. Sonst  hätten wir uns in Frankfurt gesehen, aber nun bist du ja in  Säckingen.

Eugen braucht mir nicht zu schreiben; ich schreibe ihm.

Wenn du hierher kommst, wirst du etwas Merkwürdiges sehn: die Briefe an Mutter aus diesen Tagen. Es sind viele wunderbare  einzelne, aber noch merkwürdiger der einstimmige Massenchor.

Wie viel haben wir vom Tod gesprochen, im Februar. Es war alles wahr, so wahr wie eben Vorwegnahmen sein können. Ich muss an das denken was du vom Protestantismus schriebst: wie hülflos  lässt er die Menschen in den grossen Angelegenheiten des Lebens. Er hat immer nur das Buch und wieder das Buch: da, nimm und lies.  Es ist wirklich viel verlangt. Ich bin froh, in einer visibilis zu leben.

Ich will dir etwas erzählen, wo “Buch” und “visbilis” vorkommen. Ich wurde der Sitte gemäss gestern, als Trauernder, “zur Thora aufgerufen”, also zur Vorlesung eines Stücks der  Perikope. Mein Stück war ganz kurz, nur 4 Verse: 2 M. 33, 20 – 23. Du kennst es wohl aus dem ABWCpapier und weisst, dass in dem Gegensatz des keinem Lebenden sichtbaren “Angesichts” und des  sichtbaren “Hintennach” (der “Herrlichkeit” Vers 18 und der “Güte” V.19) Cohen mit Maimonides die letzte Wahrheit formuliert  findet. Und doch trifft es gleichzeitig auch auf Vater, ja auf das was zwischen mir und ihm stand (Hans schreibt mir, in einem  Brief der wirklich wie von einem verklärten Geist ist, wirklich jenseits des Weinenkönnens – was du über ihn schreibst, ist ja wörtlich wahr – : “Er lebte in der Welt und fand hier seine  Ideale; wir Jüngeren mit unsern Jenseitsseelen möchten dies  nicht so achten; aber ich sehe darin doch Höchstvollkommenes und auch eine Darstellung der Liebe, in der Liebe zu den Menschen und Liebe zu sich selbst eins ist. Sollen wir denn uns nicht mehr  lieben? Nirgends steht das geschrieben x). In ihm war die Liebe gesund. Ist sie es noch in uns? Manchmal zweifle ich daran.”)

O Gritli, mir ist traurig und doch gut zu mute, – viel zum  Lachen und viel zum Weinen – das liegt nah beieinander. Sei gut und nimm ein “Gutes”

von Deinem Franz.

  1. x) ein schlechter Bibelkenner war Hans immer!

 

April 1918

19.4.[18]

Liebes Gritli, ich leide so sehr unter der weiten Entfernung von Kassel und nebenher auch von Berlin (Bradt), dass ich mir sehr ernsthaft überlege, ob ich mich nicht nach dem Westen melde. Durchgehn tut so ein Gesuch glatt. Früher war mir ja diese Front sympathisch, wegen des interessanten Hinterlands, der schönen Südlichkeit und auch grade wegen der Entferntheit – das einsiedlerhafte Dasein an der Peripherie gefiel mir -, aber jetzt ist es schrecklich, so weit weg zu sein, nicht rasch schreiben oder gar, was im Westen geht, telefonieren zu können. Im Punkt der Gefährlichkeit ist es eher eine Verbesserung, da meine Art Flaks im Westen wenig in vorderster Linie eingesetzt wird. Ich habe das Gefühl, zur Hand sein zu müssen, wo Vater nicht mehr da ist. Entgegensteht eigentlich nur mein grundsätzliches Nichtsselberverschieben, dem ich im Militärischen folge. Es wäre ein “Schritt” und ich habe seit meinem Eintritt im Frühjahr 15 keinen “Schritt” beim Militär getan.

Schrieb ich dir, dass ich eine kleine Fanfare für das Cohen = Gedächtnisheft der Monatshefte geschrieben habe? nur ein paar Takte, aber con forza. Damit doch wenigstens nicht nur das mezzoforte der Bonzen hörbar wird. Wenn der “Jude” ein Cohenheft machte, wäre es nicht nötig. Schade. Anfangs dachte ich, ich würde nichts für die Öffentlichkeit über ihn schreiben können, jetzt. Aber dann kam der Cassierersche Artikel, den ich dir schickte und da – facit indignatio versum.

19.4.[18]

Liebes Gritli, die Erfahrung selber habe ich längst gemacht gehabt, eben wirklich gehabt und mich damit abgefunden. Aber doch immer nur den Eltern gegenüber; und jetzt wo Mutter alleine war, kam mir alles so neu vor, dass ich meine alte Abgefundenheit vergass. Auch wohl vergessen musste, denn es war eben eine augenblickliche Not, wo man denkt, es müsse sofort etwas geschehn. Auf meinen Brief hat sie mir ungefähr zurückgeschrieben, es wäre ein sehr schöner Brief gewesen und ein hoher Standpunkt u. dergl. Aber ich war ja darauf gefasst, und vielleicht wenn sie ihn je wirklich brauchen sollte – und er war ja eigentlich nur für diesen äussersten Fall gemeint – wird sie sich doch daran erinnern und dann wird er ihr vielleicht helfen. – Man ist ja wohl immer machtlos, wenn man “will”. Aber hier freilich ganz besonders. Dabei, es ist ja so gar nicht das Übliche: ich will ja nicht selber gehört werden, ich will doch nur dass sie vernimmt. Aber schon das ist “gewollt”. – Du darfst auch mit Eugens Depression nicht viel “wollen”. Ansprache von aussen wäre doch nur Betäubung. Ists wirklich ein Altersruck, so musst du es eben rucken lassen, schieben kann da niemand, auch du nicht. Bloss halten kannst du ihn, halten und nochmal halten. – Ich habe ihm auf seinen Brief gleich zweimal geschrieben, aber Ansprache von aussen ist das ja nicht, und die brächte ich auch nicht fertig. Ich bin ihm nun nicht aussen genug. (Leider, müsste ich hier wohl sagen, in diesem Zusammenhang, – aber ich kann es nicht sagen, sondern nur: Gott sei Dank).

Ich sitze nicht mehr in dem Loch am Rande der grossen Ebene, sondern mehr in den Bergen drin.

Dein Franz.

21.IIII.[18]

Liebes,

ich bekam deinen Brief aus Freiburg – manchmal ist der Zeitabstand doch spürbar: den Brief aus der Bahn, auf den du antwortest hätte ich inzwischen manchmal mir selber schreiben müssen. Aber auch deine Antwort darauf. Ja und wirklich ja. So zupft das Ich das Du an der Nase und wird gezupft – “zu lernen und zu lehren”. Ist es nicht merkwürdig dass Cohens Namensvetter Jecheskel (denn sein jüdischer Name ist Jecheskel – “dass ich Jecheskel der Soundsovielte kommen musste, um Jecheskel den Ersten zu rehabilitieren” sagte er mir im Januar -, auf der Chaislongue liegend, weil es der Arzt befohlen hatte – und jubelte mir dann Hes.18,31 vor), also dass auch wieder dieser Entdecker der Einzelnen Seele es war der auch die wechselseitige Verkettung dieser Seelen (33,2-9) zuerst ausgesprochen hat? Die bewusstlose Gestalt in der diese Verkettung zuvor da war, die Gemeinschaft der gegenüber der Mensch gar nicht wusste, dass er Einzelner war, diese bewusstlose Gestalt hat er, sollte man denken, zerstört, indem er aussprach, dass “die Seele sündigt”; und grade er stellt sie nun auf dem neuen Menschenbegriff wieder neu her, in der “Sünde des Bruders” für die ich verantwortlich gemacht werde. Er löst das Volk zu Seelen auf und dann baut er es aus Seelen neu.

Wie ist aber nun das? Else, Hansens Frau, schreibt meiner Mutter (und auch mir schon mehrmals), Hans verlange so nach Briefen von mir, und ich schreibe ihm ja auch aber ganz “ohn Verlangen”. Und doch weiss ich, dass wir uns nocheinmal im Leben wieder “bevorstehn”. Wenn nun Else nicht einfach übertreibt und allgemeine Sehnsucht nach “Intellekt” mit spezieller nach mir verwechselt, so ist alles was ich ihm schreibe, fehl am Ort. Und auch er selbst kann mich nicht zwingen, wie ers doch können müsste, wenn er wirklich sehnsüchtig wäre. Denn was zwingt uns denn zueinander als die Sehnsucht, die der andre zum einen hat?

— Dein.

[22.4.18]

Der Steuermann muss das Ziel kennen, aber das Ziel nicht den Steuermann. Vom Leuchtturm aus kann man wohl Ausschau halten des Tags und bei Nacht die Signale geben – aber fahren muss das Schiff doch selber. Die Aufgabe des Leuchtturms aber ist, dass er steht und besetzt ist. Er muss stehen, einerlei ob man das Schiff von ihm aus kommen sieht oder ob das Meer “öd und leer” scheint. Dem Schiff andrerseits weist zwar der Leuchtturm das Ziel, ist aber nicht selber das Ziel; das Schiff will nicht zum Leuchtturm, sondern in den Hafen. Und Steuermann und Turmwart brauchen einander nicht zu kennen. Kennen sie sich, – wohl ihnen (“wenn in der Ferne ein Gesicht – aufsteigt”).

Liebes Gritli, die Auflösung dieses Bilderrätsels steht ja am Schluss. Es ist ja immer wieder das Gleiche. Schliesslich sind beide, Steuermann und Türmer, um des Navigare necesse est und um des Hafens willen da.

22.4.

23.4.[18]

Liebes Gritli, der Geigersche Artikel ist doch nicht schlecht. Aber – nun ja, man müsste vielleicht lauter Anekdoten erzählen, um ein echtes Bild zu geben, und das geht auch wieder nicht. Meine Erinnerung an ihn konzentriert sich sehr auf die drei letzten Male: Juni 17, Januar u. Februar 18. Kennst du dies: ich sprach, im Juni, mit ihm über die Rezension seines Ende 15 erschienenen Buchs “Der Begriff der Religion im System der Philosophie” in der Christl. Welt (Das Buch ist nicht selber eine Religionsphilosophie sondern eine, wahnsinnig schwer geschriebene, Auseinandersetzung über das Verhältnis einer zu schreibenden Religionsphilosophie zu den drei Teilen des Cohenschen Systems, also Glauben und Wissen, Glauben und Tat, Glauben und Herz. Die Religionsphilosophie selber gehört offenbar nicht mehr zum System. Aber das wollte ich gar nicht erzählen. Also: da kam er auf ein Gespräch, das er einmal mit Baudissin glaube ich, dem Berliner Alttestamentler, oder mit Herrmann, dem Marburger Dogmatiker, hatte, und wo der andre die Intimität des Verhältnisses der Seele zu Christus rühmte – die doch der Jude nicht kenne. “Da sagte ich ihm: {vom Bass zum Tenor anschwellend: Was?!!! [Dynamikzeichen darunter] {und nun im Tenor fortfahrend:} Der Ewige ist mein Hirt – – – – – -: {im prestissimo abstürzend:} mir mangelt nichts.” Man muss das so mit Vortragsbezeichnungen notdürftig geben, wie ers sprach. Es ist ja weiter gar nichts, ein Psalmzitat, noch dazu ein ganz geläufiges, aber —– nun du siehst ja.

Also – du hast wirklich dein Teil daraus genommen. Mir war es damals gar nicht klar, warum ich grade so teilte. Aber es ist schon so: ich habe ja eine sehr glückliche Kindheit gehabt, ganz ohne Qual des Alleinseins, obwohl ichs war; so ist mir das Kind selber, das dir grade vertraut ist, fremd. Ich fühlte mich in dem Buch berührt durch die phantastische zweite Welt; in so einer, aber ganz glücklich, lebte auch ich, und zwar so lange bis das Erwachsenwerden und nun zugleich sofort auch die Qual anfing; jene erste Welt verschwand da so plötzlich, dass ich heute fast nichts mehr davon weiss; ich hatte aber wohl eine richtige private Kinderreligion gehabt; sie ist ganz versunken. Grade als ich Sprache bekam, und gleichzeitig sofort erfuhr, dass man nicht sprechen kann ohne sich zu schänden, da erst spürte ich die Schmerzen der Einsamkeit, und alles Folgende ist eigentlich bis heute nur ein einziger Kampf um das Wort, das wahr ist, ohne zu entweihen. Bis heute, das weisst du selber. Jahre lang schien mir die Wissenschaft eine solche verschämte Geheimsprache werden zu können, deshalb stürzte ich mich in sie. Und erst Eugen hat mir den Weg gezeigt, den einzigen wo das Heilige nicht beschmutzt wird, die einzige Rettung der Scham, die mutige Schamlosigkeit.

Edinger, auf den auch ein Nachruf, mit Bild, in der Zeitschrift steht, ist der Bruder von Eva Sommers Mutter. Schick das Heft, im übrigen möglichst ungelesen – es lohnt nicht -, nach Kassel, wenn es nicht von selber schon dorthin wandert.

Liebe – Dein Franz.

23.4.[18]

Liebes Gritli, der Sonntagsbrief kam und der vom Montag, wo du mir wegen Mutter schreibst. Es ist eben trostlos und ich kann nur wünschen, dass ihr die letzte Prüfung erspart bleibt, da sie ihr sicher nicht gewachsen wäre. “Und keine Brücke führt von Mensch zu Mensch”, steht irgendwo, ich weiss nicht bei wem. Sie kennt nur das traurige Entweder = oder: Gefühl oder – Selbstbeherrschung (“Erziehung”, “Vernunft” und wie sies noch nennt); sie ahnt nicht, dass es im Gefühl selbst noch eine Steigerung giebt, in der es nicht erstickt, sondern befreit und beseligt wird. Wie kann man ihr das sagen, und was hülfe es, wenn mans ihr sagte. Was ich früher nie recht geglaubt habe: es ist doch ein Unglück für sie gewesen, so in ihrer ahnungslosen unentwickelten Siebzehnjährigkeit von Vater weggeheiratet zu werden, und dann auch noch von jemandem wie Vater, der sie eigentlich vor jedem wirklichen Kampf und Schmerz immer beschützt hat, weil – nun eben weil ers konnte, und weil er tat was er konnte. Nun steht ihr Leben auf der schmalen Scheide des irdischen Zufalls. – Ich dachte eigentlich immer, Menschen die den Schlüssel zu der “Kammer” nicht ausgehändigt bekommen hätten, hätten ihn wohl auch nicht nötig und seien deswegen nicht unglücklich zu nennen. Aber ich soll wohl in dieser Zeit den Begriff des “Dankens” immer gründlicher kennen lernen. Wir müssen wirklich danken. – Doch damit ist den andern nicht geholfen.

Übrigens sie schreibt, wenn sie erst mit allem Geschäftlichen im Trab sei und auch Zeit zum Ruhen habe, möchte sie, du kämest. – Ich denke wohl, dass das Anfang Mai sein könnte. Die Familienüberfälle en masse, die sich jetzt bei ihr abspielen, indem alle “sich sagen”: “man muss doch zu Dele”, fallen ihr natürlich auf die Nerven, ohne dass sie den Mut hat sie abzuweisen. Dabei ist ja jetzt Helene Ehrenberg aus Lpzg noch bei ihr, also sie noch nicht mal allein. Den Mut sich gelegentlich etwas von Familie zu emanzipieren hat sie nie gehabt. Auch das ist ein Stück ihrer persönlichen Unentwickeltheit, die ja übrigens auch auf dem Grunde ihres Unglücks mit Frau Gronau liegt (denn sie hat sich von ihr nehmen lassen ohne eigne Aktivität, und so musste sie sich auch von ihr wegwerfen lassen. Übrigens ist Dora zwar jetzt wieder angerückt, aber das wird ja nicht von Dauer sein).

Was ich dir schreibe, ist alles traurig, du musst es eben mittragen. Ich trage auch was in dir ist.

Hier ist die Stelle aus Eugens Brief vom 1.IV. (der mich erst hier unten erreichte), – da du sonst aus dieser Zeit nur das eine Wort von ihm hast: “Ich dämmre so hin, die Bratsche pausiert, indes die beiden andern Instrumente umso feuriger spielen. Wenn sie dann von beiderlei Art männlich und weiblich genug wieder gehört und eingesaugt hat, wenn sie noch einmal sich soll füllen dürfen mit all den Tönen aus der Höhe und Tiefe, wird sie plötzlich wie der zwischen Geige und Cello liegende Felsblock anfangen mitzuschwingen und mitzujauchzen, zur Verherrlichung der göttlichen Majestät. Denn gibt es ein anderes Lied, und besonders ein anderes Lied für uns, selbdritt zu singen?”

Ich habe jetzt Auszüge aus den Grabreden für Cohen; es scheint wirklich alles schwach gewesen zu sein. Kellermann sein jüdischer, Cassierer sein philosophischer Hauptschüler – alles Trauerklösse. Natorp hat wenigstens ausgesprochen, dass ihm allein Marburg sein Renomée in der Gegenwart dankt.

Ich schicke dir die Zeitschrift noch. Geiger im Leitartikel versucht wenigstens, ein Bild von ihm zu geben. Aber es ist doch, als ob ihn niemand gekannt hätte. Es hat ihm aber wohl bloss niemand – geglaubt. Vielleicht nur

Dein (wirklich grade dein) Franz.

25.4.18.

Liebes Gritli, ja wie schrecklich ist die Entfernung mit ihren lächerlichen Verzerrungen der Zeit. Ich bekam gleich damals als ich den Brief am 7ten an dich weggegeben hatte, einen Schrecken, ich hatte mich so im Gefühl gehen lassen, wie man es eben nur darf wenn man sich gegenüber sitzt und sichs gleich dazu sagen kann, dass doch alles gut ist. Und statt dessen kam erst eine Pause von 4 Tagen, bis überhaupt wieder Post abging. Und viertagelang sitzest du nun vor meinem verspätet entsetzten Gesicht, das du doch in Wirklichkeit schon längst glatt gestrichen hast. Bis du diesen Brief kriegst, weisst du es ja schon selber, ja du wusstest es schon damals, dass du bei mir bist, ganz bei mir, ob hineingenommen oder hineingekommen, was macht das – kennst du das, wie man kleinen Kindern das Gehen beibringt: “wer mich lieb hat, kommt in meine Arme”? wir müssen alle immer wieder gehen lernen, und lernen es immer wieder nur so.

Ich bekam wieder einen so hülflosen Brief von Mutter, wieder den Versuch einer Antwort auf meinen Brief aus der Bahn und wieder so ganz ahnungslos. Ich habe ihr geantwortet und diesmal vielleicht die richtigen Worte gefunden. Vielleicht.

Ob nur der Jude weiss, was Blutsverwandschaft ist? Ja, weil wirklich wissen ja wohl heisst: in Gott wissen. Nein, weil der Jude überhaupt nichts für sich hat, was nicht alle einmal haben sollen. Ich hatte das Gefühl, als müsste das so wie ich jeder erleben; es giebt doch Augenblicke wo man die “Menschheit” unmittelbar spürt, ohne Zwischenin-stanzen. Und zwischen dem Juden und andern Völkern besteht ja keine Arbeitsteilung wie zwischen den Völkern untereinander, sondern er ist bloss der Vorläufer der Menschheit. Wenn wir Israel sagen, ganz Israel, so meinen wir die Zukunft aller. Wir werden einmal alle in Gott wissen, dass wir Menschenkinder blutsverwandt sind. “Menschenkind” ist in allen Sprachen, wo man es sagt, ein Hebraismus. Das Heidentum bringt es nur bis zum genus humanum, allerhöchstens. Ein genus humanum wie es ein genus aller andern Tiere giebt; warum auch nicht? den filius hominis kennt erst die Vulgata. – Etwas andres: der Jude spricht von einem “jüdischen Herz” und meint, er habe es allein. Das hängt nicht bloss damit zusammen, dass er nun einmal die “christliche Liebe” im Laufe der Jahrhunderte immer nur unter der jeweils zeitgemässen Form des Scheiterhaufens kennen gelern hat; sondern es hat einen wirklichen Grund. Die christliche Liebe ist Überquellen des eigenen Reichtums oder auch sehnsüchtiges Überfliessen der eigenen Armut, in jedem Fall Überfliessen, Überquellen – der andre wird, durch die Liebe, zum Nächsten, er wird zum Nächsten. Sie ist nicht Mitleid, sondern Sehnsucht, Sehnsucht aus Fülle oder aus Armut, immer Sehnsucht. Das “jüdische Herz” ist gar nicht Sehnsucht, ist nur Mitleid. Mit = Leid. Es leidet selbst und weiss wie dem andern zu Mute ist, es war Knecht und Fremdling in Ägyptenland und ist es noch immer geblieben, und so “kennt es das Herz” des Knechts und des Fremden (du weisst wohl die Stellen). Der andre ist ihm Nächster, wird es nicht erst. Ich will hier, von aussen gesehen, ja keinem den Vorzug geben, nicht der schöpferischen des Christen und nicht der heimisch beim Nächsten wohnenden des Juden (von aussen nicht, von drinnen tuts ja jeder und spricht mit Cohen im Januar, als er mir eben entsetzt über Platons und Dantes Tartaros bzw. Inferno und die Grausamkeit dieser Strafphantasie sprach, plötzlich aufseufzend: “Was ist der Mensch! – wenn er kein Jid ist”) (bzw. eurerseits umgekehrt). Aber das wird ja grade “von aussen” deutlich, dass das “jüdische Herz” so fühlt wie die “christliche Liebe” fühlen würde, wenn sie am Ziele ihres Weltlaufs wäre. Sie braucht nicht zu fürchten, dann nichts mehr zu lieben zu haben; wenn sie sich alles Fremde zum Nächsten umgeschaffen hat, kann sie in ihm wohnen wie – das jüdische Herz. Die Sehnsucht ist dann Mitgefühl geworden. Auch hier wieder: Alles nur Jüdische ist nur solange nur jüdisch als es nur jüdisch ist.

“Ich will euch wiedersehn” – wir sprachen im Februar mal darüber, dass, da Brahms offenbar keinen andern Spruch gefunden hat, es wohl auch keinen anden giebt. Und dass dieser eine ja grade nicht sagt, was man möchte. Denn es sagts nicht ein Mensch zum andern, sondern Christus zu den Seinen. Die Menschen wollen aber grade einer den andern wiedersehn und haben an dem Schauen Gottes x) nicht genug – im Grunde eben doch, weil sie nicht genug daran glauben. Das Verlangen nach Wiedersehn ist eben offenbar nicht christlich, sondern ein Stück schwer auszujätendens Heidentum, das Christ und Jude ja immer noch und immer wieder in sich tragen. Ich habe dir ja inzwischen genauer geschrieben, wie ich mir das wirkliche Wiedersehn der Seelen in Gott denke. “Götzendiener waren unsre Väter” sagen sogar wir, obwohl es doch lange her ist, in unsrer Oster = Agende (der “Hagada”, dem Büchelchen mit den vielen Bildern, das ich dir zeigte). Das Heidentum, der Aberglaube mischt sich immer wieder mit dem Glauben nnd von Zeit zu Zeit wenigstens muss man mal mit der Schere hineinfahren; ganz kriegt man ihn nie heraus, und es ist auch nicht nötig, solange er den Glauben nicht überwuchert.

So ists auch mit dem Gebet für die Toten. Es kann sich eng mit Aberglauben verschwistern; es wird ganz Aberglauben, wenn es anfängt, Gott seine Gnade nachzurechnen. Aber sonst ist der Protestant gegen den Katholiken und Juden sehr arm, dass er nichts dergleichen hat; das weiss ich nun. Über die Seelenmessen weiss ich wenig Bescheid. Das Kaddisch – so heisst das jüdische Totengebet, das etwa eine ähnliche Stelle einnimmt wie die Seelenmesse in der kath. Kirche – ist eigentlich vor allem Aberglauben, nämlich vor aller Sorge um das Heil dieser Seele, geschützt: nicht der Einzelne alleine kann es sagen, sondern nur am Schluss des Gottesdienstes der Gemeinde und mit dem Amen der Gemeinde. Nur der Sohn für die Eltern kann es sagenxx), nicht der Vater für den Sohn, nicht der Mann für die Frau; nicht das Heil der Seele wird “gerettet”, sondern der in die Zukunft führende Zusammenhang der Geschlechter wird bezeugt. Und soweit der Aberglaube sich hier doch mit der Vorstellung eines zu “rettenden” “unsterblichen Teils” hineingedrängt hat, wird er gleich wieder ausgestossen; die Purgatoriumsstrafen (eine wirkliche Hölle lehnen wir ab) dauern höchsten “ein Jahr” – deswegen darf das Kaddisch nur 11 Monate lang gesagt werden; es ist verboten zu denken der Verstorbene könnte es die vollen 12 Monate “nötig haben”; später sagt man es an den Todestagen, also überhaupt nicht um der Seelenrettung willen, sondern um die himmlische Freude der Seele zu erhöhen. Endlich, und das ist das Entscheidende, der Wortlaut: es kommt überhaupt nichts vom Tod drin vor, sondern es ist ein Gebet um das Kommen des Reichs, das auch sonst vielfach im Gottesdienst verwendet wird; also [durchgestr. als wenn] so etwa wie ihr das Vater unser; inhaltlich ist es anders als das Vater unser, hingerissener, weniger weltheimisch (wenigstens wie das Vater unser im Gebrauch der Jahrhunderte geworden ist). Es ist kein Gebet für den Toten, sondern für die Welt. Es verneint den Trost, und grade deshalb ist es, “über alle Tröstung, die je gesprochen ward in der Welt” – ich sehe wieder, dass es nicht zu übersetzen ist, auch wenn man es wörtlich versucht; der Ton, die Absätze, das Verstummen lässt sich nicht so wiedergeben, dass man es beim Lesen richtig hört. Ich habe es, als ich jetzt wieder hierherkam, in der dumpfen Trauer des Wiederhierseins und Zuhausenichthelfenkönnens, und um daraus herauszukommen, übersetzt, als Übersetzung glaube ich sehr gut.

Hochheilig preisen wir den grossen Namen

Im Weltall, das du schufst nach deinem Sinn.

Führ bald herbei dein Reich und lass uns in

Ihm leben samt den Deinen. Drauf sprecht: Amen.

Gelobt, erhöht, verherrlich möge werden

Dein Name, hoch ob allen Lobpreis fort

Und Spruch und Sang und jedes Trosteswort,

Das einer je ausfinden mag auf Erden.

Der grosse Friede, deiner, fliess uns zu

Vom Himmel her; dazu sei uns beschieden

Von dort her auch des äussern Lebens Ruh.

Du schaffest ihn in deinen Höhn, den Frieden;

Den selben hohen Frieden schaffe du

Bei uns und allen deinen hier hinieden.

Amen.

Sei stille und hab mich auch lieb.

Dein Franz.

  1. x) das ja für den Christen ein Wiedersehn ist.
  2. xx) infolge eines schändlichen Missbrauchs seit dem 19.Jahrhundert auch sagen lassen

27.IV.[18]

Liebes Gritli, gestern bekam ich ausser deinem traurigen Liegebrief einen von Trudchen; da erzählt sie mir von ihrem ingeniösen Vorschlag, der meinen noch über”tüchtigt”. Du siehst aber aus dem komischen Zusammentreffen, dass wirklich etwas dran sein muss. Trudchen schreibt fast wörtlich wie ich: “Wenn man beiderseits darauf einginge, wäre es gar nicht übel: dem Ärger über die Faulheit wäre der Boden entzogen.” Es ist eben schon so: erst wenn sich ihr bourgeoises Gewissen zur Ruhe legen kann, erst dann wird sie sich gestatten, dich so gern zu haben wie sie eigentlich möchte. Es ist ja alles sehr komisch, und nur ein bischen traurig, in diesm Fall. Im ganzen gesehn wächst sich freilich dies “bischen” zu riesenhafter Grösse aus und hält einen lebendigen Menschen in Gefangenschaft. Darüber schreibe ich dir ja nun jedesmal wieder, weil es mich eben mit jedem Postempfang wieder neu überfällt. Diesmal schreibt sie von einer Statistik, die sie für den Rechtschutz machen musste “von 1/2 10-2” “So etwas Blödsinniges, rechnen in dieser primitiven geisttötenden und doch Aufmerksamkeit beanspruchenden Art, dies Stricheln u. Ausziehn aus den Büchern sollte ich immer machen müssen! Wenn man ja auch wohl dabei verkümmert, aber man wird so seelenlos, so ganz Maschine. – Aber nun ists für ein Jahr schon erledigt. -” Ich fühle mich machtlos, ich sehe jetzt ganz klar, was für ein Leben sie eigentlich bisher geführt hat. Ich habe ein Stück “Toleranz” verloren durch diese Einsicht. Wenn ich auch nicht grade wie “der U” den Staat heranzitieren möchte, und doch es regt sich etwas “grossinquisitorisch” in mir gegen die schrankenlose Freiheit, in der eine glatte Lüge den Menschen die Kraft zum Leben aus den Knochen saugen durfte. Und doch müssen wir die Freiheit wollen. Und dürfen die Versäumnisse nicht ausser uns suchen. Denn was 32 oder 50 Jahre zerstört haben, kann ein Augenblick wieder bauen, wenn ich die Kraft habe ihn zu ergreifen. Wenn!

Liebes Gritli, dieser Brief trifft dich ja am Ende schon in Kassel. Du wirst vielleicht noch andres an Mutter merken, was dich schmerzen wird. Legs zu dem Übrigen. Es hat alles den gleichen Grund: die Vertrauens= und Hoffnungslosigkeit einer befangenen Seele. Lass dich nicht davon anfechten. Wie soll sie an Flügel glauben, wo ihre eignen nie aus den Stümpfen sich herausgefaltet haben. Sie hat eben immer Stege gebaut bekommen, hat nie hülflos vor einem Wasser oder gar einem Sumpf gestanden, und drübergemusst, – wie sollten sie ihr da je wachsen!

Ich bleibe dein Franz.

28.IV.[18]

Liebes Gritli, heut ist dein Sonntagsbrief fällig; auf den freue ich mich schon immer im voraus. Auf die andern ja auch, aber da weiss ich nie was drin stehn wird, und zu Vorfreude gehört eben ein gebahnter Weg, eine bestimmte Erwartung, und die habe ich nur für den “Sonntagsbrief”. Da läutest du immer ein Glöckchen.

Ich “feiere” in diesen Tagen eine Jahreswiederkehr, meinen – wie soll ich sagen? – – Korbtag vor 4 Jahren. Ich möchte wohl wissen ob ich ihn alleine trage; manchmal wiegt er so leicht, selbst für einen Strohkorb, dass ich meine, es trüge noch jemand mit. Aber wer kann etwas wissen? damals ratschlagten die klugen Leute, ob Blut oder Wasser “dicker” wäre, aber jetzt fliesst ein dicker Strom aus beidem gemischt und zieht die Grenze.

Von Hans hatte ich einen nicht ganz ausgetragenen Brief. Er interwiewt mich! man kann es gar nicht anders nennen. Er hat wichtige Bestätigungen (natürlich! was sonst!) in den Kirchenvätern zu seiner Ansicht oder Theorie der “Unsterblichkeitsfrage” gefunden, (die mir aber selber noch unbekannt ist!!). Und dann: “Schreib mir nochmal Deine Ansicht in historicis und auch vom jüdischen Glauben aus”. Wörtlich! Und er meint, nun legte ich los. – Übrigens aber laubfrosche ich, dass er wirklich demnächst in die Politik hineinkommt, nicht bloss mit Aufsätzen. Es wäre ein sehr schöner Rückweg für ihn vom Offizier zum Professor. Er hat zum Politiker ja grade was Eugen fehlt. “Volksstaat u. R.G.”, das du – er schreibt “Gritly” – ihm gabst, nennt er “etwas sehr Schönes”, Eugen nennt er abgesehn von seiner “religiösen Vergewaltigung der politischen Ideen” einen “wirklich fabelhaften Politiker”. Ich bin so heraus aus der Politik, dass ich noch nicht mal weiss, ob es wahr ist.

O Gritl”y”! –

Dein Franz.

29.4.[18]

Liebes Gritli

ich hatte aus deinem vorigen Brief gar nicht gemerkt, dass du richtig lagst; ich dachte, nur aus “Faulheit”, – weil du doch mit Tinte schriebst. Inzwischen bist du nun wieder auf, und ich brauche nicht “Gute Besserung” zu sagen.

Es war eine richtige kleine Feldpostteufelei, diese Viertagespause grade zwischen den Briefen vom 7.u.8.

Der Unteroffiziersstand kam mir jetzt eigentlich auch unmöglich vor; schrieb ich dir das nicht selbst? Aber die nötige Energie will ich doch nicht darauf wenden; so nebenher geht es nicht; ich müsste es doch richtig wollen, und dafür ist mir mein Wille zu schade. Schliesslich wäre doch nur eine Maske mit der andern vertauscht, die “etwas gewagte” die ich jetzt trage mit einer konventionelleren – es lohnt eben doch nicht. Es wird dir also wohl oder übel auch weiter gleichgültig sein müssen. –

Die Ähnlichkeit mit Vater, von der du schreibst, weiss ich wohl, – aber die meine ich nicht, ich meine etwas was man gleich sähe und spürte. Und das ist offenbar wirklich nicht dagewesen. Wir waren gar nicht verschieden wie Vater u. Sohn, sondern wie zwei sehr verschiedene Brüder, bei denen man sich gar nicht wundert, wenn wirklich alles verschieden ist. – Im Haus war er freilich “gedrückt”‘ das sagte er im Spass selber. Nach meinem Abiturientenexamen bin ich ja mal 14 Tage oder 3 Wochen bei uns im Geschäft gewesen, vorgeblich um mal ein Geschäft zu sehen, in Wahrheit hautsächlich, um mal ihn in seiner Tätigkeit kennen zu lernen. – Seine Klugheit habe ich freilich, aber eben ich “habe” sie. Was man bloss hat, ist man nicht. Er war freilich ungeheuer konziliant dabei, ich habe das voll gesehen eigentlich nur das eine Mal, wo er mit Prager abends im Esszimmer sprach und Mutter uns alle Momente zurückrief weil es sie vor Frau Frank glaube ich genierte, du warst auch dabei. Später ist mir dann klar geworden, dass er zu mir ganz ähnlich war, freilich meist ohne Erfolg; jetzt in Kassel las ich seine “Privat”= Korrespondenz 1917, da hatte ich gradezu das Gefühl, ein Stück Menschenbehandlung zu lernen. Er sprach so rein die Sprache des draussen, des Markts, der Strasse, des Rathauses – denk an Eugens Sprachkreise -; in den Beileidsbriefen an Mutter war sein Bild deutlich, wohl mehr als in Mutters eigner Vorstellung. – Ich komme nicht zu Rande damit. Für mich ist eben etwas Werdendes in der Entwicklung abgeschnitten. Er hätte grade um meinetwillen länger leben müssen – oder auch kürzer; in beiden Fällen wäre es etwas Fertiges gewesen; so aber kucke ich ihm nach.

Greda – ich habe doch allmählich eine Vorstellung von ihr, durch dich, durch die Kinder, vor allem durch den Brief und die Handschrift. Aber immer störst du mir wieder alles, wenn du den H. U. dazu nennst. Sie ist doch ein grade gewachsener Mensch, was soll ihr dieser Heuschreck.

Über die vielen Anspielungen in “Globus” schimpft auch Eugen. Ich weiss weniger als je, ob mit Recht. Ich meine, auch wenn ich viel breiter geschrieben hätte, dürften die Ereignisse, das 3-4 Unr nachmittags, doch nur in Anspielungen erscheinen, aus Gründen der Perspektive, nämlich damit sie Hintergrund bleiben und nur das geographische im Vordergrund zu sehen ist. Doch wie gesagt ich weiss nicht, ob das nicht bloss eine Beschönigung eines Stylfehlers ist. Wenn du übrigens [dich] wirklich dadurch veranlasst sähest, “Rankes Weltgeschichte von vorn bis hinten durchzulesen”, so hätte ich dir etwas sehr Gutes getan und wäre zufrieden mit dem Erfolg.

Dein Franz.

April 2 1918

[Auf Rückseite eines Durchschlags von einem Brief an Hans Ehrenberg vom 4.V.18., s. Briefe Band I, Nr.524, S.551-553, dort gekürzt wiedergegeben. Auslassungen am Briefende:]

[:::]

Nicht bloss Kühlmann, auch Tirpitz bzw. Capelle, und Helfferich sind Minister geworden und suchen sich ihren Anschluss bei einer der souveränen Mächte – da sie eben selber, als Ressortspitze, nicht das Zeug zur Souveränität haben.

Das ist leider nocht nicht sehr klar. Ich hätte lieber bis Morgen warten sollen. – Ich schicke den Durchschlag gleich selber an Rosenstock.

Dein Franz.]

[4.V.18]

Lieber “Dr. Rosenstock”,

so machen wir Musik zu Kühlmanns Ende wie damals zu seinem Anfang. Die natürlichen Jahreszeiten haben ihren Lauf umgedreht, und sein Oktober hält nicht vor bis in den Juli.

Hast du eigentlich Hansens drei Voss = Artikel gekriegt? Sie lohnten sich alle, besonders der erste (gegen die Regierung) und der dritte (gegen die Mehrheit), weniger der gegen die Minderheit.

Im übrigen – on forms of governement let fools contest –

Dein Franz.

5.4.[18]

Liebes Gritli,

nun ist Cohen tot.

Dein Franz.

5.4.[18]

Liebes Gritli,

der äussere und der innere Rahmen unsres Februar ist zerstört – das Haus in Kassel und Hermann Cohen. Es bleibt nur noch die unaufgespannte bemalte Leinwand – wir selbst. Hör, das Merkwürdigste, was mir geschehn ist: als ich am 20.März die Nachricht bekam, überfiel mich eine Schwäche wie noch nie im Leben und wie ich sie auch nie wenn ich mir dies Ereignis je vorstellte, für möglich gehalten hätte; ich lag wie ein abgerissener Zweig am Boden; ich hatte nie gewusst, wie sehr ich bloss Zweig gewesen war. Dann aber spürte ich plötzlich, dass ich nun selbst im Boden steckte, Wurzel geschlagen hatte, Stamm geworden war. Bisher hatte ich doch nur durch meinen Vater mit der alten Erde meines Volks zusammengehangen. Jetzt stand ich plötzlich selber darin, war selber das lebende Glied der langen Kette der Geschlechter, und Abraham Isaak und Jakob unmittelbar meine Väter.

Das ist das unverrückbare Erlebnis dieser Tage. Jener letzte Rest von Ausflucht, den das Dasein meines Vaters immer noch in meinem Leben liess, ist verschlossen. Ich wachse aus meinem Vornamen in meinen Zunamen hinüber.

Wirst du mir da folgen können? Wird deine Liebe gross genug, entsagend genug sein? Rein genug, Liebe genug ist sie, das weiss ich. Aber wird sie grösser sein können als deine, als meine Sehnsucht? Sag “ja”, – laut oder leise wie du es kannst, aber sag “ja”.

Dein Franz.

6.IV.[18]

Liebes Gritli, der serbische Frühling ist dies Jahr dem deutschen höchstens um 10 Tage voraus; bis der Brief da ist, werden bei dir die Bäume auch blühen. Bei dir – wo mag das sein? ich adressiere auf gut Glück nach Hinterzarten, weil du für Säckingen ja nur “1.-7.” angabst. In Kassel wird nach Ediths Abgang – sie ist rührend und respektabel, aber ich kann nichts mit ihr anfangen und sie nichts mit mir – Tante Lene aus Leipzig “antreten”. Dies Antreten ist auch eine böse Sache für Mutter, dies dass die Besuche sich ablösen wie Wachtposten. Sie muss jemanden haben, der dauernd bei ihr wohnt oder so gut wie dauernd, und nicht als “Besuch”. Hanna v.Kästner wird es sein. Ich habe noch nie so sehr vermisst, nicht verheiratet zu sein – jetzt eine Schwiegertochter mit 2 Enkelkindern im Haus, und alles wäre gut. So hat sie bei allen das Gefühl, sie kämen zu ihr aus Pflicht und Mitleid, und da setzt sie sich natürlich zur Wehr. Überhaupt unterschätzt sie sich nun selber, redet sich ein, die Leute wären vornehmlich Vaters wegen zu uns ins Haus gekommen – was doch nur für eine Sorte Leute zutrifft -, und so sieht sie nichts in der Zukunft. Und da sie ganz abhängig ist von dem, was sie sieht, und gar nichts andres hat, so kannst du dir denken wie es in ihr aussieht. Selbst ihre schöne Stärke in den ersten Tagen, die auch auf mich noch solchen Eindruck machte, ruhte noch auf dem Grunde eines Sichtbaren, der in der Volkstrauer sichtbaren öffentlichen Persönlichkeit Vaters. Die gab ihr die Kraft selber so wundervoll zu repräsentieren, nein: dazustehn, wie sie es wirklich in jenen ersten Tagen fertig gebracht haben muss. Dazu wohl noch etwas besonders Schreckliches im ersten Augenblick: durch ein Missverständnis bezog sie die Nachricht zuerst nicht auf Vater, sondern auf – mich, tobte wohl 10 Minuten lang entsetzlich, bis man merkte, was sie meinte, und ihr sagte, es wäre Vater. Auch diese schreckliche Umstülpung des Herzens hat ihr von da ab wohl eine innere Starrheit geschaffen, die sich zwar nicht als Starrheit äusserte, sondern als schöne Ruhe, aber im Grunde doch Starrheit war. – Ganz konsequentermassen will sie sich umbringen, wenn ich etwa falle. Das wäre ja an sich gar nicht schlimm, entsetzlich ist mir nur der haltlose und leere Zustand, den dieser Gedanke schon für jetzt verrät.

Solange sie im Glück war, konnte man darüber hinwegsehn, obwohl ich es nie getan habe und du und Eugen auch nicht. Aber nun – . Ich habe nun gestern versucht, ihr durch einen harten Brief den Halt zu schaffen, den ich ihr mündlich nicht geben konnte. Es ist das so furchtbar schwer, weil der liebe Gott Contrebande ist. Erwähnt man ihn, so wird sofort gemeint, man wollte den Glauben an einen alten weisbärtigen Herrn, der mit einem Badetuch bekleidet auf einer Wolke sitzt, empfehlen und dann stopft sie sich für alles weitere die Ohren, denn “das kann ich nicht glauben”. Dass man es selbst ebensowenig kann, weiss sie nicht und will sie nicht wissen. Deshalb habe ich die Worte sehr vorsichtig gewählt und denke, ihr sicher durch diesen Brief eintretendenfalls dieTat, vielleicht (was mir unendlich wichtiger wäre) schon jetzt den Gedankenunmöglich gemacht zu haben. Der Selbstmord-gedanke ist ja eben wirklich das Schiboleth des Heidentums.

Ich schreibe dir das alles so genau, diesmal nicht bloss weil ich davon voll bin, sondern auch einfach damit du Bescheid weisst. Sie hat kein Verlangen nach Menschen, eher Misstrauen. Wer ihr Vertrauen geben kann, hat ihr viel gegeben. Edith war ihr grade in ihrer starren Leerheit und hülfreichen Unpersönlichkeit angenehm. Du? das wird sehr davon abhängen wie du dich ihr anträgst.

– Noch etwas: a tempo nach dem Tod ist – Dora Gronau “wiedergekommen”, hat getan als wenn nichts geschehen wäre und wird vielleicht, wenn du in Kassel sein wirst schon wieder auch für Mutters Gefühl die nahe Freundin sein, und eigentlich muss ich ja nur wünschen dass es so kommt. Vorläufig war es Mutter noch unheimlich bei diesem plötzlichen Revenant, da sie sie doch schon längst begraben hatte.

Eine Frage: wie kommt es, dass “Tante Paula” das versprochene Mskript nicht schickt? Wünscht sie nochmal extra gebeten zu werden? dann tue ichs natürlich. –

Leb wohl, liebes Gritli, und sei nicht traurig über das viele Traurige in diesem Brief.

Dein Franz.

7.4.[18]

Liebes Gritli, ich bin wieder beim Zug. Alle deine Briefe nach der Abreise von Kassel lagen da. Sie sind so sonderbar alt, – älter als die die ich noch in Kassel bekam, kommt mir vor. Diesmal liegt nicht bloss die Entfernung, die “paar 1000 Kilometer” dazwischen, sondern – nun eben, dass sie nicht nach Kassel gerichtet waren. Ich bin noch nicht aus Kassel zurück, kann mich nicht davon loslösen. Es ist gar nicht so sehr Mutter, nein wirklich – ich schrieb dir davon. Ich bin froh, dass ich dort war; ich hätte es hier unten vor Starrheit nicht ausgehalten, trotz Mutters erschütternd gegenständlichen ruhigen Briefen aus den ersten Tagen, trotz einem unendlich guten Wort von Trudchen. Du sprachst wirklich wie von draussen; ich merke es erst hier, in Kassel wo du es selber schriebst merkte ich es noch gar nicht. Wie kommt denn das? ich habe doch ganz offen vor dir gelegen. Und doch – vielleicht wusste ich es ja vor dem 19ten, oder vielmehr 21ten, selber nicht. Wenn du es nicht gesehn hast, so war es wohl nicht zu sehn.

Ich weiss nicht Gritli, ich bin auch sehr müde, und ich möchte so gern Liebes Gritli sagen – und ich tus auch. Ich bin vielleicht jetzt ein Bündel von verschiedenen Menschen – und du kannst sie nicht alle kennen, bis sie wieder zusammenwachsen zum einen deinem

Franz.

8.4.[18]

Liebes Gritli, was habe ich dir gestern in Müdigkeit und Bedrücktheit für verworrenes hässliches Zeugs geschrieben. Und nun ist es schon fort, und dies geht erst 2 Tage später fort. Dabei hast du ja seitdem mir schon selber alles geschrieben, ich hatte es da nur nicht so recht gemerkt, wie wahr es war. Ja, du hast Tod und Geburt noch nicht erlebt, nur das was dazwischen liegt, das Leben. der Tod bleibt unbegriffen, auch wenn man ihn erlebt hat, aber die Geburt bleibt es auch; begriffen – ergriffen wird nur das Leben. Die Sonne des Tags scheint nicht in die beiden Nächte die ihm angrenzen. Und deine Worte hatten mich geblendet, weil sie zuviel Tageslicht in ein verhangenes Zimmer trugen. Und dabei – wie ists denn anders möglich! Ich weiss ja noch genau, was mich am 19ten ausgefüllt hat; es giebt wohl Ferngefühle von Leben zu Leben, aber keine von Leben zu Tode. Während ich mit dir durch Inferno Purgatorio Paradiso ging, sass Mutter bei Vater – .

Verzeih wenn ich zu dir aus dem Dunklen ins Helle spreche; wir müssen uns einander geben wie wir sind, sonst geben wir nicht uns selbst. Ich bin traurig, heute besonders, denn ich sitze wieder in dem gleichen Raum mit dem gleichen Blick durch die Tür auf die Ebene wie an dem Tag wo ich die Nachricht bekam, es ist wieder alles genau so und auch wieder so unbegreiflich wie damals. Es ist hier auch besonders schlimm, so weit von allem weg. Zuhause konnte ich zugreifen, auch im Geschäftlichen, auch versuchen den Akademieplan über den schweren Doppelschlag hinüberzuretten, ich telefonierte täglich mit Bradt, war am 3. bei ihm in Berlin, – Cohen habe ich nicht mehr gesehn -, etwas wird wohl sicher werden, ob das Richtige ist mir zweifelhaft. Hier bin ich nun wieder ausser Reichweite; vorher habe ich das nicht so empfunden, eben weil Vater da war – da konnte ich ganz gut im Hintergrund bleiben.

Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir auf allerlei in deinen Briefen zu antworten. Das hol ich noch nach.

Auch meine unteroffizierliche Kümmerlichkeit drückt mich jetzt, zum ersten Mal. Ich hatte eben auch da unbewusst auf Vater abgeladen und mir die Wurstigkeit geleistet.

Weisst du, dass von deinen Bildern zum Gespenstervertreiben das ganz kleine (mit dem fehlenden Untergestell) am besten taugt. Vielleicht weil es reine Momentaufnahme ist. Zwischen Moment und Monument giebt es eben nichts dazwischen. Oder vielmehr, was dazwischen liegt, ist “Photographie”. Die Geschichte der Jonasschen Zeichnung? Ich las damals die Bibel, hebräisch und zwecks Vollständigkeit, und an jenem Nachmittag die Psalmen vom ersten bis zum letzten; Jonas wusste nichts davon; er ist während des Malens völlig in Trance und wusste wohl überhaupt nicht, dass ich Franz heisse, in einem Buch las u.s.w. So ist es eine von beiden Seiten ganz unbeabsichtigte (ich hatte mich zum Gemaltwerden nur hergegeben unter der Bedingung dass ich lesen dürfte, und es war die erste Sitzung) Illustration geworden. Während des Kriegs hat die theol. Fakultät der Univ. Berlin eine Preisaufgabe gestellt: das Ich in den Psalmen, – da müsste ihr eigentlich Jonas dieses Blatt einschicken. –

Ich bekam einen Schrecken, dass du Greda mit Globus behelligen willst; mit Ungedrucktem überfällt man keine Fremden; wenn dus nicht schon getan hast, so lass es bitte. Auf dich und Globus bin ich etwas neugierig, nur etwas.

Ob “man” sich einen raschen unerwarteten Tod wünscht? Ich nicht. Ich wünsche ihn mir langsam, Schritt für Schritt; ich möchte das Sterben erleben. Aber wünschen gilt ja nicht. Vater hätte ihn sich auch nicht so gewünscht, obwohl er es hätte müssen. Freilich viel später.

Dies “freilich viel später” kann ich bei dem 75jährigen nicht sagen, darf es nicht und muss es doch. Es ist eben immer zu früh. Ich habe 4 1/2 Jahre mit ihm gehabt, ganz unerwartete Jahre, zuletzt doch auch für ihn ein grosses Geschenk, nicht bloss für mich. Ist es nicht sonderbar, dass ich Vater soviel kürzer gehabt habe? sogut wie alle meine Erinnerungen an ihn sind aus dem letzten Jahr, ja aus dem letzten Urlaub, ja eigentlich – aus den 2 Tagen Berlin.

Liebe giebt sich nicht bloss nicht aus, sie wächst sogar vom Ausgeben. Das weiss schon Julia (“Je mehr ich gebe, je mehr habe ich”). Wenn es anders wäre – wenn man sparen müsste – aufsparen, so wäre ich nicht, was ich nun bin und sein darf: Dein Franz.

[Margrit an Franz]

[unvollständig, wahrscheinlich neu geschrieben]

[nach dem 8.IV.18]

Lieber Franz –

Heute morgen sind Deine Briefe von unterwegs gekommen.

Du schreibst immer von meinem nach Kassel gehen – mir ist noch gar nicht klar ob Deine Mutter mich überhaupt will. Wahrscheinlich habe ich mich auch nicht richtig angetragen. Ich empfinde es so sehr als Gunst und so gar nicht als Pflicht oder gar Opfer, daß ich mich gar nicht getraute viele Worte darüber zu machen. Seitdem ich aber etwas andres weiß, ist es mir überhaupt zweifelhaft geworden: sie sorgt sich um Dich – meinetwegen. Nicht aus Eigensucht. Darum will sie mich vielleicht jetzt nicht um sich haben, wo der Gedanke an deine Zukunft das einzige ist was sie am Leben hält. Sie ist in einer Mutter so natürlich diese Sorge und daß man sie sich machen kann, hat mich einen Augenblick ganz unglücklich gemacht. Ich kann es ihnen ja nicht sagen, wie sehr uns das Schicksal zusammengeschlungen hat, daß ich da nichts “machen” kann. Im übrigen ist mir gar nicht bange vor Deiner Zukunft, ich fühle mich gar nicht im Wege, auch nicht in dem SinN wie es Deine Mutter fürchtet.

Wie Du den Zustand schilderst stand es immer vor mir bis Du von ihrer wunderbaren Kraft schriebst, die sie beseelt. Da dachte ich eben, daß große Schicksale auch große Kraft auslösen. Ich habe es immer mit Schrecken gesehen, wie sehr sie ihr Leben bis in die letzte Faser auf Dich abGestellt hat. Ich habe es an mir selber erst lernen müssen, daß das zum Menschenfressen führt, daß wir gerade aus Liebe zu den Nächsten ein eignes Leben haben müssen u. jene Kammer [unleserlich überschrieben] in die das eine Geleise mündet hat jeder für sich allein

9.4.[18]

Liebes Gritli, ich hatte dir Schweitzers Bilder nicht gleich zurückgeschickt, du kriegst sie aber noch. Ich wusste etwas wie er aussieht, denn Picht hatte mir ich glaube im Sommer 10 in Baden = Baden einmal ein Bild von ihm gezeigt, so hatte ich meine Verwunderung schon weg. Mutter, die nichts ahnte, hatte eine glänzende Diagnose gemacht: “zwischen Musiker und Arzt; Idealist (aber unangenehmer), Durchsetzer”. Und zwar noch ehe sie das Orgelbild gesehen hatte, nur nach dem einen. Dagegen haben Edith und – Trudchen völlig instinktverlassene Diagnosen gemacht, die ich vergessen habe.

Ob wohl der Turmhahn schon je auf den Hahn Petri gedeutet ist? oder heute gedeutet wird? Seine heidnische Vergangenheit würde ja nichts ausmachen. Aber es wäre eine aufregende Vorstellung, zu aufregend für den – Hausgebrauch. Freilich hat das Christentum ja auch das Kreuz im Hausgebrauch, und das ist noch aufregender.

“Atheistische Theologie” ist natürlich “vor den Toren”, aber nicht weil ich damals noch vor den Toren gewesen wäre, sondern weil es für den Druck geschrieben war. Und da würde ich heute noch nicht viel anders schreiben (Beweis übrigens: Zeit ists, das doch ebenso wenig an das Eigentliche rührt). Ich habe sonderbarerweise überhaupt die Vorstellung, dass ich mein Eigentliches, wenn es je zu Papier kommt, nur posthum veröffentlichen werde. – Kommt es jetzt bald zum Frieden, etwa in diesem Sommer (der Laubfrosch schläft zwar), so würde ich in eine ganz äusserliche, agitatorische und organisatorische, Tätigkeit für die Akademie gerissen werden – und gar nichts dagegen haben, für einige Zeit. Bradt spricht sogar von “Lebensarbeit” und “man erwartet von Ihnen” – er ahnt gar nicht den theoretischen Menschen in mir, weiss nur von dem aktiven: – so kann es einem gehn!

Von den Cohenschen Blättern, die ich dir noch hätte schicken können, hättest du alleine nicht so viel gehabt wie von dem Stück, das du lasest. Die Offenbarung kommt vorher. Was er da sagte, kommt nicht mit mir überein; eher wird es noch umgekehrt kommen: ich werde mich ihm nachdenken. Mit der einen Predigt von Rudi hat es Berührung. Es gipfelt in dem Satz: Gott giebt die Thora wie er alles giebt, das Leben und das Brod und auch den Tod. – Entsinnst du dich nicht mehr? vom Februar her? – Wenn ich erst das Ganze im Druck habe, werde ich vielleicht, wenn ich es kann, ein Exemplar für dich “zurecht machen”. Oder wir lesen Stücke daraus zusammen. Wann wird das sein?

Wann?

Dein Franz.

11.4.[18]

Liebes Grili, sag: hast du eigentlich dir je einen Vers daraus machen können, dass ich der Sohn meines Vaters bin? Während ich die Verwandschaft mit Mutter immer im Temperament gespürt und oft verwünscht habe. Und selbst äusserlich, im Gesicht u.s.w. Sag ganz einfach, wie dus gesehn hast, ob du überhaupt je daran gedacht hast.

Es giebt solche Sprünge in der Vererbung. Die Vererbung geht durchaus nicht in der graden Linie. Auch Kinderlose vererben ihre Art auf die Familie und tauchen einmal irgendwo wieder in Seitenlinien auf. Das ist jetzt sogar gelehrte Theorie und augenblicklich die herrschende.

Aber ist es denn so? Ich selbst habe mich ja immer gewundert. Was sagst du?

Ein einziges Kind ist etwas merkwürdig Ratloses. Wenn ich Geschwister hätte, würde ich mich jetzt unter denen umsehn und die Antwort da finden.

Überhaupt eine Mutter und ein unverheirateter Sohn, was ist das für ein baufälliges Haus; es ist reine Glückssache ob es noch solange steht, bis die nötige Renovierung vorgenommen werden kann.

Ich habe zum ersten Mal im Krieg eine wirkliche Sehnsucht nachhause. Früher war ich ja nur wie Besuch da; ob ich kam oder nicht kam, das Haus warda. Aber jetzt wäre ich so nötig und spüre mein Hiersein nicht bloss als sinnlos, sondern als widersinnig.

Denk, Dotz, diese amerikanische Romantikerin hat die Wolkenkratzerei des Gefühls gehabt, meiner Mutter zum 4.IV. (32jährigem Hochzeitstag) einen Strauss zu schicken “mit herzlichen Glückwünschen”. Aber du siehst, wie sie in den ersten Tagen gewesen sein muss (Dotz war schon fort, als ich kam), und von Dotz ist es, obwohl ein Fehlgriff, doch ein furchtbar liebenswürdiger.

Kennt Eugen wohl Fichtes “Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters”? (er behauptet ja immer, er kenne nichts und nachher hat er doch immer alles schon gelesen) sonst bestell es für ihn für von mir (wir können die 3 M, die es – Verlag F. Meiner – kostet, ja auf unsre beiderseitigen “Checkbücher” verrechnen). Ich las es sonderbarerweise erst jetzt.

Χαιρε – aber soweit bist du ja noch nicht, also Vale (und das ist wohl auch richtiger)

Dein Franz.

13.IV.[18]

Liebe, ich muss noch weiter schreiben; es wird mir jetzt immer klarer, was ich damals meinte, als ich dir sagte, dass die Liebe die Grenzen des Lebens nicht übersteige. Im Leben liebe ich den Nächsten, den dem ich ins Auge sehe, der mir ins Auge sieht, und liebe ihn vielleicht “sitzend im Schatten Gottes”, liebe ihn “in” Gott. Ja ich liebe ihn mehr als ich Gott liebe, ja lieben kann. Denn es soll so sein. Gottes Antlitz “sieht kein Mensch und bleibt leben”. Aber das Antlitz des Nächsten sehe ich solange ich lebe. – In der Ewigkeit aber sehe ich Gottes Antlitz und kann ihn lieben, wie ich in der Zeit nur den Nächsten lieben kann – Auge in Auge. Und in Gott auch den Menschen. Aber doch nun nicht mehr den Menschen als “Nächsten“. Denn nun, wo Gott mir nächst geworden ist, kann mir kein bestimmter einzelner Mensch mehr Nächster sein. Ich liebe sie nun alle, und alle gleich, also nicht mehr als “Nächste”. Keiner ist ja meiner Liebe mehr bedürftiger als der andre. Die irdische Liebe überdauert den Tod nicht, weil sie engherzig war, weil sie wählen musste, vorziehen, finden. Eben all das, was sie süss macht, all dies Aussschliessliche, Heimliche, Nahe der Liebe – grade das muss im Lichte Gottes zergehen. “Du sollst Gott lieben mit deinem ganzen Herzen” ist mehr als ein Gebot, ist eine Verheissung. Alle Verheissung hat – auch – etwas Unheimliches. Denn heimlich ist uns das Leben wie wir es kennen. Deswegen lässt uns der Tod das Leben lieben, im gleichen Augenblick wo er uns darüber hinausschauen lässt. Wahrhaft lieben werden wir uns erst, wenn wir uns in Gott lieben – das fühlen wir und fühlen im gleichen Augenblick den Schmerz, verzichten zu sollen auf die süsse Unwahrhaftigkeit der menschlichen Liebe, in der sich die Liebe zum Nächsten noch mit der Kühle gegen den Übernächsten beisammen findet, ja sich (ehrlich gesprochen) an dieser Kühle erwärmt. Die wir hier lieben, werden wir dort doch nicht weniger lieben; wir brauchen kein Weniger von Liebe zu fürchten; aber wir fürchten das Mehr von Liebe, wir fürchten, teilen zu müssen, und – sollten doch schon von hier unten wissen, dass Liebe sich nie teilt, nur wachsen kann.

Guten Abend, Gritli

15.4.[18]

Liebes Gritli,

nun ist Eugens Brief doch noch gekommen, gleichzeitig mit deinem aus euren drei Tagen. Wenn ich denke, dass es die gleichen Tage waren, die ich hier herunter fuhr mit der Nachricht von Cohens Tod – welche Gleichzeitigkeit gilt nun! Denk, es ging mir mit Eugens Brief wie mit deinem hier; was er von Vater sagte, zu mir sagte, kam von aussen; es ist schon so, wie du selbst sagst: nur die Blutsverwandschaft schafft hier die Nähe, wo das Selbstverständliche mitgefühlt wird, auch wenn man es nicht selber erlebt hat. Hansens Brief war so, obwohl wir uns doch so viel ferner jetzt stehen als zuvor. – Bilde ich mir das nur ein oder kann es wahr sein, dass ich mich an den drei Tagen genau so freu wie du und er? – Ich lege dir wieder zwei Apokryphen zu Zeit ists bei, die du dann weiter nach Kassel schickst. Die in dem Israelit. Familienblatt am Schluss zitierte Broschüre von Birnbaum wollte ich dir schon neulich, als ich sie las, auf der Fahrt nach Dresden, nennen. Du findest sie in (oder kannst sie kriegen von) Kassel. (Sonst: Verlag Löwit, Berlin u. Wien). Es ist das Programm einer jüdischen Ordensgründung. Das Zusammentreffen in dem Psalmzitat hat mich frappiert. (Es ist allerdings eine ziemlich bekannte Stelle). Auf Birnbaum ging wohl das kurze Stück über “Jüdische Religion” in der Nr. der J.Rundschau, die ich neulich bei dir vorbeidefilieren liess; es ist dir vielleicht aufgefallen. – Ich denke jetzt manchmal, ich habe da etwas aufgeregt, was nun auch ohne mich weitergehen würde. Es muss ja wohl so sein; sonst hätte es auch mit mir kein Daseinsrecht.

Alle Nachrufe auf Cohen sind unbefriedigend. Es ist als hätte ihn niemand gekannt. Mir zuckt es immer, wenigstens meine einzelnen Erinnerungen an ihn, meine “Anekdoten”, schriftlich festzuhalten. Vielleicht tue ichs. Nach Berlin zieht mich nun für später nichts mehr. Und trotzdem werde ich wohl noch eine Weile hinmüssen, nicht bloss wegen des Hegel. Zu denken, dass der nun bald 3 Jahre eigentlich ganz fertig daliegt! Frühjahr 14 hat Eugen ganz trocken erklärt, der würde überhaupt nie fertig, als ich sagte im Herbst könnte er erscheinen. Die ältesten Blätter im Manuskript sind von 1909, als Buchplan ist es von 1910 – und jetzt ist 1918! “Ist mir mein Leben getroumet?”

15.4.18

Lieber Eugen,

es ist alles soviel einfacher. Auch ohne eigne Lebenswahl – eine Wahl die ich wohl gegen Vater verteidigt habe, aber nicht im Kampf mit ihm gewonnen(nicht einmal!) – auch ohne das, auch für den, wenn es ihn giebt, der einfach die Arbeit des Vaters aufnimmt, auch für den ist der Tod des Vaters das Gleiche wie für mich und jeden. Man ist eben nicht mehr Sohn. (Der Mutter gegenüber ist man immer Kind, nie Sohn). Ich weiss sogar mit innerer Gewissheit nun, dass das das Gleiche ist, einerlei ob man seinen Vater in der Wiege verliert oder als alter Mann. Und wenn man es längst vergessen hat oder nicht mehr wahr haben wollte, dass man noch Sohn war, nun wo man es plötzlich nicht mehr ist, weiss mans.

Das Persönliche wird dagegen ganz klein. Glauben oder Unglauben – fürmich ist das entscheidend. Aber für Gott? Ich meine, er richtet nach den Taten. Auch die Taten weiss kein Mensch. Aber was wir am andern als Glauben oder Unglauben wahrzunehmen meinen – was ist das für ein Wissen! Jedenfalls ich habe keine Angst um Vaters “unsterblich Teil”. Und ich weiss von keinem Auftrag, es zu “retten”. Nur so wie das aller Menschen. Und zuvorderst mein eigenes. – Vielleicht hast du es so gemeint.

Das andre, was noch in deinem Brief steht, das wo du aus dem eigenen Wissen schöpfst, das Gleichnis vom Streichtrio, ist wahr. Und doch, ich möchte es fortsetzen, obwohl es tollkühn ist: In der ganzen klassischen Kammermusiklitteratur, bei Haydn Mozart Beethoven, giebt es kein einziges Trio das den grossen Quartetten gleichwertig ist. Die eine Geige, die noch hinzukommt, mit ihrem meist gar nicht sehr reichen Part, tut das Wunder und macht aus einer problematischen (unbegreiflicherweise, aber die Erfahrung hat entschieden) Kunstgattung die vollkommenste. So sagt auch Gritli. Und so hoffe ich.

In Liebe

Dein Franz.

16.4.[18]

Liebes Gritli, ich stehe dauernd unter dem Druck des Geschehenen; es wird nicht leichter, eher schwerer zu tragen. Mag sein, dass es einfach der Mangel an ernstzunehmender Tätigkeit ist; ich habe so gar nichts hier worein ich mich “stürzen” könnte und möchte, ausser immer wieder diesem einen selbst. Dass mein Dirschreiben eine Ablenkung wäre, würdest du ja selbst nicht wollen. Und gedruckte Bücher lächern mich, ausser dem einen und auch das führt mich ja wieder nur tiefer hinein. – Eugen schreibt, das Geheimnis zwischen Vater und Sohn hänge nicht an den bewussten Teilen des Wesens. – Mag sein das Geheimnis. Aber das Bewusstsein, das “Erinnerte”, drängt sich vor das Geheimnis, ich weiss nicht ob immer, nein sicher nicht immer, aber hier und jetzt. Und der Tod (wieder der “Tod des andern”) setzt eben ein unverschiebbares Hier und Jetzt ins Leben. Und so hänge ich am Bewussten, hänge an dem letzten Monat, wo wir uns – durch ein unausdenkbares Glück – in der visibilis fanden. Du weisst doch, von dir aus, was die visibilis wert ist. Grade der wunde Punkt meines Innern, der Riss in der Kette meiner Tradition, dies dass ich mein Judentum aus den Händen meines Grossonkels empfangen habe und allerdings (Eugen schreibt so) “Vater und Mutter verlassen” musste, grade diese Wunde begann zu verheilen. Das kann ich nicht als nebensächlich empfinden. Ich habe es schon im Februar als etwas Grosses gewusst (es ist einer der Abschlüsse, aus denen sich meine “Ahnung” damals gebildet hatte), und nun, nachdem es wirklich ein Abschluss ist, erst recht.

Ich schreibe dir das alles – du warst ja dabei.

Dein Franz.

16.IV.[18]

Lieber Eugen,

du wirst es komisch finden, aber den Theoretikus hat das mit dem Quartett nicht in Ruhe gelassen. Ich hatte es immer für unerklärlich gehalten. Es ist aber sogar sehr klar. : Der einzelne Ton ist ganz charakterlos, erst das Intervall hat bestimmten Ausdruck, Seele. Das Dramatische, der Dialog, also das Menschliche in der Musik lässt sich also nicht durch zwei gegeneinander geführte Einstimmigkeiten geben, sondern nur durch zwei Zweistimmigkeiten. Das Streichquartett ist der klassische Fall. Alle Komplizierung durch Orchestermassen führt doch fast nie über die zwei Gruppen heraus. Es lässt sich zwar ein mehr als zweistimmiger Kontrapunkt schreiben, aber – nicht hören. Oder zwar hören, aber nicht mehr dramatisch verstehen. Mehr als zweistimmige Musik ist schon wieder, wie einstimmige, Gesang des Einzelnen, Lyrik, nicht mehr die Welt. Auch im Drama ist ja der Dialog immer bloss zweistimmig. “Partei wird alles”, gilt für die Trit= und Tetartagonische[?]. Auch im Streichtrio gruppieren sich die Stimmen – zwei gegen eine, und die eine ist alleine und kann sich nicht ausdrücken. (Daher gilt für das Klaviertrio und schon für die Klaviersonate nicht das gleiche wie für das Streichtrio). – Ich merke im Schreiben, wie sehr das alles doch wieder ins Gleichnis fällt. Und wie recht du auch mit deinem Schluss hast: – das Bild der Welt kann sich in der dramatischen Dreistimmigkeit der Haydn Mozart Beethoven nicht rein, nicht unverzerrt spieglen; nur im undramatischen wieder einstimmigen Kontrapunkt Bachs, nur im Lied, und nur in dem einen Lied, das alle Welt unter sich liegen lässt, können sie rein und gleich zusammenklingen.

Kann ich dir das denn schreiben? Antworte nicht darauf – es ist ja schon selber Antwort. Wir müssen und werden uns auch noch im Vierklang der Weltfinden.

Euer Franz.

17.4.[18]

Liebes Gritli, dein Summabrief aus Hinterzarten nach den vier Tagen. Auf die Hauptsache haben wir uns wie stets schon geantwortet. Nur dass bei mir keine besondere Erfahrung zu kommen brauchte, damit ich lernte, was dich die Zeit nach dem 19.März gelehrt hat, denn ich habe in diese Kandare vom ersten Augenblick an gebissen und mir das Maul dran aufgeschunden. Du hast eben ein vertrauensseligeres Herz, schon als Frau. Ich glaube für jede Frau ist der Weg zum Abgrund weiter als für jeden Mann. (Vgl. übrigens Blocksbergszene: … mit 1000 Schritten schaffts die Frau. – Doch wie sie sich auch eilen kann, – mit einem Sprunge schaffts der Mann). So haben mich diese Tage darin eigentlich kaum etwas gelehrt. Vielleicht doch? du weisst es besser, du hast ja was ich dir seitdem geschrieben habe. Was du sagst, von Seele und Erdenschicksal, ist ja genau das was ich das Ungereimte nenne: die Seele des andern trage ich, wenn er sie mir schenkt, sein Schicksal nur, wenn er mir gehört. Und eben dies, dass wir uns einander schenken müssen und uns doch keinen Augenblick gehören können – das Ich bin dein ohne das Du bist mein -, das hat mich nie verlassen; die Kassler Tage jetzt waren nur eine neue Bestätigung. Aber, aber -: alles Schicksal ist uns doch nur deshalb gegeben, damit es Seele wird (so wie alles Irdische, das uns gegeben ist), und für diese Verwandlung anerkenne ich keine Grenzen, grade weil ich die Grenzen im Irdischen hart anerkenne. Jede neue Bestätigung, dass du nicht mein bist, kann mich nur um so leidenschaftlicher das Ich bin dein rufen lassen – eben auf dass auch dies Stück ungelöstes unlösbares Schicksal gelöste frei Seele werde. Und so auch du; das ist ja der Sinn deines “erst recht”, mit dem du schliesst. Ja erst recht müssen wir uns das schenken, worauf wir aneinander kein Recht haben – uns selbst. Hier und hier allein steckt auch der “volle Preis”, den dies wie alles kostet. Um Himmelswillen doch nicht, dass du Eugen nähmest was du mir giebst. Wäre es so, dann dürftest du mir nichts mehr geben. Aber der Preis wird nicht dorthin geschuldet und von dorther genommen; nicht auf der einen Schale sinkt die Ware und auf der andern das Gewicht, dies Gesetz der verschiedenen Schalen am gleichen Balken ist Eugens Grundgestz der Weltgeschichte, also des – Erdenschicksals. Da würde es gelten. Aber da sind wir, mit Greda zu reden, “deine Margrit Rosenstock” und dein F.R. In der Seele aber ist nur eine Schale, und auf ihr liegen Ware und Gewicht. Der Preis, der volle Preis, wird bar bezahlt, in der eignen Seele, darin dass wir zahlen ohne zu erwerben. Daseigne Herz muss bluten, dass allein ist der Preis, den es für das Glück, schlagen zu dürfen, zahlen muss. Was du mir schenkst, hättest du Eugen gar nicht schenken können, aber nachdem es mir aus deines Herzens Überfluss entgegengeströmt ist, schenk ichs – ja wem denn anders? – Eugen weiter, in tausend Gedanken dieser brieflosen Wochen und in allem was ich ihm nun schreiben mag. Seele Gritli – und du das meine??

So konnte ich auch jetzt und kann nicht verstummen von dem was uns als Schicksal nie gemein werden kann; ich musste dir die ganzen Tage immer wieder davon schreiben, bis es, in seinem Widerschein in meiner Seele, doch bei dir wäre. Nur das was nie Seele wird, nur das kann draussen bleiben. Ich habe dich ja wie du inzwischen weisst weiter über die Akademie “auf dem Laufenden gehalten”. Aber doch durchaus “ohn Verlangen”. Mehr mit einem leisen Gefühl der Komik dieser Öffentlichwerdung meiner Person. Es war eben ein Stück vom Äusseren unsres Zusammenseins, so kam es gnz von selbst in die Briefe hinein. Aber wichtig? ich hätte nicht das Gefühl, dir etwas Wichtiges verschwiegen zu haben, wenn du gar nichts davon wüsstest. Einzig durch die Verflechtung mit den beiden Toden ist es nun wichtig. Aber sonst? Nein die Tat, diese Art Tat, nämlich die organisatorische, ist nicht mein “Bestes”, ist überhaupt niemandes Bestes, ist sogar immer das Schlechteste; nur das was etwa am Rande solcher “Tat” an Taten aufspringt, nur das ist gut; aber von solchen wirklichen Taten wüsste ich in diesem Fall wenig. Tat überhaupt, äusseres Leben überhaupt ist mir (und überhaupt) notwendig; aber was es nun grade für eine Tat ist, ist ziemlich gleichgültig, da das Wesentliche eben das Unorganisierte, der Zufall am Wege, ist. Ich hatte wohl als ich Zeit ists schrieb, das Gefühl, dass es mein Schritt ins Leben sei; aber grade an die Akademie dachte ich dabei nicht; wäre Bradt nicht gewesen, so hättest du das Wort Akademie in Kassel wahrscheinlich nicht gehört! Eugen gegenüber hätte ich ja grade mit diesen Äusserlichkeiten zurückgehalten, aus dem dir bekannten und verständlichen Schamgefühl nicht vor ihm aber für ihn. Er selber darf ja keinen Einblick in diese “Familienan-gelegenheiten” suchen wollen. Dazu würde innere Freiheit gehören, ja ganz deutlich gesagt: Humor. Und den kann ich haben und ein fremder kann ihn haben, aber er der einmal zur Familie gehört hat kann ihn nicht haben und darf ihn nicht haben (es wäre verletzend, wenn er ihn hätte). Er kann nur Pathos haben. Aber mit Pathos lässt sich die Welt nicht begreifen, nur mit Humor. Eugen kennt das von mir, was wirklich mein Bestes ist, er kennt es mit meinem Wissen und Willen und hat in dem Gedicht darüber unwiderruflich quittiert. Er hat meine Seele – was will er mit meiner Politik. Denn Politik ist es, nicht etwa, wie du einwenden möchtest, visibilis. Nicht visibilis, sondern – Centrumspartei. Von meiner visibilis mehr zu wissen, soviel wie du, das hängt von ihm selber ab – von seiner Bereitschaft zu hören; ich kann doch davon nicht sprechen, solange ich noch das Gefühl habe, diskutieren zu müssen; so etwas kann man nur sagen, wenn man rein erzählen darf. Nur dies, nur dein Wissen um meine visibilis ist ein wirkliches Mehr von mir, was du gegenüber Eugen hast; deine “Versiertheit” in den Angelegenheiten der Akademie nicht. Das Eigentliche und Innere weiss er, genauer vielleicht und zusammenhängender als ich es je zu Lebzeiten öffentlich äussern werde. Du weisst ja meine sonderbare Vorstellung dass ich mein Eigenstes nur posthum sagen werde, auch wenn ich genügend lang lebe. Mein Leben wird vielleicht sehr “politisch” werden. Denn ich will es ja wirklich leben. Und mich nicht in den Literatenwinkel meiner Eigenstheit verbannen lassen. – So sehe ich das heute. Was wird, weiss ich natürlich nicht. Ich muss doch mein “Eigenstes” im Feuer des wirklichen Lebens prüfen, ob es das aushält. Und wie soll ich das, wenn ich statt eines Menschen ein Literat werde und statt der Kennmarke “Willenskraft” den “Geist” umgehängt kriege. Erst im Lehren bewährt sich das Lernen. Vgl. “Margrit Rosenstock = Hüssy, Hinterzarten 9.IV.”. Glaube ich meinem Eigensten denn wirklich heute? auch hier heisst es: ich hoffe zu glauben. – Wir müssen nur wissen, dass die Angst vor dem “irdischen Gewühle” um der “herrlichen Gefühle” willen, sie möchten darin “ersticken”, – dass diese Angst eben das ist, was überwunden werden will. Wir sollen “alt werden”. Hat Eugen recht und ist die Starrheit, die er jetzt verspürt – er schreibt mir auch davon – wirklich mehr als ein blosses Wellental, – nun dann soll sie eben mehr sein, dann soll er eben alt werden. Dann wird ihm eben aus dieser jetzigen Depression das kommen, was ihm bisher noch fehlte: er hat produziert wie ein Vulkan, dann wird er lernen zu bauen. Um Material wird er sein Leben lang nicht in Verlegenheit sein; er hat genug ausgespien. Ich würde ihm also beinahe wünschen, dass er recht hätte; aber wissen kann man es nicht; er war wohl immer besonders verwöhnt mit lebendigen Zeiten. Rudi etwa hatte den Eindruck, als ob man ihm gar nichts geben könnte, und hatte z.B. ihn bei dem Rundreiseplan seines Predigtexemplars deswegen ausgelassen! Du fragst nach Rudi. Er hat oft solche Zeiten gehabt, im Krieg mehr als 3 Jahre bis in diesen Winter, ja bis Montmedy. Ich selber bin für mich besonders gleichmütig hierin, weil ich den ganzen Schrecken dieses Zustands vorweg erlebt habe, vor dem andern. Ich habe mich von meinem 15. Jahr etwa bis zu meinem 20ten oder länger in dieser Hölle befunden und seitdem lache ich darüber, denn ich weiss, dass einem die “selbsteigne Pein” da nichts hilft und man solche Zeiten eben so gut hinbringen muss wie es geht – dafür sind die dicken Bücher geschrieben, dass man sie in solchen Zeiten liest (versteht freilich erst in der nächsten wachen Zeit). Aber wie gesagt, bei Eugen ist es vielleicht wirklich mehr und dann sicher etwas Gutes, obwohl er sich noch sperrt. An dem ungelegten politischen Ei liegt es nicht. Da ers nicht anonym wollte, war es die “Carriere” nicht wert, falls es die wirklich gekocht hätte. Wer legt denn jetzt überhaupt alle seine Eier? Und der Mangel an Selbstkritik (an Bauenkönnen statt Speien müsste) hätte ihn grade mit dieser Veröffentlichung in ganz schiefe Verbindungen gedrängt. Ich habe jetzt die Lichnowskische Denkschrift gelesen und bin nachträglich entsetzt wie der Reiter übern Bodensee von der Perspektive Eugen = v.Burfelde. Was hat er mit diesem Diplomatenpazifizismus, diesem ancien régime mit umgekehrten Vorzeichen, zu schaffen. Dann schon eher Eugen = Förster. Vor den Lichnowski-abhängigen Berliner Unäbhängigen hätte er instinktiv scheuen müssen. – Will ers anonym, so bin ich noch heute für die Veröffentlichung; denn wertvoll genug war das Büchlein schon so. Aber er wird nicht wollen, obwohl der “Krieg” ja dies wie vieles “entschuldigt”. – Aber ändern wird das an seinem augenblicklichen Zustand nichts. Der geht “von selber” (dümmstes Wort der deutschen Sprache) vorüber.

Nicht “von selber”, nein, sondern u.s.w.[?], und im Angesicht der Grenzen – grenzenlos

Dein Franz.

18.4.[18]

Liebe, eine Nachlese noch (das ist eine gute saubere Sitte von mir. Es soll doch nichts ins Leere fallen; ausser dem was von selber verhallt). Du fragst mich nach Cohen. Du weisst ja, dass ich ihn zuletzt ganz zu meiner “erstenGarnitur Menschen” rechnete, also trotz der Distanz Alter und Ruhm einfach als einen geliebten Freund. Ich hing ihm am Hals. So ist mir sein Tod wie der Tod eines Freundes. Nämlich Verlust, recht eigentlich und wörtlich Verlust, Lücke im Leben. Verlust, aber nicht Veränderung. Und das ist der Unterschied, den du ahnst. Der Tod eines Blutnächsten kann auch “Verlust” sein, aber wesentlich ist er: Veränderung. Veränderung des Lebens auch dann, wenn er als Verlust gering ist. Über den Verlust kann man klagen, an die Veränderung muss man eben glauben lernen. Den Verlust lernt man eben nie aus und glaubt auch nie daran. Ich weiss das so genau von Walter Loeb her oder aus ganz früher Zeit, 1897, vom Tod unsres Hausarztes, der mich eben, freilich in kindlichen Dimensionen, noch ebenso traurig macht wie als er geschah. Vielleicht sind Verluste überhaupt das einzige, was sich im Leben unverändert erhält. Der Tod ist ja überhaupt das Feste im Leben. Leben wächst und vergeht. Der Tod nicht.

Den Erbschaftsanspruch habe ich schon sehr früh bei ihm angemeldet, um Ostern 1914 herum. Ich brachte ihn aus dem Kolleg nachhause, es war vor seiner russischen Reise, und er klagte, dass seine Übersiedelung nach Berlin (die eigentliche “Tat” in seinem Leben) vergeblich gewesen sei: Berlin W komme nicht zu ihm. Da wurde ich schamlos und sagte ihm – es war schon an seiner

Haustür -: vielleicht sei es wichtiger, dass ich ihn höre als ganz Berlin W. Ich weiss nicht, ob er es gehört hat oder überhört. Vielleicht hat er es erst an Zeit ists gemerkt. Zu den Frankfurter Lazarusens soll er im Herbst, wie mir die Frau in Kassel erzählte, auf diese Melodie gesprochen haben. – Was du schreibst von Fremde und Nachhausegehn ist ja einfach wahr.

Und überhaupt –

Dein Franz.

Mai 1918

1.V.[18]

Liebes Gritli,

also wieder Säckingen. Dass Tante Lene („”) 8 Wochen bleibt, wusste ich noch nicht. Dabei tut sie Mutter gar nicht unbedingt gut. Dein Durchbrennen als “petite juive” versteht sich doch von selbst. – Ich bin paff, dass du schon in Hinterzarten Zeit für das Briefbuch gefunden hast. Stimmt mein Voranschlag “2-300 Seiten”? – Kriege ich einmal Schweitzersche Predigten? bitte: Für Predigten giebt es ja keine Diskretion. Übrigens weisst du – er ist ja ein “Ketzer”. Malgré lui. Vielleicht sogar ein besonders gesteigerter. Denn innerhalb des Protestantismus bildet die wissenschaftliche Theologie eigentlich noch am ehesten eine Art visibilis. Und er hat diese ganze geschlossene Phalanx als einzelner herausgefordert, indem er das Grunddogma, worin sie übereinkamen, in Frage stellte.

Natürlich ist es “nur eine Vorstellung von mir” das posthume Veröffentlichen; aber “mein Eigentliches” selbst ist auch nur eine Vorstellung, auch ohne jeden greifbaren Inhalt. Vorläufig ist es enscheidend, dass ich jene Vorstellung eben habe. Was ich mal wirklich tun werde, weiss ich freilich nicht, aber eben ich kann es mir heute nicht vorstellen, dass ich zu Lebzeiten veröffentlichen werde, und das ist für mein Heute jedenfalls bestimmend.

Hoffentlich ist Eugens Teilnahme an der Flandernschlacht trotz der veränderten Adresse nur platonisch. Mein Interesse daran beschränkt sich darauf, dass Rudi drinsteckt und nebenher, dass ich abends erst ins Bett kann, wenn ich den Heeresbericht aufgenommen habe; gestern ist es auch wieder spät geworden, so bin ich heute müde. Ich werde eben trotz des grösseren Massstabes und des immerhin Vorhandenseins eines politischen Ziels (das ja damals ganz fehlte) die fatale Erinnerung an Verdun 16 nicht los.

Globus? ich weiss nicht, wozu ihn Mutter plötzlich braucht, wahrscheinlich nur Ordnungssinn. Immerhin ists mir lieb, dass du ihn auf die Weise ohne Plötz versuchst. Dann lieber gar nicht als mit Plötz. Kommentare sind immer unnötig, ausser bei alten Briefen u. dergl. Aber z.B. zum zweiten Teil Faust ist kein Wort Kommentar notwendig. Es ist weiter nichts wie Nervosität, wissen zu wollen wer oder was das eigentlich “ist” Was es im Gedicht sein soll, steht drin und will nur einfach aufgefasst, “geglaubt” werden. Z.B. es ist vollkommen schnuppe, dass die Kabiren Gottheiten von wahrscheinlich semitischem Ursprung sind, die auf [durchgestr. Lemnos] Samothrake verehrt wurden und von denen Goethe durch eine Schellingsche 180.. erschienene Schrift Kenntnis hatte. Sondern es sind sehnsuchtsvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen. – Und Manto ist nicht “vgl. Ovid Metamorph. x y”, sondern eine Dame, die den liebt, der Unmögliches begehrt. Und der Doctor Marianus ist nicht der hl. Bernhard (geb…, gest…), sondern ein Herr der sagt: “Jungfrau Mutter Königin Göttin bleibe gnädig”.

Wo noch ein jüdisches Familienleben besteht, ist freilich die Taufe eines Kindes ein absoluter Schnitt. Der übliche Ausdruck für sich taufen lassen, der wörtlich bedeutet: sich vernichten, sich ausrotten lassen – spricht das aus; und es ist keine Tuerei, wenn früher für ein solches Kind richtig die Trauergebräuche veranstaltet wurden wie wenn es gestorben wäre. Früher, und bei Orthodoxen auch heute noch. Aber wieso es bei der absoluten Indifferenz in Eugens Elternhaus etwas bedeutet haben soll, das ist mir zwar nach mehrfacher Wiederholung allmählich glaublich geworden, aber verstehen werde ich es nie.

Den Vater R. kann eigentlich doch nur der Protest seines Sohnes gegen seine Indifferenz geärgert haben. Also eben doch nur das Persönliche. Ich halte mich daran, dass ich wenn ich je einen jüdischen “Kleinen Katechismus” zu schreiben hätte, darin erklären würde: “Blut allein tuts freilich nicht.” Bei Ehrenbergs hat es den Familien-zusammenhang nicht gestört. Und mit einer reinen Zwecktaufe würde sich auch der Vater R. abgefunden haben, nicht ganz leicht, weil es doch ein pudendum gewesen wäre, aber schliesslich doch. Aber der persönliche Protest, den er darin empfand, hat seine Herrennatur aufgebracht. – Ich kann sehr kühl darüber sprechen. Ich habe ja selbst auch keine Heimatgefühle für mein Elternhaus gehabt und grade mein Judentum hatstets als Protest gewirkt. Nun wo das Haus zerstört ist, habe ich hierin Freiheit fast als ob ich schon ein eignes Haus hätte und was ich nun tue, wird nicht mehr als Protest gegen mein Haus, und also als sinnlos grade im jüdischen Sinne, erscheinen, sondern einfach und positiv. Ich will den Absturz durch zwei Generationen ins leere Nichts, dessen Schluss ich nun an Mutter ja mit Augen sehe, nicht umsonst erfahren haben. Ich muss von vorn anfangen. Aber ich habe nun das Recht dazu.

Dein Franz.

1.V.[18]

Liebes Gritli, nachmittags wurde es doch noch ein “erster Mai”. Ich musste zur monatlichen Entlausung – erschrick nicht: eine warme Dusche und ein Spaziergang in der Ebene). Ich ging in die grosse Tellerebene hinein, über der Front stand ein Gewitter und an drei oder vier andern Stellen; an jeder für sich regnete es und ich ging über die weiten ein bischen sumpfigen Ebenen und stapfte durch richtige Gestrüppe von Gänseblümchen x). Es war sehr schön, ein richtiger Gewitterfrühlingstag, für mich mein erster dies Jahr. Der mazedonische Sommer der vor 2 Jahren schon im März anfing, hat dies Jahr nämlich noch nicht begonnen. Es kann dann freilich mit einem Male kommen.

Hans und Eugen haben sich über die Weltteile geschrieben? nichtwahr? Hans ist immer kompliziert, wenn er sich erklären will. Eugen übrigens meist auch, oder er vereinfacht das was er sagen will so sehr dass es etwas ganz andres wird als was er meint. Ich habe glaube ich das Talent meine Erklärungen ziemlich genau auf den Empfänger zu dressieren.

Denk, sie halten es T.Emmys wegen (die nicht wohl ist) für nötig, Tante Julie die stark seelisch bedrückt ist aus dem Hause zu bringen!!! Emmy soll vor das fait accompli gestellt werden, wenn sie wiederkommt. Ganz von Tante Julie abgesehn – was für eine wahnwitzige Behandlung Tante Emmys, als ob sie irgend jemand wäre und nicht der Pflichtmensch, dem das sein ganzes Leben lang nachgehen würde! Aber das ist wohl das Wesen der guten Herzen, dass sie jeden erst zum Irgendjemand zurechtschneiden, ehe sie ihn in ihre Beglückungsmühle hineinwerfen.

Du hast mir nie ein Wort wegen des Santo geantwortet, ihn mir “bloss geschenkt”. Ich lese so ungern Bücher allein; erst wenn zweie lesen, hört das Buch auf “Buch” zu sein. Und nur um dieses Tages willen, wo man vor Sichgefundenhaben piu non avante liest, nur um dieses Tages willen liest man.

Noch eins: hast du wohl gemerkt, dass zwar der lebende Dante Beatrice wiedersieht, aber eigentlich die Selige nicht ihn. Sie spricht fast immer über ihn hinweg, lächelt kaum einmal. D’antico amor la gran potenza spürt nur er, der Lebende.

Ich denke wohl, du wirst im Mai nach Kassel fahren, wenn da Eugen nicht grade kommt. Aber dann kann er dich ja auch dort abholen. Mutter schreibt jetzt, sie hätte Verlangen nach dir. Es ist doch auch gut, wenn du bald kommst, wo du grade die letzte Zeit da warst. Es wird ja keine schöne Zeit für dich werden, im Gegenteil; auch wenn du es vorher nicht als Opfer empfindest, es wird dich dann doch bedrücken; aber du wirst dir das gar nicht ersparen wollen. – Nimm vielleicht auch auf alle Fälle den 1916er Briefwechsel mit und fang sachte mit dem Abtippen an, eine Maschine mit der dir geläufigen Tastatur findest du sicher im Geschäft; und mehr wie 1/2 oder höchstens eine ganze Stunde kannst du doch nicht daran sitzen, es wird ein ziemlich anstrengendes Buch von 2-300 Seiten, aber ein schönes. In Gedanken habe ich schon die Umschläge für die drei Exemplare, eures, meins und Rudis, “entworfen”. Ich glaube, Mutter wird es ganz lieb sein, wenn sie sieht, dass man sie gar nicht in einem fort “umgiebt”. Und noch eins: geh ihr in Kleinigkeiten an die Hand (z.B. Kaffeetischabräumen u. dergl.); sie ist wie alle Diesseitsnaturen ein – Pedant, und nimmt deine “Faulheit” tragischer als sie dich merken lässt; du hast selbst mehr von ihr, wenn du ihr das Misstrauen in deine “Tüchtigkeit” unmöglich machst (es gehört so wenig zu dem was die Leute “tüchtig” nennen). Ich rede ja mit dir wie eine Tante, vielleicht sogar wie eine von Eugens Seite, und bin doch –

nun jedenfalls: nicht deine Tante

  1. x) vgl. Dor Tilmann.

3.V.[18]

Liebes, gleich drei Briefe kamen gestern von dir, und auch das Manuskript von Eugens Mutter. Ich habe es erst durchgestöbert, war aber erschrocken. Es ist lange nicht verrückt genug; das was du mir erzähltest, kommt zwar drin vor (es ist eine “Umarbeitung” des Manuskripts das du gesehn hast) aber verhältnismässig dünn und wenig umfangreich. Das meiste ist Natur= u. Religionsgeschichte im Züs Bünzli = Styl. Druckfähig, wie Häckel, Ostwald u. ihre Anhänger; die lassen auch so Sachen drucken, aber druckenswert kaum, eben weil mehr Züs Bünzli als Mr.Dick. (Aber du kennst ja den David Copperfield nicht – sonst würdest du zu Greda nicht das child – wife nennen können). Immerhin: was für sie zu machen wäre, wäre wohl: Herstellung eines literarischen Verkehrs mit den Monisten (also z.B. Druck im Unesma = Verlag). Daraufhin werde ich versuchen es zu korrigieren, soweit es mir, und überhaupt, möglich ist. – Die Bibel “ist übrigens gar nicht so”. Es kommt ihr weiter nicht darauf an, Gott Mütterlichkeit zuzuschreiben sogut wie Väterlichkeit. Im Ps.131, im letzten Kap. Jesajah, V.13. Es gilt eben von beidem Jes.40 “wem wollt ihr mich vergleichen, dass ich gliche”. Vom Judentum weiss sie komischerweise noch weniger als vom Christentum. Es ist mir wieder ganz deutlich geworden, dass Eugens Eltern an seiner Taufe nur deswegen Ärgernis genommen haben weil er damit ausdrückte, vorher, als ihr Sohn, Jude gewesen zu sein. Wie wenig ers – “Blut allein…” – war, konnte er ja nicht wissen.

Gewiss, im Westen wird England nicht besiegt. Das ist der Grund, weshalb ich lange an keine Westoffensive glauben mochte, denn 100 Divisionen im Westen imponieren England weniger als 4 in Mesopotimien oder Palästina. Aber das ist eben das Wesen des deutschen Militarismus, der Glaube dass im Westen Entscheidungen wüchsen. Es ist die eben rein technische Auffassung des Kriegs als Mensur, Frankreich der Paukboden. Ich halte es nicht für Bramarbasieren, dass Loyd George erklärt, auch ohne Frkreich würde der Krieg weitergehn.

Am 22. fängt ein 7 Wochenkurs in Warschau an, ich komme vielleicht hin; dann bin ich ja auch für 2 Monate in grösserer Postnähe, freilich ohne viel Zeit zum Schreiben. Hier habe ich es jetzt sehr gut, einen Unterstand ganz für mich allein, mit Tisch, Blick in die Ebene, fast nichts zu tun. Mit Warschau würde das zu Ende sein. So um den 12. herum werde ich wohl wissen was wird.

In Schopenhauers (eben nicht “über die Leute” oder “über die Frauen”, sondern:) “über die Liebe” hast du dir freilich den Honigtropfen aus der Giftblume herausgesogen; dass du den wittertest – du warst doch schon mit 17 Eugens prädestinierte Frau. Aber wer konnte mit deiner Siebzehnjährigkeit solche schrecklichen Experimente machen! Ich habe es wohl auch mit 17 gelesen, ich glaube bei Hans, und damals mit einem inneren Fusstritt abgetan. Das Weibliche war mein zweiter Glaubensartikel und ist es geblieben, bis ich – durch Kant – an das Männliche glauben lernte.

Den Mut zum Beantworten ungefragter Fragen hast du mir gegeben. Du schriebst mir mal, man müsste immer denken, wenn einem etwas schwer zu schreiben fiele, der andre wollte einen fragen und das Fragen fiele ihm schwer. – Um den 12. herum ist auch nach Kassel eine Brieflücke. Ich besinne mich noch auf den fehlenden Brief. Ich hatte den Unterschied des eignen vom fremden Tod entdeckt. Dass alle Todesfurcht nur daher rührt, dass man den eignen Tod sich vorstellt wie den Tod eines andern – in der dritten Person. Und dass auch hier alles darauf ankommt, alles in der ersten (d.h. also ersten = zweiten und zweiten = ersten – das “Geleise”!) Person zu erleben, den eignen Tod und endlich doch allen Tod. Denn freilich – Ps.115 – “nicht die Toten loben Gott” nicht die Toten, dritte Person, – “aber wir” wir! erste Person “wir loben Gott” nun also wohl solange wir “leben” – ach nein, sondern: “von nun an bis in Ewigkeit”.

Sieh, es schadet nichts, sich zu besinnen, was man eigentlich geschrieben hat. Denn – das hatte ich gar nicht geschrieben.

Ich spüre den Schlag deines abendländischen Herzens durch dich liebe Verbindungsader hindurch – ach nein, ich spüre deinen eigenen Herzschlag.

Liebe –

Dein.

3., 4. 5.V.[18]

Liebes Gritli, ich bin sehr traurig über Eugens Mutter; ich habe da mehr übernommen als ich leisten kann. Es ist so hoffnungslos und doch erschütternd, wie diese Frau auf ihre alten Tage in sich geht und gerne eine Welt ans Licht bringen möchte. Es ist mit einer Naivität gemacht, über die es einem abwechselnd lächerlich und weinerlich wird. Dabei ist die Verwandschaft mit Eugen wirklich stark, nur eben die Verwandschaft einer Karrikatur. Sie hat denselben zwingenden Willen alles was sie weiss aus ihrem Grunderlebnis herzuleiten wie Eugen, nur dass sie es eben gar nicht kann. Eine Veröffentlichung ist doch ziemlich ausgeschlossen; ich werde versuchen, nicht ihr abzureden, aber ihr abzureden dass sie es etwa auf eigene Kosten druckt, wozu sie bei ihrem Selbstbewusstsein wohl kommen würde. Sondern sie soll sich an Verleger wenden und einen Ehrenpunkt daraus machen, nichts zu bezahlen. Nimmt es dann doch einer, so schadet es nichts. Aber es wird es keiner nehmen. Es ist furchtbar schwer, ihr Einzelheiten zu verbessern, es ist eigentlich fast alles gleich unmöglich, das Richtige wie das Falsche. Ihre Fehler kann man ja nicht durch das wirklich Richtige ersetzen, sondern nur durch das was sie selbst bei genauerer Kenntnis für richtig halten würde, also im Grunde ersetzt man Fehler durch Fehler. Es liest sich wie etwas Uraltes und doch zugleich Schülerhaftes, so frühmittelalterlich. – Ich bin erst über die Hälfte hinaus. Gute Nacht.

4.V.[18]

Ich bin fertig. Es kommen ja auch ganz hübsche Sachen drin vor. Aber der Haupteindruck ist doch: Züs Bünzli geboren in Posen. Ich habe bei ihr immer so gut verstanden wie man Antisemit werden muss. Diese verzweifelte Unnatürlichkeit, die sich dabei selber höchst natürlich vorkommt und die ganze Welt mit schmalziger Milde beschulmeistert. Ich wäre sicher politischer Antisemit, wenn ich nicht Jude wäre. O Maarrrgrrett – übrigens März 15 als ich sie zuletzt sah, sprach sie immer von “Margret” und schliesslich fragte ich sie, wer das denn sei; meine Seele dachte nicht an dich – und meine Seele hatte ganz recht. Dabei nochmal: das Ding hat Qualitäten, eben die Unbekümmertheit, mit der sie höchst ungerufen zu allen Dingen ihr Sprüchlein abgiebt, ist ja eigentlich etwas Kostbares. Überhaupt ihr Censurenausteilen; sie liebt die guten Zensuren. Alle Religionen haben vortreffliche sittliche Vorschriften, manche sogar herrliche. Jesus von Nazareth kriegt die beste Note; er wird vor der Klasse gelesen und darf seinen Aufsatz ungefähr ganz vorlesen; kleine Fehler verbessert sie ihm stillschweigend, die etwas kindliche Auffassung von allen Dingen korrigiert sie sanft durch eingestreute Umdeutungen. “Lasset die Kindlein u.s.w.” bedeutet ungefähr, dass der Jugend die Zukunft gehört. Das Kreuz ist schuld an der Grausamkeit der heutigen Menschheit, es wird durch den Strahlenkranz ersetzt. Dazwischen wieder wirklich Richtiges und hier und da, aber sehr selten, sogar etwas Leuchtendes. Ich habe ihr so geschrieben, wie ich vorhatte und ihr direkt den Unesma = Verlag genannt, den einzigen der mir einfiel, es giebt aber noch mehr. Sie wird sehr zufrieden sein mit meinem Brief. Ich habe meine Wut an dich ausgetobt, so dass für sie der gute Wille ihr ein bischen zu helfen frei wurde. Eugen ist doch seinen beiden Eltern gegenüber ein Wunder vom Himmel. Aber schliesslich jeder Mensch. Seine Seele erbt keiner. Sie kommt wirklich “von oben”.

Gertrud Bäumer schreibt in der Heimatchronik zum 6.IV. nur: “Der Tod des Philosophen Hermann Cohen am Ende eines zeitlich und geistig vollendeten Lebens deutet auf den Anteil des Idealismus an der grossen Prüfung dieser Jahre, den er, als Haupt der neukantischen Bewegung, mit hat erhalten und befestigen helfen. Klarer als jemals ist uns, wie jeder Beitrag geistiger Kraft in diesen Jahren mitgekämpft und mitgesiegt hat. Wenn das nur die Zukunft nicht vergisst über dem äusserlisch Greifbaren.” Dies ist der erste Nachruf, den ich ihm noch selbst zu lesen gewünscht hätte.

5.5.[18]

Und prompt kam der zweite, kaum dass ich dies geschrieben hatte. D.h. den hätte er nicht selbst lesen dürfen, weil er zu wütend auf ihn war, wegen des Sätzchens über das Judentum in dem Kulturbuch von kurz vor dem Krieg. Aber gut ist dieser Aufsatz, ausserordentlich gut, – fast schön. Schick ihn, wie alle solche Beilagen weiter nach Kassel. Was er nicht weiss, ist dies, dass es einen “letzten Cohen” gegeben hat, und grade den habe ich gekannt. Das Frankfurter Blatt vertritt die orthodoxe Gruppe im Zionismus oder wenn man will den Zionismus in der Orthodoxie.

Noch zu Eugens Mutter. Am Naheliegendsten geht sie grade vorbei. Die ganzen wirklichen antiken Mutter= und Weibkulte, Astarte, Kybele u.s.w. und vor allem – die Madonna vergisst sie. Der wirkliche Katholizismus hat eigentlich ihre Dreieinigkeit: Gottvater – Gottesmutter – den Sohn und alle Heiligen. Aber grade das habe ich ihr lieber nicht geschrieben; es hätte sie zu misstrauisch gegen mich gemacht. – Für das katholische Bewusstsein ist ja Christus weniger der Gekreuzigte als der Erste aller Heiligen. (Das steht sehr gut auch im Santo, in der Versammlung in Rom). Überhaupt ist ja die Erneuerung des Protestantismus um 1800 (Entwickungsbegriff, Leben Jesu) ohne es zu wissen eine Wiederannäherung an den Katholizismus. – Burfelde? den habe ich persönlich immer respektiert, auch grade nach dem was jetzt von ihm in den Zeitungen stand, habe auch grade letzthin an Rudi so darüber geschrieben – er fragte mich, ob es “der Rosenstocksche” wäre. Hoffentlich gerät Eugen nun nicht aus lauter “Buss und Reu” wieder auf die Gegenseite; nach dem was du mir über seinen Flandern = Enthusiasmus erzählst, fürchtete ich schon, dass er sich jetzt von dem Ludendorfisch rasselnden Säbel imponieren lässt wie vorher von dem unabhängigen Palmzweig. Und er dürfte doch weder an den Säbel noch an den Palmzweig glauben, sondern allein an das – Schwert. –  – : [Zeichnung Kreuz].

Liebe, ich werde nicht ruhig über dem, was du von der “Gegenwart deines Herzens” sagst. So kann es nicht sein. Für Eugen schon; da müsste ich mich hinein schicken. Aber für mich nicht; denn für Eugen darf es dir gegenüber kein “sich hinein schicken” geben. Du kannst deine Gegenwart nicht verteilen, sowenig wie dein Herz. Ich muss, wenn du zu mir kommst wissen dass es Eugens Gritli ist die zu mir kommt.

Weisst du, wer hier bei mir Gredas Rolle spielt und mich mit der aufzieht? Die grosse Ebene. Sie hat jetzt ihren Frühling den Berg heraufgeschoben bis dicht vor meinen Unterstand. Da drängen sich nun die vielen komischen Blumen an mich heran, die alle nach dir heissen und doch die Frechheit haben, ausserdem noch ganz anders zu heissen.

Guten Morgen, liebe Margrit – liebes Gänseblümchen

– ach nein, sondern liebes Gritli

– Dein Franz.

7.V.[18]

Liebes Gritli, gestern war die Post ohne dich – du warst in Freiburg vielleicht, und ich warte nun statt der gewohnten zwei vier Tage auf deinen Besuch. Statt dessen kam der “Israelit” und klärte mich über meine Herkunft und sonstige Person aus. Die “Jeschiwo”, aus welcher ich also herkomme, das sind die Religionsschulen der Ostjuden, und nun weisst du, was für einer ich bin. Der gute Seminarlehrer, der das Referat geschrieben hat, hat natürlich von der Tendenz – Negermission im wilden Berliner Westen – nichts gemerkt, sondern bezieht alles auf seine gezähmten Haustiere. Von dem “Schulfonds von 10 Millionen Mark (!)” höre ich leider schon 14 Tage lang nichts mehr und fürchte, da die Sache ja im Augenblick doch nur an dem einen Haar Bradt hängt, das ist gerissen. Mutter lässt mich ruhig zappeln, obwohl es für sie ein Telefongespräch mit Berlin bedeutete, so wüsste sie Bescheid und ich auch. Am 15. hat in Berlin eine wichtige Sitzung stattgefunden – ich weiss heute noch nichts vom Ergebnis. Ich zerreisse mich vor Ärger und Ungeduld. Soll ich denn das? Es ist ja schon mehr Eigensinn als etwas andres. Im Grunde darf es mir ganz gleichgültig sein, muss es sogar. Die Tat ist nicht das Beste, nur das Anspruchsvollste.

Das Beste ist andres. Z.B. und z.B. und z.B. – Sag, bekommst du eigentlich die Christl. Welt irgendwo zu sehn? das ist auch ein guter Einhelfer ins Protestantische. Es lohnt die 3 M vierteljährlich. Oder ich könnte auch mein Exemplar an dir vorbei nachhause schicken, schon als Ausgleich für die vielen jüdischen Einlagen der letzten Zeit. Es lohnt natürlich nicht alles in jeder Nummer zu lesen, aber doch jedesmal etwas. Ich lege dir mal eine – durchschnittlich gute – bei.

Ich bin weg von Gotthelfs Uli dem Knecht. Ihn mit Homer in einem Atem zu nennen, ist freilich stark und zeigt wie die Leute den Homer lesen. Er ist nur Genre, aber da unübertrefflich und neben Goethe dürfte man ihn nennen; es ist keine Zeile drin blass geworden, sondern alles ganz blank, wie eben geschrieben. Aber die Menschen darin bleiben ausserhalb, sie klettern nicht in einen hinein, das ist eben das Genrehafte. Nur das Tragische, auf deutsch: nur das Leiden und Mitleiden überwindet das ewige blosse Ausserhalb, bei dem sich das Auge gern zufrieden giebt. Und ins Tragische wachsen diese Menschen nicht. Wie es Achill zu mute ist weiss ich, bei Uli sehe ichs nur. Und wissen ist mehr als sehen.

8.V.[18]

Liebes Gritli, neulich schriebst du mal, Greda machte ihr Kind fromm ohne es selbst zu sein. Weisst du, dass das früher eine ganz allgemeine Erziehungsregel gewesen sein muss? Bei Greda ist es ja sicher etwas andres, schon durch den Mann. Aber z.B. ich bin von meinen Eltern zu Abendgebet (gereimt natürlich und allgemein menschlich, also wohl fröbelsch oder so) angehalten worden und habe es auch gern getan. Die Motive sind mir heute nicht klar, ob bloss wegen des “rührenden Bildes” oder zur Erziehungs-erleichterung oder aus so einer Art Anwendung des “biogenetischen Grundgesetzes” von der Wiederholung der Gattungsstufen in der Einzelentwicklung – non so. Es giebt ja überhaupt nichts Unbegreiflicheres als die eigene “Erziehung” und was daraus geworden ist. Die entscheidenden Erfahrungen machen Kinder doch auch schon im frühsten Alter grade dann wenn die Eltern gar nicht daran denken. Ich glaube für Echtes und Unechtes hat man nie so ein scharfes totsicheres Unterschei-dungsvermögen wie damals. Ich bin glaube ich nie auf die Idee gekommen, das was ich bei Onkel Adam sah und die übliche Assistenz meiner Eltern bei meinem Abendgebet auch nur für entfernt verwandte Dinge zu halten. Dabei fällt mir übrigens ein: du hattest meinen Brief an Sommers mitentführt. Hoffentlich nicht, um ihn Eugen zu zeigen? Das täte mir leid; er ist ja trotz des scheinbaren Eingehens auf Persönliches, in Wirklichkeit doch ganz exoterisch [?]; ich hatte ihn gradezu mit auch zur Beruhigung meiner Eltern geschrieben und dass die ihn gelegentlich entsetzten Familiengliedern x) vorzeigen könnten. Das ist Eugen doch nicht!

Mutter kriegt jetzt nach Tante Lenes Abgang die Rostocker Lene, Richards Frau, zudiktiert, ein norddeutsch = protestantisches Greuel, die sich wahrscheinlich noch einzureden versuchen wird, sie täte Mutter gut, wenn sie bei ihr wohnte. Mutter hat nicht die Kraft sich zu wehren und ich, falls ich jetzt einen Tag heimkommen sollte, finde diese mecklenborgesche Vogelscheuche da. Falls. Allerdings wenn ich dann auf dem Rückweg nochmal vorbeikomme, Ediths Kind. Und dich keinen”falls”. Böses Gritli!

Dein Franz.

  1. x) Otto und Emmy, und so

9.V.[18]

Liebes Gritli, gestern Abend brachte die Post eine Menge, von Hause, von Hans, von dir drei Briefe und – von Eugen wenigstens den vorausgeworfenen Schatten eines Briefs an mich, der nun wohl selber in einem Couvert an dich gelegen hat. Ich habe die Nacht lange wach gelegen, vor traurigen und vor frohen Gedanken. Die frohen weil mir Mutter einen Brief von Bradt schickte, aus dem hervorgeht, dass die Sache noch läuft und offenbar gut; ich hatte zu früh an diesem Dickkopf gezweifelt, irgendwas wird sicher herauskommen, und “irgendwas” ist ja schon so viel mehr als ich vor einem Jahr zu hoffen gewagt hätte. Daneben wird ja auch der Lehrplan unvermerkt weiterbohren. Trotzdem er “utopisch” ist, muss er ja den Schulmeistern in den Ohren klingen. Ich wollte gern mal sehen, ob er wirklich utopisch ist. Man reiche mir 10 Judenjungen und eine Schulbank. Voraussetzung freilich dass sich Loyddorf und Ludengeorge vertragen haben. Die andern Gedanken gingen um Eugen. Es wird doch sehr schlimm für ihn sein, wenn es kommt. Grade weil es in so einer allgemeinen Zerstörung geschieht. Ich wollte jedenfalls, es ginge nicht rasch und Vater und Sohn könnten sich noch einmal auf einander einstellen. Mit der Mutter wird das in Wahrheit nie mehr möglich sein, denn ihr ist das Herz mit den Wurzeln aus der Erde gerissen; deshalb war ich voriges Jahr so entsetzt, als ich von der sichtbar eingetretenen Katastrophe hörte, und wusste nichts zu machen als das täppische Eila der Bitte um sein Du. Aber bei dem Vater ists so ganz anders; der ist kein denaturierter Spiritus. Mit der Mutter wird er wohl reden können, aber sich sehen kann er nur noch mit dem Vater. – Grade im Letzten verlässt man nicht Vater und Mutter; es ist falsch dies Wort darauf zu beziehen; es geht wirklich nur, worauf es geht: der Mann wird Vater und Mutter verlassen und dem Weibe anhangen. Es ist der Schritt zum eigenen Haus, zum eigenen Erdenschicksal, die Unruhe im Uhrwerk der Weltgeschichte, – aber nicht die Geburt der eigenen Seele. Für die gilt grade umgekehrt ein Wort, das ich grade gestern wieder fand nachdem ich es schon mehrmals wieder vergessen hatte. Es steht im 27.Psalm und sagt genau umgekehrt: Denn Vater und Mutter haben mich verlassen – Gott liest mich auf. Für Seele sagen die Psalmen manchmal einfach: Einsame (z.B. 22,21). Hier sieht man, wie sie einsam wird. Wer Vater und Mutter verlässt, den liest nicht Gott auf, sondern der geht zum Weib und in die Welt. Aber der Verlassene, der ist einsam und ihn liest Gott auf. Nicht eigene Kraft des Widersprechens, sondern das Versagen der fremden Kräfte die ihn einmal hielten, schafft im Menschen die “Einsame”. und auch Eugen wird nun spüren, dass unter der “Notwende” seines Schicksals, dem Verlassenhaben, in einer viel tieferen Schicht das Verlassenwordensein liegt. Unter jenes drückt schon das Leben das Siegel, unter dieses erst der Tod. Denn das sichtbare Bild von jenem ist die Todbereitschaft der Kinder, mit der doch erst das eigne Leben beginnt, aber das Bild zu dem andern ist der wirkliche Tod der Eltern vor den Kindern.

10.V.[18]

Liebes Gritli, inzwischen hat sich also Warschau entschieden, was für mich ja etwas eine Vertreibung aus dem Paradise bedeutet. Von Warschau selbst verspreche ich mir allerdings allerlei, ich meine von der Stadt. – Ich lege dir den, sehr guten, Artikel deines neusten Korrespondenten bei. In den Verdacht der Geistigkeit kommt man ja als Frauensperson sehr leicht, man braucht bloss stille zu halten und nichts zu antworten. Mir schreibt er, dass er mit Eugen ins Schreiben gekommen ist. Aber Eugen scheint wieder bös zu fechten. Mein Schreiben mit Hans kommt ins Breite, ohne mich wirklich zu interessieren. Äusserlich ist eine gewisse Parallele zum Anfang des 1916er Briefbuchs. Ich musste ihn nämlich auch zuerst einmal von der Vorstellung abbringen, dass er als gewesener Jude eine Mittelstellung einnimmt. Im übrigen ist aber die theoretische Übereinstimmung von vorneherein überraschend, wo wir doch gar keine Berührung hatten; nur macht mich das in diesem Fall weder warm noch kalt – ich weiss nicht woran es liegt.

Grad neulich merkte ich, dass du den David Copperfield noch nicht kennst, und nun liest du ihn schon. Mir hat ihn Mutter wohl etwa als Zwölfjährigem vorgelesen und ein paar Jahre später las ich ihn nochmal. Es ist wohl, wenn ich jetzt überlege, von grösstem Einfluss auf mich gewesen; mir ist wohl daran der Sinn für das eigene Schicksal geweckt, den ich sehr früh und sehr stark hatte, so stark, dass ich ihn eigentlich später wieder zeitweise verlieren musste, um leben zu können. Ich wäre selbst jetzt weit weniger fähig, meine Selbstbiographie zu schreiben, als etwa mit 15 oder 16 Jahren.

Wieder die Kombination H.U. – Greda – , ich kann sie mir nicht vorstellen. Greda kann doch diesen Missbrauch des Verstandes höchstens treiben, H.U. ist darauf angewiesen, er hat nichts andres, ist nichts andres.

“Der preussische Staat” ist vielleicht bei mir, es schwebt mir so etwas vor. Auch Hans E. hatte ihn mit.

Du schreibst vom Marienaltar in Saig am 1.Mai. Was Mai ist, habe ich auch erst im Süden erfahren. Oder wenigstens einen ganz andern Mai. Wenn in Freiburg am Münster jeden Abend die Maiandacht war und das ganze Münster voller Frauen, nur Frauen und diese ganz eigenen Lieder die man sonst das ganze Jahr nie hörte. Noch mehr beinah, als ich an einem ersten Mai von Florenz nach Bologna über die Alpen ging. Oben auf der Kammhöhe war am Spätnachmittag ein starkes Gewitter gewesen und nun ging ich in den Abend hinein auf einer der Rippen die von dem grossen Rückrat zu Tale ziehen zwischen zwei tiefeingeschnittenen Tälern, mit weitem Blick in das klargeregnete Land. Ein kleiner Junge trabte neben mir her auf der Chaussee und wie es dunkel wurde fingen im Tal die Glocken an, ich fragte ihn was wäre, da sagte er etwas von Madonna di Maggio – die Maimadonna. Im Protestantismus ist auch der Mai darauf angewiesen, dass Menschen kommen die der Sinn in die weite weite Welt hinaus treibt und denen die Natur so herrlich leuchtet – und hat keine Madonna für sich.

Ich lege dir etwas für Eugen bei, eine kleine Revanche für sein Bethmann-geschenk im Dezember. Die “wir” vom Generalstab mit der kühlen Scheu vor dem grossen Wort, aus dem sie doch ihr Daseinsrecht haben, sind ja seine glücklich = unglückliche Liebe, wie der Idealpolitiker meine. Gieb dus ihm, ich weiss ja nicht, was sein wird, wenn dieser Brief ankommt, also giebs ihm wenn es Zeit ist. An wen es gerichtet ist, weiss ich nicht; ich habe es von Hans; ich denke nicht dass er direkt an F. herangetreten ist, wohl durch irgend einen Dritten. Die Abhandlung ist natürlich “Cannä u. Gorlice”.

– “alle Tage ein bischen –

Dein Franz.

11., 12., 13.V.[18]

Liebes Gritli, nun muss ich dich mir wieder “pflegend” vorstellen und darf noch nicht einmal dazu lachen; denn so hin und hergerissen werden und noch den Berliner Schatten im Hintergrund – was mag wohl heute sein es sind ja schon wieder volle 7 Tage herum seit deinem müden Freiburger Gutenachtbriefchen, und wo magst du heute sein? Ich schreibe immer nach Säckingen; irgendwann wird es dich ja erreichen. Bald sind wir uns wenigstens brieflich so nah, dass die Zeit nicht mehr als ein so starrer Klotz zwischen uns steht, und Anfang Juli bin ich 1 oder 2 Tage in Kassel. Aber was mag bis dahin sein!

Ich geniesse hier noch die letzten Tage meines dienstlosen Lebens; denn so wird es ja auch nach Warschau nicht mehr wiederkommen; ausser wenn ich in Warschau nicht bestehe; dann winkt mir wieder ein friedliches Dasein wie jetzt. – Der Hansbriefwechsel ist seit gestern für mich lebendig geworden, wenigstens intellektuell lebendig. Er hat mich durch ein Missverständnis zu einer Formulierung geschoben, die mir soviel Ungeordnetes und Widerspruchsvolles ordnet und klärt wie lange nichts seit dem Einfall, aus dem “Summa” entstand. Das heisst, das weiss ich im voraus; versucht habe ichs noch nicht; wenn ich sowas gefunden habe, muss ich mich zunächst erst mal ordentlich vorfreuen, ehe ich weiterdenken kann. Es ist das Wesen der beiden “tümer” auf eine gradezu mathematisch klare und mathematisch fruchtbare Formel gebracht. Freilich ists vorläufig noch ganz “an Hans” formuliert; das ist der Fehler des Denkens in Dialogen, dass wenn mal etwas “herauskommt”, es eben nicht wirklich heraus kommt, sondern noch im Zauberkreis der Unterredung festgebannt bleibt.

12.V.[18]

Heut bin ich auch müde, weil ich die Nacht eine endlose Sauferei mitmachen musste. Es graut mir in dieser Beziehung auch vor Warschau, ich sitze bei so was immer wie ein Häufchen Unglück. Wäre ich “Antigermane”, so würde ichs darauf zurückführen, aber es wird wohl persönlicher sein. Heut verschlinge ich in meine Müdigkeit hinein ein herrliches Buch, das ganz trunken = betrunken ist und infolgedessen nichts erfindet aber alle Geheimnisse seines Herzens ausschwatzt, eines germanischen Rasseherzens. Eugen kennt es wohl schwerlich, sonst hätte er mir im Winter nicht ein so kümmerliches Halbfabrikat wie das Buch des Österreichers “über dasselbe Thema” zudiktiert. Ich will es ihm doch schicken, ins Ungewisse hinein, wo und wie es ihn trifft. Es steigt mir vieles wieder auf was ich damals durch Gredas Brief über das “alte Testament” merkte. Und noch viel mehr. Es ist ein Kriegsbuch vor dem Kriege. Als auf ein solches hatte mich Rudi drauf gehetzt. Es ist das Deutschland, das durch diesen Krieg ins Unrecht gesetzt und zur Fronde gezwungen wird; als Fronde ja unter Umständen mächtiger als die Steuerleute. Für Eugen wirds, wenn er es wirklich noch nicht kennt, ein grosses Ereignis sein. Sogar die beiden Reichstrikoloren kommen vor, in genau ihm entgegengesetzter Tendenz: die Fahne der Zukunft wird wehen über – Dänemark Holland Schweiz. Das ist denen ihr “Reichsgedanke”. Da hat natürlich auch Schwarz = rot = gold nichts andres bedeutet als Wald = Wein = Weizen. –

Einen schönen Cohenartikel schicke ich dir.

13.V.[18]

Von London waren nun Briefe da, von Ännchen und den drei Kindern einzeln. Mutter hat einen Satz in Winnies Brief, wo sie sagt, ihre Gefühle wären natürlich bei ihrem Land, als eine Anspielung und Absage verstanden und wollte schon schreiben; ich hoffe sie daran verhindert zu haben. Wenn sie wüsste, wie leicht ich diese Fremdheit nehme, und wie es eine ganz andre ist, die mich bedrückt. Vor allem aber möchte ich natürlich kein, auch noch so “zartes” Eingreifen dritter Hände in dies “schwebende Verfahren”. Lieber als solche Geleimtheit dann selbst ein Auseinanderbrechen.

Alles was jetzt über das dicke Wasser herüberklingt, hat ja etwas Fratzenhaftes; ehe nicht die Grenze sich wieder auftut, kann es keinen reinen Ton geben, auch von mir nicht. Jetzt sehen Briefe starr wie Photografien.

Ich werde so spät hier weggelassen, dass ich wohl keinesfalls mehr über Kassel kommen werde. Dagegen auf der Rückreise habe ich offiziell “einen Tag”, daraus werden inoffiziell zwei oder drei.

Dein Franz.

14.V.[18]

Liebes Gritli, Eugen schickt mir einen Brief an dich, und du meinst du verwechseltest unsre Feldpostnummern. Und ich adressiere dauernd nach Säckingen, wo du wohl sicher nicht bist. Konfusion überall.

Der Hammann kam, etwas Retter in der Not; denn ich hatte nichts zu lesen. Ich hatte ihn sowieso auf dem Programm, vielleicht sogar bestellt. Bestellen ist jetzt ein dunkler Punkt, weil Mutter nicht mehr richtig “funktioniert”. Seit Wochen jammre ich über mangelhafte Versorgung mit Gedrucktem; jedesmal kommt das Echo, sie jammert ebenfalls, dass sie mich nicht genügend damit versorgte – im Schrank liegt der ganze Haufe noch ungelesener Sachen, den du kennst, aber sie schickt mir nichts daraus, ausser einmal. Es ist sehr komisch; im übrigen wächst ihr offenbar das Geschäftliche über den Kopf und das ist nicht komisch. Auch schläft sie nicht; ich hoffe im Stillen auf ein Kataströphchen, sonst giebt es eine Katastrophe; denn von selber schafft sie sich nicht die nötige Ruhe.

Über deiner Schwiegermutter Buch schrieb ich dir ja ex flagranti. Das fidele Hintereinander von Darwinismen und Religionsgeschichte ist sicher frappant, allerdings am meisten für uns, die wir wissen, dass die Mutter hier in aller Harmlosigkeit macht, was der Sohn möchte. Ich nehme ihr ja vor allem übel, dass der “Druckpunkt” nicht genügend dominiert. Schliesslich ist doch das, was die Ärzte so nennen, in allem was wir leisten grade das Enscheidende, müsste es wenigstens sein. Nur was aus dem “Druckpunkt” herauskommt, hat Interesse; alles andre steht ja auch im Konversations-lexikon. Den hat natürlich jeder Mensch für sich. Bei ihr ist ja nicht das Geschlecht überhaupt, sondern eigentlich nur die Mütterlichkeit. Sonst hätte sie auch wohl nicht Astarte und die Jungfrau Maria vergessen. Mittelpunkt ist das Geschlecht freilich, aber wirklich und wörtlich: nur Mittelpunkt, nicht einmal Mitte, geschweige Anfang und Ende. Kind und Greis, Stein und Stern, Sohle und Scheitel, Arbeit und Beschaulichkeit, Müdigkeit und Begeisterung, Schöpfung und Erlösung – das sind alles Pole, zwischen denen der Mittelpunkt eingespannt ist. Kennst du das Märchen, das Aristophanes im platonischen Gastmahl erzählt? da ist die Zwei auch nur Brücke von Eins zu Eins. Wo es anders ist, wo das Geschlecht prätendiert, “das A und das O, der Anfang und das Ende” zu sein”, da – nun da ist eben der Antichrist in Ara coeli eingezogen, mag er sich auch den Reinen Krist nennen. Burtes Wiltfeber ist mit seinem Eingang und Schluss der grosse absichtslose Beweis dafür.

– Dies ist wohl der letzte Brief aus der grossen Entfernung.

Fern und nah –

dein Franz.

[18.V.18]

Liebes Gritli, der Zug schüttert schrecklich, ich will aber doch versuchen zu schreiben. Ob wir uns übermorgen sehen, ist doch sehr zweifelhaft, obwohl nach deinen und Mutters letzten Briefen ja möglich. Eugen schreibt mir in dem Brief glücklicherweise gar nichts von Politik; sie liegt mir auch so fern jetzt; im Grunde doch schon seit Bethmanns Abgang; ich habe mit ihm abgedankt. Es ist blosse “Loyalität” gegen meine Freunde, wenn ich mich noch manchmal interessiere. Aber warum versucht denn Eugen nicht, das Staatsbuch unterzubringen? Soviel schaden kann es ihm auch ohne Pseudonymität nicht, wie es ihm jetzt innerlich schadet. Dass er es überschätzt (indem er es mit einem andern verwechselt, das er noch gar nicht geschrieben hat) ist sicher. Aber das ist ja ganz einerlei. Er soll es doch so wie es ist an Verleger schicken. Es wird ein Schlag ins Wasser, grade das was er wünscht wird es nicht, aber er ist es dann los. Hans hat schon heut mit seinen paar Vossartikeln mehr “Stätte” und mehr “Aufforderung” zum Schreiben als Eugen sie nach Veröffentlichung seines Essay = büchleins haben wird. Aber grade das muss er offenbar mal am eigenen Leibe erfahren, dass man nicht aufhört Litterat zu sein, wenn man auf die Litteraten schimpft und gleichzeitig Litteratur macht. Zum behausten Politiker gehört ein sacrificium des unbehausten Intellects, und das bringt er in den Essays nirgends (kann man es überhaupt in Essays bringen??). Er müsste zugleich dümmer und überlegener sein als er ist. Das kann man sich aber nicht geben. Ehe er nicht Zeitungsartikel schreibt, wegen deren er sich vor dir, vor mir, vor x, y, und z ein bischen schämt, richtig schämt – eher ist es nichts, mit seiner Politik. Das Staatsbüchlein ist die Arbeit eines Gelehrten. Ein junger Gelehrter ist auch ein Gelehrter. Jugend und Geist machen den Gelehrten noch lange nicht zum Politiker. – Jenen so wenig wie umgekehrt. Aber weil er das erst glauben wird, wenn ers erfahren hat, darum: raus mit der Scharteke an die Frühlingsluft!

Das Schreiben, wie das Lesen wohl auch, ist eine Unmöglichkeit bei diesem Geratter. Vielleicht treffe ich dich doch in Kassel? Bis dieser Brief bei dir ist, ist ja wie nein schon wieder Vergangenheit. Such is life.

18.V.18                       Dein Franz.

[19.5.18]

Lieber Eugen, von deinem Hansbriefwechsel schreibt mir auch Hans, und gleichzeitig geht es auch zwischen uns Brief auf Brief. Allerdings – ohn Verlangen, meinerseits jedenfalls ganz “ohn”; und dass es seinerseits mehr als die allgemeine feldgraue Heimatskaterstimmung ist, die ihm mein Schreiben notwendig macht, glaube ich auch nicht, aber schliesslich gehören ja derartige mehr hausärztliche Betätigungen auch zur Freundschaft. Intelellektuell, “rein” intellektuell, lohnt es sich ja natürlich auch für mich; aber darauf würde ich nicht kappig sein. Im Winter 13/14 war es mir Bedürfnis; damals schrieben wir uns zu dreien (Rudi noch) über das, worüber ihr euch jetzt schreibt. Jetzt verhört er mich über das Judentum und ich stehe peinlich berührt Antwort. “Verhört” ist nicht richtig – das würde ich wohl Ernst nehmen; aber eigentlich interviewt er mich. In 13/14 hättest du auch ein rein geistiges Verhältnis zum Kirchenbegriff nicht bei ihm finden können; dass dus jetzt kannst, ist schon ein Zeichen, dass die damalige Epoche des absoluten Phil – ipsismus (in beiderlei Bedeutung) im Krieg zergangen ist. Vor der Illusion, dass er dich schon verstanden hätte, habe ich ihn neulich scharf gewarnt; er ist ja unheimlich fix dabei, sich ein Bildnis zu machen. Von der Zeitrechnung habe ich ihm erzählt, offenbar aber nicht genug, sonst könnte er sie nicht hegelianisch nennen; es ist ja die soviel ich weiss erste wirkliche Ausschaltung des Entwicklungsgedankens seit seiner Entdeckung, also grade die erste unhegelsche Geschichtsbetrachtung seit Herder. Dein Vorgänger ist Voltaire: du exemplifizierst wieder mit der Geschichte. – Von einer Rolle der Offenbarung bei einem Zusammenbruch seines Philosophierens – weiss ich gar nichts. Er sprach von einem mystischen Erlebnis aus der philipsistischen Zeit, Anfang 1912 wohl; aber dass da die Offenbarung irgend hineingebunden gewesen wäre, hatte ich nicht gewusst. Wir waren eben sehr weit auseinander, und sind es noch.

Was du von unsrer Stellung zu den “Dogmen” schreibst, ist ja ganz meine Ansicht auch. Eben deshalb nenne ich das was wir machen,  Patristik. Und daher meine These über die Philosophie (“Parmenides (!!) bis Hegel oder wenn es denn sein muss “Nietzsche”). Denn wie könnten wir die geistige Schulleistung eines solchen sacrificii intellectus verantworten, wenn wir nicht ganz gewiss (also objektiv gewiss, d.h. durch die Geschichte gewiss) sein dürften, dass vom ungeopferten intellectus (mit einem Fremdwort: dass von der reinen Vernunft) nichts, aber auch gar nichts mehr zu erwarten ist. Dann dürfenwir opfernd denken – und weil wirs dürfen, müssen wirs.

Dass er sich bei den Ketzern inscribiert, ist vielleicht bloss ein Rest. 1913 hat er sich ja deswegen nicht kirchlich trauen lassen. Ich halte grade dies für seinen jetzt wackligen Zahn, den man ihm ausziehen müsste. Er kann sich nicht als Einzelner gegen die Welttatsache setzen, dass es keine Ketzer mehr geben kann seitdem es eine Ketzerkirche giebt, also seit 1517. Insoweit er Wert darauf legt zu ketzern, ist er eben einfach Protestant, so wie er darin dass er die Kirche wenigstens als geistiges Problem gelten lässt, Katholik ist – beides unbeschadet dass er als Mensch seiner Zeit, als vorwärtsgehender Denker weder Prot. noch Kath. sondern eben Christ seiner Zeit, Johanneiker ist. Das Alte vergeht ja nicht. Innerhalb der Offenbarung ist alles, was ist, unsterblich. Den Tod giebt es nur ausserhalb der Offenbarung; dort giebt es nur die Unsterblichkeit des Natürlichen, das Immerwiederkehren in neuen Gestalten, neuen Zusammensetzungen. Aber in der Offenbarung ist die Gestalt selbst unsterblich. Die Antike ist ihre jeweils zeitgemässe Renaissance; wer sie selber sehen will – ein müssiges Vergnügen! – muss Philologe werden, ad fontes gehn. Wer aber den Papst sehen will, muss nach Rom reisen, zu Benedict dem Jetzigen, nicht zu Clemens oder Damian den ersten.

Also dies der Grund, weshalb ich Hansens Ketzertum nicht ernst nehme, sondern nur als einen verfehlten Ausdrucksversuch dafür, dass er das Gefühl hat noch kein Christ zu sein. Da dieses “noch” zu denken sein ungebeugter Nacken verweigert, so deutet er das Gefühl in eine Endgültigkeit um, und nennt sich Ketzer. Und wenn man nicht wüsste, dass es keine Ketzer mehr giebt, so würde man darauf reinfallen können. So aber nicht.

Rudi: San. komp. 210 (210), Dt. Fp. 1005. – Er ist Professor geworden! – Über die Unpersönlichkeit habe ich Hans wohl gleichzeitig mit dir Sottisen gesagt! (Wie immer). –

Dein Franz.

[2I.? V.18]

Liebes leibhaftiges Gritli, – denn das bist du nun wieder; ich habe gar nicht gewusst, wie sehr ich mich nach dir gesehnt habe. Das Schreiben schafft ja eine eigene Welt mit eigenen Grenzen, eigener Bescheidung. Im wirklichen Beieinander sinken die Grenzen, und unbescheiden steigt die Flut des Glücklich= und Unglücklichseins und überflutet das Festland des Herzens. Du – Mutter will: “Schwester”, aber du bist es mir so wenig wie das was die Leute im Februar wollten: “Braut”. Ich müsste schon mit den Liebenden im Hohen Lied sagen: “du meine Schwester Braut” – dass ein Name den andern verneint und das Herz, zwischen beiden in der Schwebe, nur weiss dass es liebt, über alles Was und Wie, – namenlos.

Geliebtes Gritli – in frischer Freude und in frischem Leid, aber in Liebe die grösser ist als beide ————–

Dein Franz.

22.V.[18]

Liebes Gritli, dein Berliner Pfingstbrief – ja es war doch schön, obwohl wir uns nicht viel gesprochen haben durch den Hunnensturm  des Attila = Hans E., dieser Gottesgeissel des Gedankens um 1/2  10 vormittags! so dass wir schliesslich doch auf “Gruss und Winken” verwiesen waren.

In der Bahn hast du ja nun das mit dem Brief gehört. Es war  ein komisches Intermezzo in einer scheusslichen Geschichte, mit der ich dich im einzelnen verschont habe, nur einmal meine ich habe ich dir davon geschrieben. Dass es auch in dem einen Brief  von M. stand den ich dir gab wusste ich nicht mehr, ich habe es nun wieder gelesen. Der Brief vom 18. war ganz voll davon. Mutter u. Vater haben den letzten Tag und die letzte Nacht fast nur davon gesprochen! Dann ging es durch die 8 Tage die ich in Kassel war. Ich bin auch da ganz machtlos gewesen. Meine Mutter ist ein Kind von 18 Jahren geblieben; ihre Wünsche wie ihre Sorgen sind nie erwachsen geworden. Dieses starre und unreife Misstrauen durfte ich auch nicht zerstreuen durch das einzige wodurch es hätte zerstreut werden können, wenn es nicht starr und unreif gewesen wäre: durch rücksichtlose Offenheit bis zur Indiskretion. Bei Trudchen ging das; ich habe ihr da ich meine Briefe nicht mehr hatte deine gezeigt oder vielmehr sie mit ihr gelesen (mit Ausnahme derer wo von Eugen drin stand). Trudchen hat eben die Kraft, glauben zu können. Mutter, Vaters Frau, hat kein Fünkchen von dieser Kraft. Dann kam das Leipziger Telefongespräch. Ich merkte dass sie den Brief nicht bloss aufgemacht sondern auch gelesen hatte und sagte ihr also, kopfüber und auch weil ich wusste, dass jeder Brief von dir ihr Misstrauen enttäuschen musste (obwohl ich ihr wegen dieses Misstrauens nie einen zeigen gekonnt hätte, auch diesen nicht), also ich sagte ihr, sie möchte ihn mir vorlesen. Edith u. Hanna waren gar dabei! Ich dachte, nun wäre sie wenigstensberuhigt. Aber Trudchen sagte mir jetzt, sie hätte ihr bloss gesagt, wie sies ihr erzählt hätte: “Franz hat Glück gehabt” (nämlich dass es grade zufällig ein “harmloser” Brief gewesen sei). So wie sie auch Trudchen, als die ihr sagte, sie versichre sie, sie könne sich beruhigen sie habe von mir die Briefe gezeigt bekommen, erwiderte: “ja, vorgelesen mit Auslassungen, nichtwahr? das kann man natürlich”. Also du siehst, es ist ganz hoffnungslos; es ist überdies dadurch dass es ihre u. Vaters letzte gemeinsame Sorge war, für sie kanonisiert. Hoffentlich quält sie nicht dich damit. Es hülfe nichts, wenn du versuchtest mit ihr zu reden; du müsstest einen andren Menschen  aus ihr machen; ich will es nicht verreden, dass du das nicht könntest, – das soll man nie; es giebt nichts Unmögliches – aber keinesfalls könntest dus grade hier wo du “pro domo” zu sprechen schienest. Es ist ja nur ein Symptom ihrer Lebensunreife überhaupt. Sie hat dich dabei in ihrer Weise wirklich lieb, obwohl sie nur wenig von dir kennt (und glaubt es wäre alles); das verstehe ich ganz gut; ich habe auch schon diese ihr  zugängliche “Schicht” deines Wesens lieb aber freilich -. Jetzt  hatte sie wirkliche Sehnsucht nach dir, eben nach ihrem Gritli. Das muss dir wohl genügen – . Ich habe dir ungern davon geschrieben, wohl aus ähnlichem Gefühl heraus wie auch du mir von Trudchens erstem Brief nichts geschrieben hattest. Auch jetzt ist es mir schwer gefallen, aber es ist wohl besser, du weisst was ich weiss.

O diese Unbeteiligten! Ich musste jeden Morgen lachen wenn unter den Margeriten vor meinem Unterstand der Klatschmohn, der später mit seiner Morgentoilette fertig wird, als die Margeriten, sein Rot = rot zu schreien anfing. –

Aber du siehst, so ganz leicht wie du in deinem Brief  meinst, ist Kassel im Gegensatz zu Jena gar nicht für dich. Ja  wenn du es als Aufgabe nehmen könntest, sogar viel schwerer, nämlich unlösbar. Aber nimms nicht als Aufgabe. Tu ihr gut, mit dem was ihr von dir spürbar ist: mit deinen weichen Händen und deinem geöffneten Ohr. Sie ist gewiss bloss ein grosses Kind – aber Kinder hat man doch lieb; und das Kaputte an ihr will gestreichelt sein.

Ob du, ob ich, ob irgend jemand dem Herzen trauen kann?  Gritli, wenn ich das wüsste oder du oder irgend jemand es wüsste,    so wären wir nicht ich und du und irgend jemand, – keine Menschen. Das Leben ist eine Hochtour, einen schmalen Sattel in die Höhe, rechts und links und hinter sich Tiefe. Man selber klettert, nicht als erster vielleicht; hie und da sind Griffe ins Gestein eingelassen – aber ob sie halten wenn ich greife? ein Seil ist um mich geschlungen, der Führer der es hält ist zuverlässig, aber ob das Seil hält? Aber: ascendere necesse est, vivere (selbst aeterne vivere) non.

Dein Franz.

23.V.[18]

Liebes Gritli, ich habe einen Kater von meinem gestrigen Brief an dich; es ist zu ekelhaft das alles; ich hatte manchmal darum in den letzten Wochen Angst für dich, wenn du nach Kassel kämest. Nun geht vielleicht doch alles besser als ich fürchtete.

Dein Wort, ob du deinem Herzen trauen kannst, hat mich noch weiter verfolgt, grade weil es von dir kam. Ich habe ja erst von dir, und zuvor von Eugen, dieses Vertrauen wieder gelernt. Ich bin freilich noch ein A=B=C = Schütze. Was soll ich tun, wenn die Lehrerin selbst unsicher wird?! Oder wird sie es gar nicht? ich sehe eben nochmal in deinen Brief hinein und merke, dass du selber schon die Lösung findest, in dem Spruch von dem neuen, dem fleischernen Herzen. Ja, ein Herz zu haben, dem man trauen kann, wäre das Grösste. Aber dies neue Herz gewinnt man nicht, indem man dem alten misstraut – eben das war mein früherer Irrtum – , sondern indem man ihm vertraut, auch solange es noch steinern ist. Nur unter dieser Sonne des Vertrauens und den Tränen des immer wieder getäuschten Vertrauens muss endlich einmal das steinerne zerschmelzen und das fleischerne zu schlagen anfangen. Unter dem starren grauen sonnen= wie regenlosen Himmel des Misstrauens bleibt Stein Stein.

Liebes Gritli – –

Es war mir sonderbar, dass du den Protestantismus grade deswegen nicht Frauensache findest, weil heute fast alle Frauen Einzelwesen sind. Du hast sicher recht. Sonderbar ist es nur, weil der Protestantismus den Männern doch grade als das Christentum der “Einzelwesen” gilt. Ich weiss mir das nicht zu reimen. Ob es mit der Abschaffung des Mariendienstes  zusammenhängt? Das ist ja sicher der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Kirchen. Auch das ist ja ein Stück Sichtbarkeit der visibilis, dass hier die göttliche Frau und infolgedessen Christus der göttliche Mann ist (wozu dann das, was ich dir neulich aus dem Santo anführte, gut stimmt: dass die kath. Kirche den lebendenChristus hat, die protestantische den toten, den dogmatisierten). Ein Mann und eine Frau, die höchste Männlichkeit der Tat und des Leidens, die höchste Weiblichkeit des Mutterwerdens, und beides vergöttlicht durch die Befreiung von der Sklaverei des Geschlechts, in den beiden Paradoxen der jungfräulichen Mutter und der keuschen Geistigkeit. Diese volle Sichtbarkeit giebt dem weiblichen “Einzelwesen” einen greifbaren Gegenstand des Gefühls. Im Protestantismus, wo Christus “solus” und infolgedessen “kein Mensch” ist, sondern eigentlich eine “Idee”, hat nur das Gefühl des männlichen“Einzelwesens”, das ja von Haus aus auf “Ideen” einschnappt, unmittelbaren Zugang. Für die Frau gilt hier das berühmte Miltonsche He for God only, she for God in him – also genau wie du sagst: nur als Hausglied kann sie Protestantin sein. – So ungefähr. Sehr klar ausgedrückt ist es nicht. “Sei darum nicht böse”

Deinem Franz.

[?27.V.18]

Liebes Gritli,  ein paar Worte doch noch vor dem Schlafengehn – es ist mir un = heimlich, dir drei Tage nicht geschrieben zu haben.

Aus einem Kolportageheftchen mit Geschichten vom Baalschem, mitten in einer ziemlich massiven Wundergeschichte: “… denn er machte aus allem Verborgenen ein Offenbares und aus allem Offenbaren ein Verborgenes …” Das ist die Dedektiv oder Indianergeschichtenlitteratur dieser Menschen – denn mit der muss man es zusam-menstellen. Ich wusste ja, was ich jetzt sehe, aber ich stehe doch starr davor, die Wirklichkeit ist doch immer wieder etwas Ungeheures. Glaub nichts, was du von allem hörst und was ich selber bisher mindestens als “auch vorhanden” annahm – es giebt nichts “Verborgeneres” als das “Offenbare”.

Dein – im Offenbaren und Verborgenen –

Franz

28.V.[18]

Liebes Gritli, auch heut wieder nur ein Gruss vor Schlafengehn; die Zeit langt nicht zu mehr. Dabei platze ich von Antwort. – Deinen Brief mit dem Plan der Georgsreden kannst du natürlich heraussuchen. – Wiltfeber ist wohl schon bei Eugen. Ob du ihn auch lesen wirst? wart einmal auf Eugen; ich dachte beim Lesen nur an ihn, gar nicht an dich; so war es mir nur natürlich, ihn gleich an ihn weiterzuschicken. – Dir muss ich noch ganz rasch etwas von Warschau schreiben: ich fand die erste jüdische Bibelübersetzung und Gebetbuchsübersetzung – und natürlich eine Übersetzung ins Jüdische; wie hätte es anders sein können. Ein Gebetbuch mit den Psalmen drin; die paar Stellen, die ich suchte, waren so erschütternd jüdisches Deutsch, dass ich es gleich kaufte. Niemand weiss von wem die Übersetzung ist; ich habe viele Leute gefragt. Ich glaube es ist das – kennst du Luthers Traktat vom Dolmetschen? (Reklam!) (ganz kurz). Da schimpft er auf die “Esel” die gratia plena übersetzen “voller Gnaden”, man müsse der Mutter und dem Kinde auf der Gasse aufs Maul kucken und übersetzen: gegrüsst sei du liebe Maria. Aber er selber als es Ernst wurde übersetzte dennoch, sehr sprachmeisterlich, aber eben Meister, nicht mehr Volk,: du Holdselige. Hier aber ist die Übersetzung ganz Volk geblieben, ganz “Gasse” und “Stübel”. Es ist so selbstverständlich, dass es das geben musste, und doch war ich nicht darauf gekommen.

Liebes liebes Gritli Gute Nacht.

Dein Franz.

29.V.[18]

Liebes Gritli, ich glaube nun habe ich alle deine nachgekommenen Briefe zusammen. Es geht mir ja genau damit wie dir mit meinen: es sind alte Briefe geworden durch den einen Tag schmeck= und fühlbarer Nähe, und auch das geht mir genau so, dass ich mich über alle Besinnung weg freue auf den nächsten – so sehr dass wahrscheinlich nichts aus ihm wird; aber das ist ja dann auch gleich – die Hauptsache ist ja doch dieser eine Tag; er klingt und braust noch voll und forte in mir, als ob er gestern gewesen wäre, ich sehe und spüre dich und halte deine geliebten Hände.

Hier habe ich in dem Andrang von Eindrücken – auch das Mitlitärische gehört hier ausnahmsweise einmal zu den “Eindrücken” – auch unter der Menge von nachkommenden Briefen, die ich nicht auf der Stelle beantworten kann, ein ungewohnt atemloses Leben; ich möchte die Pfeiler des Tages gern auseinanderstossen, aber die Wölbung der 24 Stunden bleibt unverrückbar, der Schlafzwang der Natur und der Stundenzwang des Dienstes beinahe ebenso. Morgen Abend wieder Warschau –

Wie wenig du, trotz Trudchens Brandbrief, von Mutters damaliger Stimmung ahnst, zeigt mir dein Raten in der Richtung “Eifersucht auf H.Cohen” zur Erklärung des bitteren Tons in dem sie von meinen Kassler 8 Tagen spricht. Ach nein – es ging auf ganz jemand anders. Gritli, du weisst wie zu Unrecht, und wenn je zu Unrecht dann grade in diesen “8 Tagen”!! Sie war ganz erfüllt davon, fing immer wieder davon an; was ich sagte, fiel alles ins Leere; andrerseits was sie sagte war alles ungreifbar, beileibe sollte es nichts Bestimmtes sein, es blieb alles höchst allgemein – es war scheusslich. Wenn es sich jetzt zu einer bitteren Erinnerung an jene 8 Tage kondensiert hat, so bin ich froh; denn das bedeutet, dass sie es sich historisch abkapselt; sie giebt sich selbstverständlich recht (das muss sein, schon weil es das letzte war, worüber sie sich mit Vater in der letzten Nacht gesorgt hat), aber es liegt nun zurück, gehört jenen 8 Tagen an. Dass sie es sich so abkapselt, liegt einfach daran, dass sie dich in ihrer Weise lieb hat, jetzt wirkliche Sehnsucht nach dir hatte, froh ist dich um sich zu haben – und also ihren Einspruch gegen dich neutralisieren muss, indem sie ihn in eine schon historischgewordene Vergangenheit verbannt. Lass gut sein, Gritli, rühre nicht daran, sie wird dich nie verstehn, und braucht und liebt dich doch; gieb ihr was sie verträgt und kümmere (und bekümmere vor allem) dich nicht um das Unlösbare und Unerlösbare in ihr. Es istunerlösbar, wenigstens jetzt seit dem 19.März. Es wäre eine Verleugnung Vaters, eine Verleugnung ihrer Ehe, wenn sie jetzt anders werden sollte. Siemuss sich das Anderssein der Andern als Generations-unterschied vergleichgültigen; es darf sie nichts angehen. Sie muss vom [vorm?] lieben Gott sagen: ce n’est pas de mon age – wie das kleine Mädchen am Strande in Trouville, das Oskar A.H.Schmitz beobachtete; ein kleiner Junge hatte gesagt, sie wollten spielen. Du meinst, die Menschen hätten eine natürliche Sehnsucht und zwängen sich gewaltsam sie zu verleugnen. Es ist so, – aber das spricht weniger gegen die Menschen als gegen diese Sehnsucht. Diese Sehnsucht ist recht nichtsnutzig; sie treibt den Neger zu seinem Fetisch. Der Atheismus, der sie verleugnet, ist ehrwürdig; er ist die andre Seite der Offenbarung. Die Offenbarung knüpft nicht an diese natürliche Sehnsucht an, sondern rodet Neuland. Die Profeten wie die Kirchenväter kämpfen eigentlich gegen das Heidentum mit Argumenten ganz allgemeiner Skepsis. Jene Sehnsucht aller Menschen sucht sich heute mit Recht andre Erfüllung: “Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, …” Oder sie führt, auch heute noch, wieder ins ganz richtige Heidentum sans phrases oder avec de phrases hinein, etwa in den Spiritismus. Der Mensch sucht – nicht Gott; aber Gott sucht den Menschen; lies den Schlussvers des 119.Psalms. Der Mensch wird gefunden, nicht weil er sucht, sondern – obwohl er sucht, denn sein Suchen ist Irren.

– Sag, ist das Freytag = Loringhoven Autogramm noch gekommen? Hans ist durch Eugen so aufgescheucht worden, dass er auch mir plötzlich (d.h. noch nach Mazedonien, – nein schon hierher) die Philips = Kabinetfrage stellt, aber ganz ohne äussere Veranlassung. Er spricht von 1903-10 als einer abgeschlossenen Periode unsrer Freundschaft, was ja richtig ist; aber im Grunde grenzt er auch die Zukunft schon so bestimmt ab, dass man alle Lust darauf verliert. Er arbeitet stark mit Lebensaltern – wieder ce n’est pas de mon age, wenn auch in anderem Sinn; ich habe mir das schon neulich mal verbeten – Kind Mann u. Greis sind alle gleich “unmittelbar zu Gott”. Es geht allenfallshinterher, aber vorher kann man doch nicht sich vornehmen, de son age zu leben. Aber das eigentlich Gefährliche ist, dass er durch solche Auseinandersetzungen wieder viel bewusster verphilipst, was er bisher unter dem Einfluss des Kriegs, den er persönlich ja sehr stark erfahren hat, stärker als einer von uns, sehr abgelegt hatte. (Wenigstens war es ihm selbstverständlich geworden). Jetzt fürchte ich ein neues “1911”, ein neues von andern Abgestossenwerden und infolgedessen philipswärts Gestossen-werden. Besonders ich gerate im Schreiben jetzt so scharf ins Abstossen. Es ist ein Glück, dass es Eugen besser macht. Hans und er – ich habe es immer gewünscht; jetzt wo es so weit ist, ist es mir auch dabei bange – wenigstens bei Hans, diese kühle schmerzlose Selbstenthäutung. Wenn schon solch geistiger Harakiri, dann aber doch bitte mit Wehgeschrei – selbst wenns gegen den japanischen Ehrenkodex verstösst; oder man lässt es lieber bleiben. Diese geistige Erhabenheit war es wohl früher grade, die mich zu ihm zog; je weniger ich selber davon hatte, um so mehr. Auch das war 1910 zu Ende. Wir hatten damals unsre entgegengesetzten Ladungen so sehr ausgeglichen, dass keine Funken mehr zwischen uns übersprangen; so war es natürlich, dass wir unsre Spitzen voneinander abkehrten, er zu Philips, ich zu Rudi. Aber genug davon. Es ist schon wieder spät geworden.

Dies Papier ist doch herrlich. Ich werde den Rest an dich verschreiben; es ist freilich nicht mehr viel.

Gritli – –

Dein Franz.

30.V.[18]

Liebes Gritli, sicher kein schweres Geschütz, das wäre das Allerverkehrteste. Am besten weder schweres noch leichtes – ich habe es ja mit beidem versucht und mit beidem vergebens, sondern einfach drüber weggehn. Eben deshalb hatte ich dir nie davon geschrieben, und auch weil es im Grunde so egal ist! Das sind wirklich Dinge, die nicht auf der Wiese vor dem Unterstand behandelt werden können, wo der Klatschmohn wächst, sondern nur drinnen. Und da kam Mutter schon zu spät. Siehst du aber dass sie sich an deine vielen Briefe nicht gewöhnt, so schreibs mir; ich schicke dann, so komisch es wäre, immer ein paar via Trudchen und zwischen durch wieder einen direkt. Aber nur, wenn du siehst, dass es ihr einen täglichen Stich gibt [?]. – Zu dumm! –

Dein Franz.

Juni 1918

1.VI.[18]

Liebes liebes Gritli, das Satyrspiel der mütterlichen Ängste ist grade zwischen uns abgetan, da heisst es wieder: incipit tragoedia. Ich erschrecke aber diesmal weniger als damals im März, wenigstens weniger in meine eigene (und auch in deine) Seele hinein; ich bin mit mir selber mehr im Reinen und weiss die Ausschläge meines inneren Pendels, wie weit – und nicht weiter – sie gehen. Um Eugen selbst ist mein Schrecken freilich nicht geringer als damals; ich fühle wie ich ihn im Augenblick nicht erreichen kann. Wenn ich in mich selbst blicke, – wie ist es denn? Es ist die genaue Ergänzung zu dem, was du selber schreibst: ich habe noch nie so ohne alle Schöpfergefühle geliebt; ich habe in keinem Augenblick je bei dir das Gefühl gehabt, etwas in dir gemacht zu haben, geschweige etwas von dir; ich habe dich nur gefunden, ganz fertig, ganz “schon gemacht”. Und weil du doch gemacht bist und jemand dich gemacht haben muss, so habe ich in dir deine Schöpfer geliebt, den himmlischen und den auf Erden, Eugen. In deiner “Fertigkeit” spürte ich ihr Werk, ohne von den Einzelheiten, den Tagen der Schöpfung, den “Mai” 1916, etwas zu wissen. Etwas dazu tun konnte ich nicht, mochte ich nicht. Nur mich dir zu schenken, trieb es mich. Die Worte kommen mir schwer. Wenn ich mich dir, der Geschaffenen, schenkte ohne an dir zu schaffen – und nur wen man schafft, macht man sich zu eigen -, mich dir schenkte ohne alle Eigentumsgefühle, – von dir zu mir ist es glaube ich anders. Vielleicht nicht unmittelbar; unmittelbar mag es dir mit mir ähnlich gehn wie mir mit dir. Aber mittelbar durch dich hindurch, durch deine Eugengeschaffen-heit hindurch verspüre ich die Kraft, die an mir schafft seit Jahren. Du weisst, wie Eugen an meinen Wurzeln gerissen hat; ich meine nicht das Theoretische, nicht die “Auseinandersetzung”, überhaupt nicht das Sagbare, sondern seine Mensch-lichkeit. Es ist seine Menschlichkeit ohne den verwirrenden Zusatz des Auseinander-sätzigen, die auf mich überströmt, wenn deine Liebe sich mir schenkt. Du schaffst an mir, setzest Eugens Schöpfung in mir fort, ja vollendest sie erst. Bedenk, dass ich ihm erst seit dem “Juni 17” schrankenlos glaube, ihn erst seitdem lückenlos liebe. Nein wirklich, das alles liegt so nah an den Wurzeln des Lebens, dass ich es kaum mit Worten entblössen kann. Auch vor dir nur weil du es schon weisst. Du weisst es doch?

Geliebtes – Dein.

3.VI.[18]

Liebes, es geht nicht,ich muss dir doch noch schreiben. Ich kann es nicht leicht nehmen, dass die Welle immer wieder kommt. So wenig wie ich glaube, dass das bischen Offensive sie weiter zurückgedrängt hat als aus den Briefen. Ich kann aber so gar nicht hinüberreichen zu ihm; ich fühle mich ganz machtlos; du musst alles allein machen; ich kann dir nur mit gefalteten Händen nachsehen. Du fragst, ob ich verstehen kann? dass sie aufschäumt, die Welle – ja; dass sie “vielleicht immer wieder aufschäumen wird”, nein, das kann und mag ich nicht verstehn; das darf nicht sein. Hilf ihm, dir, – mir.

Es ist so sinnlos, dass ich daneben noch mal auf Mutters Tragikomödie komme; aber du fragst. Was du fragst, habe ich sie auch gefragt, brieflich, im April; ich bat sie dringend, doch einmal ihre Sorge in deutliche Worte zu fassen, dann würde sie selber sehen wie unsinnig sie wäre; aber das wollte und – konnte sie eben nicht. Es ist immer wieder das Gleiche, immer wieder die “18 Jährigkeit”, auch in dieser abenteuerlichen Unbestimmtheit und Unfassbarkeit der Besorgnisse. Das einzige was sie mir, noch in Kassel damals, sagte, war: du schreibst ihr Liebesbriefe; da musste ich über diese handfeste Definition so lachen, dass ich einfach Ja sagte. Und als Trudchen sie nachher generell “beruhigte”, sagte sie: ja Gritlis Briefe an Franz; aber Franzens werden anders sein, einfach weil er – schöner schreiben kann. Da hast dus! Ich muss jetzt beim Schreiben wieder hell lachen. Schluss mit diesem “schönen Liebesbrief”. Es ist spät, ich bin müde, noch voll von gestern, und gleich nah am Lachen und am Weinen, und im einen wie im andern bei dir – ganz nah und ganz

Dein. –

4.VI.[18]

Liebes Gritli, du musstest mir den Brief schicken; ich muss das wissen, um unser aller dreie willen. Die Augen zumachen, hoffen dass es vorübergeht und doch fürchten müssen, dass es dann wiederkommt – das geht nicht; schon gestern Nacht schrieb ich es dir; heute nach deinem Sonntagsbrief weiss ich es genau. Eugen muss wissen, dass er Herr unsrer Liebe ist, dass sie ins Bodenlose fällt, wenn er sich abwendet. Ehe ers weiss, ganz gewiss und über Augenblicksstimmungen hinausgehoben – solange müssen wir einander schweigen. Es ist mir furchtbar, mehr als ich sagen kann; aber es muss sein. Inzwischen sprich du mit – nein: zu ihm. Findest du die “Zauberformel”, die wirkliche, die nicht bloss von heut auf morgen einschläfert, sondern die dauernd erweckt, – hast du sie gar vielleicht schon gefunden: so ist alles gut; findest du sie nicht, dann und nur dann werde ich das Unerhörte und Unmögliche versuchen, unmittelbar zu ihm zu sprechen hier wo nur du allein zu ihm allein sprechen dürftest. Hört er auch dann nicht, – Gritli, ich wage das “dann” nicht zu denken, ich kann deine Hand nicht lassen – – und doch werde ichs dann und unsre Liebe wird sich ein Lebewohl sagen bis zu jenem Einst, wo sie nicht mehr “unsre” Liebe sein wird. Wie das auszuhalten sein wird – die kommenden Tage werden mir ja einen Vorgeschmack davon geben.

Auf wie lange heut zum letzten mal sage ichs dir dass ich dein  bin, Seele, geliebte —-

5.VI.[18]

Liebes Gritli, ich sollte doch froh sein, dir wieder schreiben zu dürfen, nach deinem heutigen Brief, und ich bin es doch nicht. Es sollte mir genügen und genügt mir doch nicht. Vielleicht weil ich es nur im Wiederschein, vielleicht weil ich es nur brieflich erlebe. Nein doch wohl deshalb, weil es nicht das erste Mal ist. Eine Krise – ja, das ist natürlich. Zwei Krisen? das ist nur noch blossnatürlich,das dürfte nicht mehr sein; da ist irgend etwas noch nicht wie es sein müsste. Liebe – ich habe den Morgen über vor dem Schweigenmüssen gebangt und nun wo ich es nicht brauche, sollte mir doch froh zu mute sein. Aber ich spüre es zu deutlich: wir sind noch nicht durch. Ich glaube, er kenntmich noch nicht ganz, er sieht nicht wie ich dich liebe; sonst müsste er es auch von da her fühlen, dass es da keine Eifersucht für ihn geben kann. Von dir her und von mir her muss er es fühlen. Ich kann es jetzt nicht ausdrücken. Vor dir ists auch nicht nötig, du weisst es so. Und doch – nein ich bin doch glücklich, dass ich mit diesem unfrohen Druck zu dir, an dein Herz, kommen kann. Nimm meinen schweren Kopf zwischen deine Hände.

Dein Franz.

5.VI.[18]

Liebes Gritli, da habe ich etwas Schönes angerichtet: nun lernst du Griechisch – und kommst nicht mehr zum Briefeschreiben. Und dazu schreibt Mutter noch: Griechisch wäre schwer. Ich “beschwöre” dich: Lern keine Grammatik und vor allem um Himmels-willen keine “Vokabeln”. Trachte vor allem nach den Texten, so wird dir all das andre von selbst zufallen. Du hast doch Lateinisch sicher auch ohne Grammatik gelernt. Und du willst doch Griechisch nicht “wirklich lernen” – wozu denn? – sondern verstehen. Woher weißt du, ob Ferchau es versteht, und nicht bloss – kann?

Liest du schon Homer oder noch das Lukasevangelium?

?, nein, sondern:

———-Dein Franz.

7.VI.[18]

Liebes Gritli, nur ein Wort vor Schlafengehen. Pragers Brief kam ja heute. Ich bin mit all so was immer sehr zufrieden, viel weniger kritisch als du und auch Mutter, weil ich es eben ganz politisch nehme, einfach so wie Josua den Engel fragte ehe er ihn erkannte: Gehörst du zu uns oder zu unsern Feinden? Fertig. Tertium non datur. Eben wirklich, so wie man im Ernst etwas will, giebt es kein Drittes. Sogar den kuriosen Hymnus auf “Rosenzweig” konnte ich deswegen mit reinem Vergnügen lesen, eben als Zeichen seiner “Zugehörigkeit zu uns”. A bas la nuance! vive le parti! Ich kenne mich selbst nicht wieder hierin, weiss aber, seit ich so sein kann, dass man so sein darf und sogar muss.

Ich trage noch ein Stück Antwort mit mir herum. Du schriebst von deinem Gefühl zu Eugens Mutter. Weisst du denn nicht – ich weiss es, ohne dass er mir es je angedeutet hat (ausser vielleicht einmal), so sicher wie man eben etwas wissen kann, also ganz sicher – dass es ihm genau so mit ihr gehen muss; das kann gar nicht anders sein. So etwas ist durchaus möglich. Ich habe es, schwächer wohl, meinem Vater gegenüber gehabt. Wohl sicher schwächer, denn die Verschiedenheit des Geschlechts verstärkt solche Abstossung gewaltig, wie ja im andern Fall auch die Anziehung. Wie so etwas bei solcher Nähe des Blutes möglich ist, war mir immer rätselhaft, auch die körperliche Unähnlichkeit (deshalb habe ich dich einmal danach gefragt). Auch Eugen sieht doch nur seinem Vater ähnlich, der Mutter höchstens durch die Blutsverwandschaft der Eltern miteinander, aber nicht unmittelbar. Bei Eugens Mutter habe ich es immer gespürt; bis zur Unerträglichkeit stark in dem Winter 13 auf 14, wo ich aus heftigem Bedürfnis, neben dem ständigen geistigen Vis=à=vis auch etwas leibhaftigen Eugen zu haben, mich à corps perdu in die Rosenstockei stürzte; da war mir grade das fast nicht zum Aushalten, und auch die Sprache beinahe noch schlimmer als das Ansehen.

Wie sehr aber so etwas bloss mit der Leibhaftigkeit zusammenhängt, das habe ich grade jetzt erfahren. Ich kann mir grade dies Gefühl gegen Vater kaum mehr zurückrufen, während mir z.B. der geistige Gegensatz noch ganz lebendig ist. Der “Leib” stirbt eben wirklich. Ich hätte nie gedacht, dass das so vollkommen verschwinden kann. Ich spüre jetzt sogar eine Zärtlichkeit gegen ihn, von der ich zu Lebzeiten es kaum zu Anwandlungen brachte; schon das Wort “Zärtlichkeit” sieht mich in diesem Zusammenhang ganz neu an, ganz ungewohnt, ist aber vollkommen genau.

Genug. – Und “nicht genug”, sondern “alle Tage ein bischen…”

Dein Franz.

8.VI.[18]

Liebes Gritli, da habe ich etwas Schönes angerichtet: nun lernst du Griechisch – und kommst nicht mehr zum Briefeschreiben. Und dazu schreibt Mutter noch: Griechisch wäre schwer. Ich “beschwöre” dich: Lern keine Grammatik und vor allem um Himmelswillen keine “Vokabeln”. Trachte vor allem nach den Texten, so wird dir all das andre von selbst zufallen. Du hast doch Lateinisch sicher auch ohne Grammatik gelernt. Und du willst doch Griechisch nicht “wirklich lernen” – wozu denn? – sondern verstehen. Woher weisst du, ob Ferchau es versteht, und nicht bloss – kann?

Liest du schon Homer oder noch das Lukasevangelium ?

?, nein, sondern:

—– Dein Franz.

11.VI.[18]

Liebes Gritli, gestern hatte ich auf einmal deine drei letzten Briefe, heute erst den von Sonntag. Es ist so furchtbar; ich kann mir dabei trotz allem Eugens Briefe nicht vorstellen. Er sieht nicht bloss dich nicht,er sieht auch mich nicht, – sonst wäre es nicht möglich. Das Furchtbarste ist, dass er mit seinem Sehen und Nichtsehen die Macht hat mich zu dem zu machen, den er sieht. Indem er mich unter das kahle Allerweltsschema der Eifersucht bringt, spüre ich wie in mir etwas aufsteigt, was ihm das Recht dazugäbe. Gritli – das darf nicht sein. Hilf mir, indem du uns allen hilfst. Ich hoffe fest. Es muss alles gut werden. Unser Schweigen kann nur sein wie das Silentium im Kloster, zwischen den Träumen der Nacht und den Gesängen der Matutin. “Meine Seele harret…”

Geliebte Seele  —  Dein

[12.6.18.]

Liebes Gritli,

ich bin rat=, fassungs=, entschlusslos –

Und dennoch – dennoch –

13.VI.[18]

Liebes Gritli, für dich war es ein Trost, für mich ist es keiner. Ich hatte ja doch keine wirkliche Vorstellung, erst nun weiss ich, wie es in ihm aussieht. Es war sehr gut und nötig, dass du mir den Brief schicktest. Ich habe nie das Bewusstsein verloren, dass auf Eugen eine mehr als menschliche Last lag; ich glaubte er könnte sie tragen. Im Augenblick wo er so entschieden fühlt es nicht zu können, – in diesem Augenblick ist alles entschieden. Ich hatte ihm mehr als menschliche Kraft zugetraut. Könnte ich ihn darum weniger lieben, weil er – bloss ein Mensch ist? O Gritli, und wenn er und ich uns jetzt verlieren würden, – auch dann noch.

Gritli, wir waren vor aller Welt verborgen, – vor ihm mussten wir offenbar sein; ohne dieses Offenbarsein stürzt unsre Verborgenheit in sich zusammen. Was wird, weiss ich noch nicht. Den zusammengebrochenen Bogen, – wie weit musste es in ihm gekommen sein, ehe er “ohne Reue” ihn zum Einsturz bringen konnte, – ich glaube, ich werde seine Trümmer aufs neue hochschleudern, dass sie frei in der Luft schweben bleiben und sich neu zum Bogen runden, ich ahne es – denn unter Trümmern kann ich nicht leben.

Es ist jetzt ein Jahr, da schrieb er mir den ersten Brief nach Kassel, den ich dort vorfand und am ersten Morgen, in deiner Gegenwart las – und dir vorlas bis auf den Schlusssatz. Ich weiss ihn noch genau, heute musst du ihn hören: “Ich schicke meine Frau nach Kassel; sie soll “lieber Franz” zu dir sagen statt aller meiner Briefe. ”

Was ist denn andres geschehn?

Gritli, ich darf nicht schreien, ich habe kein Recht dazu; es muss still in mich hineingehn.

Gritli —

15.VI.[18]

Liebes Gritli, ich bin noch geschlagen; ich kann noch nicht wieder glauben. Ich bringe seine Worte nicht zusammen; das in dem Brief, das mich so erschreckte – der Bogen ist zerbrochen; ich bereue es nicht – und heute das. Das von heute war ja das, was ich ihm die ganze Zeit mit der Selbstverständlichkeit, mit der man manchmal grade das Wunder voraussetzt, zutraute. Das andre habe ich in diesen schrecklichen Tagen verstehen gelernt. Jedes für sich kann ich verstehen; beide zusammen nicht. So ist mir, als dürfte ich noch nicht wieder zu dir sprechen – und ich tue es doch – – o Gritli.

Ich habe in diesen Tagen eine sehr simple Schuld eigentlich mehr eine Versäumnis von mir gegen Eugen gefunden: ich habe ihm zu wenig geschrieben, ich hatte immer das Gefühl, indem ich dir schriebe, schriebe ich ihm mit; das war doch nicht so; er hat mich aus den Augen verloren, sonst wäre das jetzt nicht möglich gewesen.

Ich muss wieder an das Unmögliche glauben lernen, an das Überallemassen, an das Unmessbare. Eugens Worte vom Mass haben mich ins Bodenlose gestürzt. Ich muss sehen, dass er sie verleugnet. Überhaupt jetzt, ich muss sehen – zum Glauben langt es nach diesem Schlag und Sturz noch nicht wieder. Die zwei Tage auf der Rückreise, auf die ich mich bisher nur “entsetzlich gefreut” hatte, sind mir nun eine grobe einfache Notwendigkeit geworden; ich muss dich und vielleicht gar dich und ihn sehn, einfach sehn. So sitzen wir nun alle drei und verbinden uns die Wunden, ein jeder seine, und könnten es doch nur einer dem andern.

Zu mir ist eine andre Geschichte in diesen Tagen gekommen, als ich unter den Trümmern des Bogens sass und Wozu schrie. Die erste Predigt des Baalschem sei, so erzählt man hier, gewesen: Es tut einer eine Reise, – nur damit sein Knecht aus einer Quelle trinkt, die dessen Grossvater gefasst hatte, – – auf dass die Quelle ihre Dankbarkeit beweisen mag.

Wozu nun – Gritli ?

Ich glaube noch nicht wieder,

aber ich vertraue.

Dein Franz.

17.VI.[18]

Liebes Gritli, mir ist auch müde und gereizt zu mut wie nach einer Krankheit; ich kann er noch nicht recht glauben, dass sie vorüber ist oder jedenfalls ich finde mich noch nicht wieder zurecht in dem wiedergeschenkten Leben. Deine Briefe heute waren ein rechtes Streicheln – hab Dank. Ich kann es dir noch nicht vergelten, obwohl du Armes es auch nötig hättest, – aber ich bin noch zu sehr bei mir selbst und in mir zusammengeschrocken. Das Wort vom Mass aus Eugens Brief, der dir der erste Lichtblick, mir das tiefste Erschrecken war, lässt mich nicht los; mein Ganzes bäumt sich degegen auf. Es ist nichtwahr, dass der Mensch sein Mass hat; das Unmessbare in ihm kann nicht gemessen werden und auch nicht ermessen; auch nicht aufgerechnet gegeneinander, kein Addieren und Subtrahieren kann da gelten. “Je mehr ich gebe, je mehr hab ich” – Julia behält recht; ich erfahre es doch immer aufs neue, dass hier im an sich Unmessbaren die Schwingen vom Fluge nicht ermüden, sondern wachsen. Dies ist das Energiegesetz des Lebendigen. Das andre, dass jedem Mehr an der einen Stelle ein Minder an andrer entspricht, – ist das Gesetz des Toten. Nur wo das Lebendige mit dem Toten zusammenhängt, da gewinnt dies zweite Gesetz Macht über es; aber es beherrscht nicht die Geschehnisse innerhalb des Lebendigen; es kann bewirken – und bewirkt – dass der Mensch früher aufbrennt; je lebendiger sein Unsterbliches, um so sterblicher wird sein Sterbliches; denn es ist der Boden, dem das Unsterbliche seine Kräfte aussaugt, das Lebendige dem Toten. Aber Lebendiges nicht dem Lebendigen, Liebe nicht der Liebe. Die messende Nemesis herrscht zwischen Tun und Leiden, eben weil zwischen Lebendigem und Totem; aber in der Liebe gleicht sich nicht ein Tun einem Leiden aus, sondern Tun findet sich zu Tun, Leiden strömt zu Leiden; die Macht der Nemesis ist da zu Ende, eins zehrt nicht am andern, es giebt nur Steigerung – Tun zu Tun, Leiden zu Leiden, Seele zu Seele

————-

oh Liebe – Dein

18.VI.[18]

Liebes Gritli,  ich habe ja schon die ganze Woche meine Warschauer Tage nur noch mit starken Zensurstrichen an Mutter geschrieben, nachdem ich merkte, dass sie Angst bekam – in welcher Richtung, ahnte ich freilich nicht. Ich würde ihr wirklich gönnen, sie dürfte sich weiter um so etwas sorgen, aber in drei oder vier Wochen wird sie ihren Sorgen wieder einen ernsteren Gegnstand geben müssen. Eigentlich ist es komisch. Das Sorgenbedürfnis ist eben vorhanden, noch ehe es seine Gründe alle beisammen hat. – Über dich hat sie sich ehrlich aufgeregt; daraus sah ich, dass du sie etwas zur Vertrauten gemacht hattest; sie hat sogar an Eugen geschrieben – sie kann ja nichts schaden, aber peinlich ist es doch; ich habe ihre Mitteilung davon etwas ironisch quittiert; ich kenne ja die Formeln, mit denen sie sich “so etwas” plausibel macht, kenne sie nicht erst seit jetzt. Jetzt wird sie nach ihrer fargmentarischen Einsicht in das Geschehene fast überzeugt sein, “immer recht gehabt zu haben” und wenn sie mich sieht, auch dies Eingeständnis, dass sie recht gehabt hat, von mir verlangen. Oh weh! Ich werde diesmal versuchen, es gar nicht zu einer Diskussion dieses “Themas” kommen zu lassen. Es ist ja nur dumm.

Das Kinderbild, das du mir mitten in jenen Tagen schicktest – weisst du, ich wäre dir wohl auch schon damals zugetan gewesen. Es ist sehr komisch: ich falle nämlich hoffnungslos bei kleinen Mädchen unter 6 Jahren auf die dicklichen – auch die kleine Esther aus dem Kindergarten (über die sich Mutter glaube ich besonders aufgeregt hatte) ist so ein untersetzter Pummel; ich hab sie auch diesmal am Sonntag wiedergesehn; später kann ich dann plötzlich das Dicke nicht mehr vertragen, wie es mir z.B. den Weg zu Käte, Eugens Schwester, lange verlegt hat. Du hättest es mir so als Kind leicht gemacht – wie du es mir heut als Grosses leicht machst: dich lieb zu haben – in allen Wandlungen vom Gestern durchs Heute zum Morgen. Das Heute ist noch trüb und gespannt; es ist noch kein leichtes Atmen wieder; aber das Morgen ist uns wieder gewiss.

Auf morgen denn!

Dein Franz.

19.VI.[18]

Liebes Gritli, ein Wort nur – es geht uns ja gleich in diesen Tagen: wir haben beide die Sprache noch nicht wiedergefunden, getrauen uns noch nicht recht wieder zum Wort. Wie weich und aufgelöst es in mir aussieht, habe ich gestern Abend recht gespürt, als ich seit langem einmal wieder Musik hörte, allerlei durcheinander; alles wühlte in mir und ich lag wehrlos da. Auch heut Nachmittag wieder; ich nahm mir einfach Zeit, um endlich einmal wieder etwas zu lesen, und las Klatzkins wunderbaren, wenigstens in den unmittlebar von ihm handelnden Teilen wunderbaren Aufsatz über Cohen, im Aprilheft des Juden [gestr. Zu lesen]. Er ist der einzige ausser mir, der das Besondere des “letzten Cohen” erkannt hat, und er findet viel gewaltigere Worte als ich gefunden habe. Bisher hatte ich mich über alles von ihm geärgert, diesmal riss er mich um. So labil ist mein Gleichgewicht in diesen Tagen, und fast zaghaft höre ich meine eigne Stimme, die zu dir spricht – in gesunden Tagen hört man den Ton der eignen Stimme nie. Oh Gritli – wir wollen und werden wieder ganz gesund werden. Lass uns Geduld haben.

Heut ist es ein Vierteljahr seit dem 19.März. Auch dies ist noch eine ganz frische Wunde; ich bin so weich, dass ich es Mutter gegenüber gar nicht sagen kann. Das Unsinnige dieses Todes nach einem so todunvertrauten unjenseitigen Leben reisst an mir, und dass es das Leben meines Vaters war, erschreckt mich. Was will Gott mit solchem Knick in der dennoch unzerreissbaren Kette der Geschlechter?? – Und dies zwischen mir und Mutter nun Gemeinsamste ist doch das tiefst Trennende zwischen ihr und mir. Sei gut zu ihr, – besser als ich sein kann.

Und werde gesund – du und wir alle.

Dein Franz.

20.VI.[18]

Liebes Gritli,  die Post hat es bös gemeint und mir heut keinen Brief von dir gebracht, obwohl ich jetzt nach deinen Briefen barme, einerlei ob sie “lang” oder “kurz” sind – wohl weil ich im Augenblick eigentlich überhaupt kein Genüge an Briefen habe, sondern Gegenwart brauchte, und wäre es nur ein Zipfelchen. Und die Handschrift ist ja so ein Zipfelchen leibhaftiger Nähe. Sei mir nah. Ich dränge mich zu dir, – wortlos und –

dein.

21.VI.[18]

Liebes Gritli, – der Bogen steht ja wieder, aber er schüttert und schwankt von innen her, – die Steine ruhen nicht fest aufeinander; der Boden bebt zwar nicht mehr aber in der Wölbung zittert es noch nach. Geduld, Geduld – wir rufen uns das Wort zu, wir brauchten es nicht immer wieder zu rufen, wenn – nun wenn Gegenwart erst wieder alles Schwankende beruhigt hätte und jedem Stein das sichre Gefühl zurückgegeben hätte, getragen [doppelt unterstr.] zu werden. Ruht denn der Bogen auf den Steinen? Ruhen nicht die Steine im Bogen? …[Zeichnung des Bogens]. Der Bogen schläft nicht, sagen die Inder. So ist es: wenn der Bogen wach ist, können die Steine in ihm beruhigt schlafen – sie werden von ihm getragen. O ruhten wir erst wieder! in Nähe, in Getragensein, in – Gegenwart. Das ist das Zauberwort, das unsern dreifachen Bann brechen kann, das und kein andres.

Mein Herz ist bei Eugen; meine Worte drängen zu ihm aber dicht vor dem Ziel prallen sie vor einem Abgrund zurück, bäumen sich und versagen den Sprung hinüber. Ein Abgrund in fast leichtsinnigem Vertrauen ins Unmögliche (und doch – in was soll man vertrauen wenn nicht ins Unmöglicht) von mir selber durch Schweigen gerissen, durch ein Schweigen der Lippen, wo ja die Seele stündlich sprach. Und doch muss der Abgrund genommen werden; der Gaul muss drüber weg, und wenn ich ihm die Flanken blutig reissen müsste. Denn auch hier fehlt nichts als das eine: Gegenwart.

Für mich hoffe ich sie von dem Kassler Tag. Denk dass es das letzte Mal ja nur ein Abend und ein Morgen war, und selbst der Morgen bald von Hans E. okkupiert. Diesmal sind es zwei ganze Tage – es sollte doch sonderbar zugehn, wenn wir uns da nicht auch sprechen könnten. Sprechen, soweit es uns dann nötig sein wird – Gritli; ich habe kaum Verlangen nach Worten, nur sehen, nur – “bei dir sein”. Alles andre als Kassel würde sich wahrscheinlich erst im letzten Augenblick verabreden lassen, also telegrafisch, also nur unter Erregung aller Katastrophensüchte [?]. Fest steht ja nur, dass der Kurs am 9. offiziell endet, ich also erst am 11. nachmittags von Dresden abfahren kann, auch wenn ich keinen Urlaub nach Kassel kriegte. In dem Fall würde ich also, da der Kurs inoffiziell mindestens schon am 8. endet, abends 11 hier abfahren, am 9. vormittags um 11 in Berlin sein, abends oder nachts in Kassel und den ganzen 10. dort. Kriege ich Urlaub, so wirds der 10.u.11., und wenn der Kurs schon am 6. endet, was immerhin möglich ist, gar vom 8ten an bis zum 10. oder 11. – Wann der Zug von Berlin nach Kassel geht, mit dem ich fahren kann – ich glaube erst Abends. Nun für alle Fälle noch etwas, da ich nun mal bei den Fahrplänen angekommen bin: in Dresden ist gewöhnlich um 12 etwa die militärische bahnamtliche Beanspruchung zu Ende und man ist bis 4 Uhr, wo der Zug ungefähr geht, sein eigner Herr; und vor allem: man kann da gewöhnlich durch einen “Wink” erreichen, dass der Beamte, der die Fahrscheine um 4 begutachtet, erklärt, der Zug wäre schon besetzt und man möge erst am nächsten Tag um die gleiche Zeit wiederkommen, was dann auf dem Fahrschein bescheinigt wird. Also dies für den schlimmsten Fall. Aber eigentlich ist mir übel, indem ich dir diesen ganzen Fahrplan schreibe. Es wird ohne solche Schleichwege gehn. Denn so herrlich ein ganz ungeteiltes Beisammensein in Berlin oder in der Bahn oder gar in meinem Dresden wäre – es hat dennoch etwas Unmögliches, weil es geheim sein müsste, und grade das wollen wir Eugen nicht zumuten, obwohl es ihm zu innerst gar nichts ausmachen würde. Aber wir dürfen ihm nur das innerlich Übermässige zumuten, das – kannst du schon so viel? deinon, nicht das äusserlich “Unmögliche” im Sinne der Welt, das zu ertragen und zu tragen leicht, kinderleicht gegen das andre ist, aber – nicht lohnt.

Genug, und schon zu viel Worte darum. Wir werden uns sehen. Mir ist, als strecktest du mir deine geöffneten Hände entgegen und ich senkte stumm mein Gesicht in die weichen Schalen. –

Geliebte –

22.VI.[18]

Liebes, Liebes

ich bin ja ganz Vertrauen – aber ich spüre jetzt, was ich allgemein immer wusste: dass das Vertrauen allein nicht genug ist zum Leben; der Glaube gehört noch dazu, die schmeck= und fühlbare Gewissheit. Es sind noch 14 Tage. Würde doch inzwischen etwas aus Trier. Alles in mir ist nur Wunsch und Hoffnung. Ich glaube ich bin selber ganz machtlos, ganz Erwartung.

Auf wieder Sehen! und mehr als “wieder” – es ist mir nach diesen vergangenen Tagen – sie sind vergangen, glaub es ungläubiges Herz – es ist mir als würde ich dich neu sehen, zum ersten Mal. Ist ja auch recht, dass ich nun die stumpfe Ahnungslosigkeit, mit der ich voriges Jahr dir entgegenfuhr, büsse mit einem neuen “zum ersten Mal”. O süsse Busse –

Ich warte dein – Dein.

24.VI.[18]

Liebes Gritli,  als ein Nachzügler kam dein Brief vom 18ten. Ich hatte in dem Brief vorgestern gar nicht gewusst, was die “Giftformel” war; nun weiss ich es – und verstehe es doch genau so wenig. Wie kann er denn unser Verhältnis zu einander so verzeichnen, er selber, der doch erst die endgültigen Formeln dafür gefunden hat. Ich merke, dass du die Arbeit des Briefbuchs noch mehr als für Rudi für Eugen machst. Er muss sich selbst, scheint es, erst einmal wieder schwarz auf weiss vor Augen sehen. Was für eine unheimliche Kraft ist in ihm, nichts abgeschlossen sein lassen zu können; alles muss er wieder in Bewegung bringen; sein Herz hat keine Schatzkammern, worin er die einmal gefertigten Kleinodien nun pflegt und bewahrt, er ist wie E.T.A. Hoffmanns Goldschmied in Paris, der seine Kunden ermordet – der will freilich seine Kleinodien nur selber behalten, er hingegen vergträgt überhaupt nicht, dass Fertiges von seiner Hand existiert. Ich kann ihm da gar nicht folgen. Ich könnte doch jetzt das Gespräch von 1916 nicht wieder von vorn anfangen. Das ist keine Schachpartie gewesen, wo einer gewinnt, und wo dann das nächste Mal Revanche gegeben wird; es ist unser gemeinsames Werk; was wir zu zweien und 1916 im Kriege daran tun konnten, ist getan; zwischen mir und ihm ist kein Kampf mehr; würde er ihn heute erneuern wollen – ich würde es mit ähnlichem Ekel als eine nur intellektuelle Angelegenheit empfinden wie meine Auseinandersetzung darüber jetzt mit Hans, über deren lange Unterbrechung ich keine Spur traurig bin. Sein Gefühl der Selbstbehauptung ist mir unbegreiflich. Gegen mich? gegen mich? gegen den wohl ersten nach dir, der ihm geglaubt hat? und der ihm glauben wird, solange – solange wir noch aufs Glauben angewiesen sind. Und gegen mich muss er sich noch erst “behaupten”? ? Fühlt er denn nicht, was es bedeutet, dass ich ihm glaube. Weiss er nicht, wie hart es mir nicht bloss war, sondern ist, ihm glauben zu müssen. Wieviel einfacher mein Leben wäre, wenn ich ihm nicht zu glauben brauchte. Er ist der Punkt der Umkehr in meinem Leben und dadurch die Kette die mir nachschleift. Es ist doch kein Zufall, dass ich Cohen, als ich das Gefühl hatte, nun mich ganz vor ihm ausbreiten zu müssen, von meinem Verhältnis zu Eugen sprechen musste, und sonst von nichts! Er ist mir Schicksal geworden, früher als ichs ihm wurde. Aber ist es nicht natürlich, dass auch ichs ihm werden musste? Sieh, das ist das was mich jetzt über das grauenhafte Gefühl, ihn eifersüchtig zu wissen, hinweggetragen hat: dass er da, in einer wüsten leiblich = geistigen Erschütterung seines Wesens, erst den Glauben an mich gelernt hat – über das Bewusstsein unsrer “planetarischen” Zueinandergehörigkeit hinaus – den wirklichen Mensch=zu=Mensch = lichen Glauben an die Wirklichkeit meiner Existenz – so wie ichs bei ihm gelernt habe in jener gleichfalls entsetzlichen Durchschütterung jener Leipziger Nacht vor bald 5 Jahren, in und nach der ich mich schliesslich auch nicht grade nett zu ihm benommen habe. Es ist eben nichts schwerer als dies scheinbar Einfachste: einander gegenseitig unsreWirklichkeit zu glauben. “Liebe deinen Nächsten – er ist wie du”, ja wirklich wie du, ganz wie du! Du hast die Wirklichkeit nicht gepachtet und die andern sind blosse Gestalten deiner “Weltanschauung”, blosse Filmgespenster an der weissen Wand, wie dus dir immer wieder gar so gern einreden möchtest; sondern wirklich wie du, Menschen wie du, – Mensch!

Hätte ich vielleicht dies, was mir eben unter deinen mir über die Schulter guckenden Augen aus der Feder gesprungen ist, lieber gleich ihm selber geschrieben? aber es ist etwas wie Scham in mir, ihm das zu sagen. Kann man es denn? Weiss er es denn wirklich nicht? ? Und habe ich es ihm nicht schon gesagt? ausser natürlich das letzte – und selbst das vielleicht. Hat ers nicht selber sogar gesagt in jenem Briefschluss vom vorigen Jahr, den ich dir neulich schrieb?

Er muss doch wieder hell werden und das sumfelein lernen – es ist niemand da, mit dem er συμφιλει könnte. Sag du es ihm, wenn ich das Wort nicht hervorbringe. Ja du bist die verbindende Ader – in dir müssen sich die stockenden Pulse mischen und erneuern –

Liebes Gritli, du schreibst noch von Louis O. Ich habe dich doch vorbereitet; ich kann dir auch jetzt nicht mehr darüber sagen als damals. Trudchen ist nicht trotz ihm so geworden, sondern sie war schon das was du heute kennst, als er kam; aber sie ist es geblieben nicht trotz ihm, sondern durch ihn, durch die zage und zarte Art, die Angst hatte, in ihr Leben fest hineinzugreifen – gewiss die vielleicht auch kaum fähig dazu war, wenn sie es nicht zerstören wollte. Dass dies Leben da stehen bleiben würde wo es stand, das habe ich gewusst als sie sich verlobten. Aber ich glaubte damals, das Einfache, das Allgemeine und Notwendige, zu deutsch: ein Mann, ein Haus, vier Kinder, das sei noch mehr als die unbegrenzten Wachstumsmöglichkeiten der Flügel der Seele. Ich habe daran später zweifeln und noch später wieder daran glauben gelernt. Und heute glaube ich daran wie man an die Regel glaubt und doch sich gezwungen sehen kann auch an die Ausnahmen zu glauben, und bin so über Trudchen beruhigt, ohne dass ich dächte es wäre schon aller Tage Abend. (Das darf man ja doch nie denken). Louis’ mangelnder Judenstolz – das ist es wohl nicht, eher sein mangelnder Stolz überhaupt. Jude ohne Judenstolz war etwa auch Walter Löb, und doch hättest du den liebhaben müssen wie ich. Er ist ein undeutlicher Mensch und das Beste an ihm ist die Liebe zu dem deutlichen Trudchen. Aber ist einer nicht soviel wert wie seine Liebe? Freilich das ist wohl ein Gesichtspunkt für den Weltrichter, aber unsre Zu= und Abneigungen gehen ihre besonderen Wege. Es geht mir ja mit ihm genau wie dir.

Schlaf wohl. Auf Wiedersehn –

Dein Franz.

25.VI.[18]

Liebes Gritli, schon heut morgen überdachte ich nochmal das Wort von der “Giftformel” und begriff es plötzlich – ohne mir doch selber zu trauen; aber dein Brief mittags brachte die Bestätigung. Ich staune selbst jetzt noch. Wäre ich eine Spur mehr “Grossinquisitor” als ichs bin, könnte ichs hier auch nur eine Spur sein, so müsste mir dies doch ein grosses Ereignis sein. Auch so kann es mir noch sagen, dass wirklich die Gegenkräfte schon mit so fanatischer Ausschliesslichkeit am Werke sein müssen wie das im Hause Rosenstock war, um zu einem so innerlich hemmungslosen Christwerden wie damals Eugens (oder auch Hansens) zu führen. Das lernt, wie du schon aus der trocknen Nebeneinanderstel-lung Hans = Eugen siehst, der Verfasser von Zeit ists daraus. Das Brodsche Gedicht klagt die rechten Stellen an. Aber bei Eugen heute – oh nein, es ist keine “Nachsicht”, wenn ihm der leibliche Bruder die Freiheit zugesteht; es ist ein verzweifeltes Müssen. Es ist ein Anerkennen müssen, dasssogar das Judentum nicht bloss im “Geblüte” gegründet zu sein braucht, sondern notwendig auch im “Gemüte”. Er ist und bleibt Heidenchrist. Sein Schrecken über (und infolgedessen Zorn auf) das Judentum ist das Gefühl jedes Christen, gar nicht des Judenchristen speziell. Du würdest selber diesen Schrecken über die Vorwegnahme der Vollkommenheit als einer bluterblichen Gnadengabe auch spüren, wenn du – Christ wärest und nicht Christin. Das ist das Vorrecht und die Vorpflicht des Mannes im Christentum, dass er auch dieWelt sieht und an ihr das christliche Leiden und die christliche Leidenschaft erfährt. Den Mann macht das Christentum zusehends weltlicher, die Frau “zusehends” seelischer. Darum, liebes, weil du auf diesem Wege bist, darum kannst du so harmlos in dem “fremden Garten” sitzen, ohne dich daran zu stören, was dieser fremde Garten in der einen Welt bedeutet – wie es jeder  Mann muss und – soll. Die Frau lädt die Last der Welt auf Gottes Schultern ab, der Mann die Last der Seele. So verschieden gerichtet sind ihre Harmlosigkeiten wie umgekehrt ihre Härme. Daher also kannst du, was Eugen nicht kann, Eugen als Christ nicht als “Judenchrist”. Den Judenchristen erschreckt das Judentum ganz anders. Was dem Heidenchristen nie in Gedanken kommen kann, das muss den Judenchristen aufsteigen: die Berufung galt sie nicht auch dir? hast du nicht deine angeerbte Krone von dir geworfen? Und gegen diese Stimme, wenn sie in ihm laut wird, setzt er sich mit allen Mitteln der Selbstbehauptung, des Renegatenhasses, der Verzerrung u.s.w. zur Wehr. Du weisst, dass ich stets diese Gefahr für Eugen gefürchtet habe und michdeshalb gehütet habe, ihm je einen Blick in das Judentum von innen zu gestatten (ich muss wieder sagen: genau wie bei Hans), was ich bei keinem “Heidenchristen” zu scheuen brauchte. Sondern ich habe ihm in jenem ganzen Briefwechsel damals und auch später das Judentum immer nur von aussen, alsGestalt, wie man es mit Augen sehen kann, also mit christlichen Augen sieht, gezeigt. Weisst du nicht mehr den merkwürdigen Eindruck, den du am 2.VII.17 in unserm Nachtgespräch hattest, wo du dich hinterher gradezu fragtest, wie ich so sprechen könnte und warum ich dann doch etwas andres sein wollte. Ich habe eben immer mit ihm so gesprochen. Es war ein richtiger Takt. Der Gespiele hat ihm nie vom Judentum “vorgeschwärmt”. Erst durch dich, der ich freilich vorgeschwärmt habe, ist etwas davon zu ihm herübergedrungen, und nun siehst du die Wirkung, er verträgt das einfach nicht; er wird es auch nie vertragen; wird immer zu Gewaltsamkeiten der”Selbstbehauptung” dadurch herausgefordert werden. Es ist etwas Unlösbares: die Stimme spricht zu ihm, hat den, ich möchte sagen juristischen Anspruch auf ihn – das ist die Macht des “Geblüts” -, aber weil kein Funken von “Gemüt” je in ihm entzündet ist, so wehrt sich sein ganzes wirkliches Wesen gegen diesen dennoch nicht stumm zu kriegenden, aber ganz leeren x) Anspruch des Bluts. Das Recht ist unverjährbar, aber unfähig sich zu verwirklichen – und solche Rechte erregen Wut und Hass. Deshalb war ich immer sehr vorsichtig gegen ihn; er sollte nicht aus meinem Mund die Stimme hören, er sollte nur mit meinen dienenden Augen die Gestaltsehn. Er will in diesem Punkte – vielleicht am meisten in diesem – sehr zart behandelt werden. Es ist eine Wunde. Ich habe das, eben als Jude, instinktiv gewusst, du nicht. Darum damals mein Schrecken, als du sagtest, du müsstest ihm auch davon schreiben dürfen. Heut magst du es ruhig tun – denn nun weisst du wie es in ihm wirkt und wirst es von selbst richtig tun, nämlich zart. Er ist ja im eignen Hause und nirgends anders zuhause; alles andre sind Gespenster bloss, die nach ihm greifen. Dass er “Findelkind” ist, braucht ihn nicht zu irren, denn es giebt in diesem Hause nur Findelkinder: Christianus fit, non nascitur. Wiltfebers, des ewigen Deutschen, Blut ist noch viel ungeberdiger gegen den “unreinen” Krist aus Nazareth, als jüdisches Blut sein könnte. Nicht das “Geblüte”, sondern das “Gemüte” kocht uns auf, wenn wir an ihn denken; das Geblüt brauchte nichts gegen den Davididen zu haben, aber das Gemüt sträubt sich gegen diesen Sohn Davids, der sich Gott gleichsetzte, weil es mit der kleinen Esther von dem Sohn Davids weiss, der noch “bei Gott” ist.

Liebes Gritli, es tut mir gut,dir so lang zu schreiben wie gestern und heute; es trägt mich etwas weg über die Risse, die noch im Boden unter uns klaffen, verdeckt, überwachsen schon, aber noch nicht zugeschlossen. Lass dich übrigens nicht täuschen von Mutters kombinierendem Verstand; sie weiss meist “alles” aus den geringsten Andeutungen heraus; aber sie versteht gar nichts und wenn sie dicht dabei sitzt. Denk selbst, was sie verstehen kann: mehr als das hat sie auch nicht verstanden und das bleibt dann auch für ihr äusserlich scheinbar “mehr als fragmentarisches” Wissen die Grenze. Ihr gut gemeinter Brief an Eugen ist mir immer noch ein peinlicher Gedanke.

Gritli – du hast mir keine Schmerzen gemacht, keine andern als die die wir uns alle dreie gemacht haben und also keiner “gemacht”. Oder wer? – ? ?

Ich hülle meine Schmerzen in meine Liebe und trage sie zu dir – o du Geliebte.

Franz.

  1. x) wirklich für ihn nur “schattenhaften”

26.VI.[18]

Gritli – diesmal hat es die Post gut gemeint und hat mir deine Briefe vom Sonntag und Montag zusammen gebracht. Obwohl ich auch so schon bei dem feierlichen und formellen Beschluss, mich inskünftige schlecht zu behandeln, ein bischen lachen musste und auch schon dachte, ob sich das Exempel nicht auch anders lösen liesse. Und dennoch – ich musste nur ein bischen lachen und mehr war mir andersherum zumute. Wie haben dich die Schläge getroffen, dass auch du nun weiter schlagen musst. Schlagen mit ungewohnter Hand und ungeschickter Geberde, – aber doch schlagen. Und es tut weh, obwohl ich über dein Ungeschick dabei lachen muss. Es tut weh, Gritli –

Mich schlecht behandeln – hast du mich denn bisher gut behandelt? Behandelt? Ach nein, du bist gut zu mir gewesen, nein auch das nicht, – du bist zu mir gewesen wie dirs ums Herz war. Sei weiter so, sei karg zu mir, wenn es dir karg zu mir ums Herz ist, und wenn dein Herz mir entgegenschäumt – o du, – quill über! Ich werde dich lieben in deiner Kargheit wie in deinem Überfluss, nicht minder in jener wie in diesem. Denn mein Herz ist dein – es liegt vor dir hingebreitet, still bereit und demütig offen, zu empfangen, was dein Herz ihm schenkt, grosse Gabe wie geringe, geringe wie grosse, wenn sie nur kommt aus deines Herzens ganzer, reiner und unschuldiger Einfalt. Von Behandlung aber weiss das Herz nichts und verweigert hochmütig sie anzunehmen, die gute wie die schlechte, und nähme noch lieber die “schlechte” als die “gute”. O Gritli, nimm das Wort zurück, mach es ganz ungesagt – ich spüre ja, wie dein Herz zagte dabei zu sein als der Mund es sprach und gern kniefällig um Verzeihung dafür gebeten hätte. Ich fühle die Not, aus der es dennoch, hocherrötend, dabei stehen blieb und zuzustimmen versuchte. Ich kenne die Not und weil es deine ist, du geliebtes Herz, so trage ich sie mit dir und werde sie dir leicht machen – du sollst dich um die “24 Stunden” nicht sorgen – klopf nur unbekümmert deinen Schlag und lass die Sonne am Himmel wandern; wer seines Pulsschlags sicher ist, den braucht das Ticken der Taschenuhr nicht zu änstigen. Und dudarfst sicher sein, o du φιλον ήτος.

Berlin? du weisst, was ich dagegen hatte; aber seit gestern, wo mir Mutter schrieb, was alles sich in diese “24 Stunden” drängen würde, weiss ich selbst nicht mehr, wie es anders gehn soll. Ich überlasse dir also die nötigen “Schlangenklugheiten”. Ich bin spätestens Mittwoch früh in Berlin, frühestens (fürchte ich) Dienstag früh; sowie ich was weiss, werde ich telegrafieren; hierher kann man von Deutschland aus auch telegrafieren, ganz gewöhnliche Privattelegramme. Und am Sonnabend gegen 7 abends oder am Sonntag zu einer beliebigen Zeit könnte ich von Warschau aus auch telefonieren, allerdings soll nur mit grösseren Orten die Verständigung gut sein. Und wenn dann dies unerwarteterweise nichts werden sollte mit Berlin, dann bliebe (am Freitag und eventuell bis Sonnabend) Dresden. Sehen müssen wir uns – auch wenn es nicht das sein sollte, was wir beide jetzt mit angstvoller Gewissheit davon erwarten: nun dann ist es eben nicht das gewesen, und auch das wollte dann erfahren werden. Aber warum sollte unsre Gewissheit nicht wahrer reden als unsre Angst.

In beidem             Dein.

26.VI.[18]

Lieber Eugen, noch kann ich nicht wieder das Wort unmittelbar an dich finden und doch muss ich es wieder finden. Wir hatten beide jeder den andern zu sehr aus den Augen verloren – nein ich will nicht von dir sprechen, nur von mir: ich hatte mich so sehr gewöhnt, durch Gritli hindurch zu dir zu sprechen, dass ich die simple Wirklichkeit des Ausser = einander im Raume vergass und kaum mehr danach verlangte, dir selber unmittelbar zu schreiben. Die Zeit wo ich dir nicht schreiben konnte, war kurz; das war im März. Seitdem konnte ichs, aber ich brauchte es weniger als je oder jedenfalls: ich glaubte es nicht zu brauchen. Und dann kamen diese letzten schrecklichen Wochen und verschlugen mir den Mund, der schon wenn nicht die Sprache so doch die Rede wiedergefunden hatte –

Und auch jetzt noch. Es ist so vieles wieder aufgewühlt in unserm wechselseitig verflochtenen Schicksal; ich weiss dass Elemente die ich längst für krystallisiert ansah bei dir wieder frei in der Lösung schwimmen. Wir müssen wieder miteinander sprechen. Los können wir doch nicht von einander. Wir können einer am andern erstarren und verstocken, einer am andern lebendig werden – aber auseinanderdröseln können wir den verschlungenen Knoten unsrer Konstellationen nicht mehr. Wir sind einer durch den Feuerkreis des andern hindurchgegangen – du vielleicht durch meinen erst jetzt.

Dies heute ist noch nicht das erste Wort, nur der Doppelpunkt davor. Der Kalender musste drohen, schon um dies Vor = Wort herauszuzwingen. Nun er es erzwungen hat, danke ich ihm dafür – wie ich ihm für das VordreissigJahren danke. Was es eigentlich heisst, dreissig Jahre alt zu werden, das erfahren wir ja beide durch dies vieljährige Solstitium des Krieges nur ahnungsweise. Aber auch davon können wir nun nicht mehr “zurück”, – wie überhaupt von nichts.

Versuch zu sprechen und zu hören und glaub an mich wie ich an dich glaube.

Dein Franz.

27.VI.[18]

Liebes Gritli, es quält dich sehr, mit Mutter zusammenzusein? ich habe es dir vorweggesagt, es würde schwerer sein als du dachtest. Mich quält es weniger als sie selber meint, obwohl ich ihr so gar nicht helfen kann. Ich spüre doch, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben etwas ganz und “grenzenlos” erlebt und dass sie so wenigstens das X.Y.Z. des Lebens lernt, nachdem sie das a b c und das m n o geschwänzt hat. Bei aller Ferne habe ich mich ihr nie so nah gefühlt. Freilich, auch Nähe ist noch nichts, wenn die Brücke fehlt. Und die fehlt. Ich komme jetzt in der Tiefe noch weniger zu ihr als früher auf der Oberfläche.

Ich schrieb gestern noch an Eugen, den Brief den ich dir zu dem Bild beilegte. Nicht den Brief den ich ihm schuldig bin, sondern einen armen Brief, wenn auch verschämte Armut. Er müsste in seinem Unbewussten sehr feinhörig sein, wenn diese ärmliche Stimme die seine zum Tönen bringen sollte. Aber vielleicht braucht ihm die “andre Stimme” gar nicht laut und voll zu klingen, sondern nur überhaupt; vielleicht ist das Gleichnis so gemeint. Und vielleicht irre ich mich auch. Das Gestern ist mir jetzt manchmal ganz weit abgerückt, schon am nächsten Tag. Wenigstens die Worte, die mir, arm oder reich, hervorbrechen. Das Gefühl ist ein einziger unveränderlicher Orgelpunkt darunter weg, ein Akkord im forte von Takt zu Takt, von Tag zu Tag gleichmässig forttönend. Du hörst den Ton darin, der dir zuklingt, gleichmässig pausenlos und unveränderlich – :

Dein.

28.VI.[18]

Liebes Gritli, “so muss denn doch die Hexe ran”; der Notfall ist gegeben, wenigstens sehr wahrscheinlich. Ich bitte dich also nun selber: fahr nach Brotterode u.s.w. Wie du es mit “Tante Paula” machen willst – ich habe keine Ahnung. Aber es wird ja schon gehen. Wir sind dann in Berlin zwischen den Zügen zusammen und du fährst mit; ob bis Kassel oder wie sonst, das lässt sich ja wohl vorher nicht ausmachen. Und geht es nicht, dann muss etwas aus Dresden werden. – Es ist scheusslich, aber es wird doch schön werden; und uns gar nicht sehen – nein das wäre unmöglich. Auch Rudi darf nicht in der von ihm geplanten Massenhaftigkeit anrücken, wenigstens nicht grade wenn ich da bin; vorher ja, das wäre schön für Mutter. Ich habe ihm geschrieben, er möchte allein und nur, wenn ich nicht 12 sondern 36 Stunden in Kassel bin kommen und also auch dann nur für einen halben Tag. Arglistigerweise habe ich zugefügt, ich würde “sogar dich veranlassen, dich an dem Tag zu verflüchtigen, etwa nach Göttingen zu ihnen” !!! Du wirst dich ja nun freilich “verflüchtigen”, um Mutters willen, aber nicht nach Göttingen. Vor allem, wenn es gar nichts mit Kassel wird (auch möglich!), dann kannst du von Br. aus nach Dresden kommen, von Kassel aus doch kaum. – Es ist ja für Mutter vor allem nötig, dass sie das Bewusstsein hat, mich allein für sich zu haben. Komme ich gar nicht, so hat mich “wenigstens auch niemand anders gehabt”. Das ist die – unbewusste – Logik ihres eifersüchtigen Herzens; was will man dagegen machen. Aber wird es denn auch gehen? weisst du schon, wie du es machen willst?

Aber das sind ja dumme Fragen. Ich möchte dir danken dürfen, dass du es tun willst aber wie kann ich dir dafür “danken”, es geschieht ja nur so für mich wie für dich und in uns beiden auch für ihn. Wer begreift das, ausser uns? Und so muss “die Hexe ran”.

Vor allem gieb mir die Adresse an, wie ich dir nach Brotterode telegrafieren kann, und wie nach Berlin.

Hans schickte mir heute einen wunderbaren Brief von Eugen, den letzten (vom Pfingstmontag!) – Ich bringe ihn dir mit. Freilich – ein Näherkommen wohl von beiden Seiten gleich unmöglich. Wie sehr ich Partei dabei bin, habe ich dabei wieder gespürt.   Ach Gritli —– Dein Franz.

29.VI.[18]

Liebes Gritli, ein “Glücksfall” ist fast ausgeschlossen. Das andre, dass uns Minuten genügen würden – ich würde es auch sagen; aber es kommt dazu, dass Mutter (ich merke es genau) die Vorstellung haben muss, mich “allein” zu haben; und wolltest du dich in Kassel künstlich verabsentieren, – nein ich möchte keine Wiederholung jener Stunden unter dem gleichen Dach in getrennten Etagen. Der Notfall ist tatsächlich da.

Nun habe ich freilich vorhin entdeckt dass Brotterode nicht im Harz, sondern im hintersten Thüringen liegt, eine ganze Tagereise von Berlin. Du armes – und der Wartetag möglicherweise in Berlin. Aber ich weiss selbst nicht, wie sonst. Ich würde sagen, wir träfen uns in Weimar, aber wer weiss wieviel Zeit da “ungenutzt” vergeht bis ich da bin, und ob ich über Weimar fahren kann. Von Berlin aus ist alles am einfachsten. Der Zug mit dem ich wahrscheinlich komme, ist um 12 Mittags am Bahnhof Friedrichstrasse. O Gritli, ich sehne mich nach diesem “12 Uhr Mittags”. Hast du dich nur erst bis da hingelogen, so helfe ich dir weiter, dass du gar nichts mehr davon merkst; ich kann perfekt lügen, sogar mit einem gewissen phantastischen Spass daran.

Du fragst immer. ob mir leichter ist. Das ist ja grade die Wunde, die nur deine Gegenwart heilen kann: dass mir nicht leichter wird, wenn es dir leichter wird; es ist ein Band zwischen uns zerrissen, ich werfe mein herunterhängendes Ende nach dir aus und immer wieder fällt es mir zurück; meine Liebe ist noch nie so sehnsüchtig verzweifelt gewesen wie in diesen Tagen, wo sie sich nicht wie zuvor einfach eins, Seele zu Seele, mit dir fühlen konnte, sondern über eine Kluft hinüberlangt. Das “Dein”, unser Eumbolon, bedeutet mir in diesen Tagen nicht “ich bin dir nah”, sondern ist ein Schrei der Sehnsucht, Sehnsucht nach Nähe, nach jener Selbstverständlichkeit, Gleichzeitigkeit, – “bei dir sein – “. Das Dein besiegelt nicht mehr die Nähe, es muss sie als eine Notbrücke erst schaffen. Ohne diese Tage wüsste ich nicht, wie sehr ich dich liebe. Ich dachte ich wüsste es, aber ich habe es nicht gewusst. Ich werde dir wenig von Warschau erzählen können. Ich sitze ja da und schreibe an dich. Das Herz ist nicht glücklich genug um hier zu sein wo es ist; es schlägt gewaltsam am Rande des Abgrunds, es möchte hinüber, zu dir, in deine Arme -: Es ist Dein.

Sonntag früh [30.VI.18]

Liebes Gritli, plötzlich läuft ein Gerücht um, wir würden schon Sonnabend entlassen. Dann wäre der “Notfall” (allerdings abgesehn von Mutters Psychologie) ja nicht vorhanden. Auch würdest du, wenn du erst Donnerstag nach Brott. führest, natürlich unmöglich schon Samstag wieder wegfahren können. Dagegen eventuell Sonntag mir “nach Eisenach entgegen” und das vielleicht ganz offen (??). Jedenfalls würde ich dich rechtzeitig Brotterode postlagernd antelegraphieren (spätestens Freitag oder Sonnabend) und dann Sonntag von Berlin aus über Thüringen weiterfahren, ausser ich fände von dir ein Telegramm Berlin Bahnhof Friedrichstrasse bahnpostlagernd vor; sonst gucke ich also von Naumburg oder Halle ab aus allen Stationen heraus, ob du da bist.

Leider ist das ganze aber nur ein Gerücht, fürchte ich; dann bleibt es beim “Notfall”.

 

Juli 1918

[2.VII.18]

Liebes Gritli, heut kamen deine Briefe vom Hochzeitstag – ich lerne all deine Tage erst dieses Jahr; auch Eugens Geburtstag konnte ich nur dunkel durch irgendwelche Petitfours = Erinnerungen an 1913 allgemein auf “Anfang Juli” lokalisieren und wusste nicht einmal dass damals der 7.VII, mein Eugentag, gleich nach dem natürlichen Eugentag folgt. Und antworten tue ich dir heute; vor einem Jahr fuhret ihr von Kassel ab, Vaters 60ter Geburtstag liess mich da sehr kühl – etwas, worüber ich heute eher lachen als weinen könnte — so ein zweideutiges und kurioses Ding ist das Menschenherz – ihr fuhret ab und ich tat etwas was mir schwer fällt, weil es eben doch ein “Schritt” war in einer Schicht, wo man gerne sich nur tragen lassen möchte, aber manchmal wollen doch auch Schritte getan sein – und zog die dünne Hülle des Sie über unserm Du weg. Ich möchte dir den ganzen Briefbogen voll schreiben mit diesem seligsten Wort der Sprache, das uns geboren wird aus dem allerunseligsten, dem “Ich”. Aber ich tue es nur mit sympathetischer Tinte, die erst im letzten Wort des Briefs sichtbar wird, dieses Briefs und aller meiner Briefe an dich —- du kennst es.

Dein Telegramm vom Sonntag Mittag (es kam schon abends an) überholt ja die Briefe. Es ist noch alles unsicher; und es wird auch erst im letzten Augenblick gewiss werden; diese Details sind ja ohne Interesse, also die Hauptsache: wahrscheinlich werde ich Diestag früh, mittags oder nachmittags in Berlin ankommen, vielleicht allerdings auch erst Mittwoch. Falls ich aber schon Sonntag ankomme, fahre ich dir auf der Thüringer Strecke entgegen; wie weit, das hängt dann von dem Zug ab, mit dem ich in Berlin ankomme und von dem Telegramm das ich von dir am Bahnhof Friedrichstrasse bahnpostlagernd vorfinde; ich telegrafiere dich am Tag vorher ausführlich an. Auf jeden Fall muss ich von Kassel Mittwoch auf Donnerstag Nacht weg, denn die Fahrtunter-brechung habe ich nicht gekriegt und muss also versuchen mir hier die nötigen Papiere zu “verschaffen”, was aber wahrscheinlich gelingen wird. Sehen werden wir uns also auf jeden Fall, da du nach Berlin kommst. Wenn ich noch keine andre Telegrammadresse für Berlin von dir habe, so benutze ich “Anhalter Bahnhof bahnpostlagernd”; da kannst du beim Ankommen bequem nachfragen, ob etwas für [gestr. Margrit ] Rosenstock = Hüssy da liegt.

So greuliches Zeug muss ich dir schreiben und doch – es geht ja nicht anders. Ich hatte dir noch allerlei zu schreiben, aber es will jetzt nicht, – das Fahrplan= etc. Geschreib hat mir die Feder verschmutzt. Beinahe will das “letzte Wort” nicht aus ihr heraus – hör es drum so – mein Mund spricht es, mag sich die Feder sträuben — hör es!

——

4.VII.[18]

Liebes Gritli, ich bin wieder in Warschau und schreibe an dich. Schon nach Berlin; du sollst doch ein Wort vorfinden. Morgen musst du wohl früh heraus, wenigstens wenn ich es fertig kriege schon mit dem Frühzug da zu sein. Du kämst am besten gleich fertig zur Weiterreise. Vielleicht muss ich ja schon gleich vom Bahnhof Friedrichstr. weiterfahren, wenn meine Papiere nicht ganz haltbar sein sollten. Den Zug telegrafiere ich dir, sowie ich ihn sicher habe, d.h. sowie ich über die Sperre bin.

Eugens Telegramm – es war mir ja eigentlich aus ganz anderm  Grunde recht, dass Mutter nichts wissen sollte. Aber sie hat grade in der letzten Zeit so besonders nett von dir geschrieben, jedes Mal; ich glaube, sie ist über die Eifersucht hinaus.(Vielleicht, so komisch es klingt, in Folge der letzten Wochen. Du hast ihr leid getan;  da hat sie offenbar ihr bisheriges Bild von dir als nur blossen Leute esserin – die noch nicht einmal dafür bezahlt – umgestossen oder ergänzt). Also was ich dachte, ist vielleicht gar nicht so nötig.

Es ist alles dummes Zeug. Auf morgen, liebes Gritli. Schlaf  sehr gut.

Franz

[Franz an Eugen]                18.VII. 1918.

Also ‑ die Hoffnung schreibt sich offenbar doch Briefe.

Aber ich werde heut auch gleich wieder in die Schule genommen. Als ich von Trudchen zurückkam (was sehr gut und nötig war, denn ich hatte mir in den letzten Tagen zu allem andern eingebildet, sie wäre mir böse ‑ auch das noch!) (ich hatte nämlich das kleine Löbchen neulich bei uns zu einer Cigarette verführt und Trudchen hatte mich darauf am Telefon mit so kalter Richterstimme behandelt und erklärt sie schickte nicht die Eva, sondern eines von ihren Kindern, um mir die Manuskripte zurückzubringen, sodass ich an der Strafe wohl oder übel mein Vergehen glauben lernen musste; nun war sie aber wieder gut und als ich ihr darauf die nähere Veranlassung zu der Zigarette erzählte, ganz gut.) Aber kurz, als ich zurückkam, war bei Frau Ganslandt ihr Neffe der Pfarrer Schafft. Ich hatte schon von ihm gehört. Ich bat ihn, da er mitten im Sprechen war, zu Abend zu bleiben. Er war fein. Ganz zu uns gehörig. Wir konnten uns die Worte beinahe aus dem Mund nehmen. Er setzte Frau Ganzhandt die Notwendigkeit des Untergangs und die Wiedergeburt auseinander. Bis in die Einzelheiten der Worte war alles so, als ob wieder einer da wäre, der ‑ nun der auf der gleichen Schulbank des Lebens gesessen hätte. Er ist 36 Jahre alt, noch unverheiratet, worüber er herrlich sprach, sehr gescheit aber dabei einfach, Taubstummen-pfarrer für den Bezirk (“die Taubstummen halten mich am Rockzipfel, darüber bin ich glücklich, so kann ich so leicht nicht aus der Kirche herausfallen” ‑ er sprach davon, dass er auch in der Beziehung nichts “wolle”, weder festhalte, noch sich loslasse, sondern auch das nehme wie es ihm gegeben werde.) Er hat in Halle studiert, offenbar von Kähler beeinflusst, ganz frei und weit, im Aussehen etwas gepresst und etwas ins peinlich Selbstzwingerisch = Asketische. Aber mehr im Aussehen als im Wesen. Das Aussehen ist doch oft nur die Vorgeschichte des Menschen. Und nun sprach er, ohne unangenehme Absichtlichkeit so ketzerkirchlich = hansisch =eugensch über das Und von Juden und Christen, wie von etwas Zukünftigem und doch auch wieder wie von Gegenwärtigem (er hatte nämlich grade für das Theol. Littblatt einen Aufsatz von Cohen kritisiert und als”ethischen Idealismus” vermöbelt,und grade trotzdem behauptete er die im Grunde Einerleiheit) kurz er sprach so, dass ich mich schämte und grämte, euch heut vorhin so viel mit dem Unterschied zugesetzt zu haben. Magst du, Eugen, auch Schuld daran haben und mich herausgefordert haben, es war doch mehr als ich sagen durfte; und grade der Zusammenklang mit diesem Fremden, ein Zusammen-klang der doch zunächst nur rein gedankenmässig war, (denn ihn gleich zu lieben, verhinderte mich etwas wie ein Ressentiment, das ich gegen seine Reinheit und bei aller Bewegtheit doch Ruhe empfand), also er war nur gedanklich und doch ein so vollkom-mener Ein= und Mitklang, dass ich heute zum ersten Mal grad nachdem ich es so heftig abgestritten hatte, verspürte dass da doch etwas Institutionelles im Keimen ist. Hier konnte ich ja nichts aufs Private abschieben; ich kannte ihn ja nicht, kenne ihn auchjetzt noch kaum, obwohl wir sehr gut miteinander wurden. So wurde mir zum ersten Mal glaubhaft, was Hans und du Eugen meintet, als ihr den * zu euren Büchern haben wolltet. Für Menschen wie diesen Pfarrer wäre es gegangen. Aber solche Menschen finden ja auch, was im andem Garten wächst. Immerhin ich sehe nun, dass da mehr ist als eine geschichts-philosophische Konstruiererei. Als ich ihm übrigens im Laufe des Gesprächs (d.h. er redete meist und ich hörte ‑ und stimmte ‑ zu), also als ich ihm von meinerjungen Skepsis gegen alles Geschichtsvertheologisieren sprach, meinte er es sei ebenso sündhaft sich gegen solche Erkenntnisse wenn sie sich einem aufdrängten zuzusperren wie sie mit Gewalt ertrotzen wollen, wie nichts = geschenkt = nehmen = wollen genau so sündhaft wäre wie nehmen was einem nicht zukommt. Dagegen konnte (und kann) ich ja einfach nichts sagen, er hat einfach recht.

Ich will also nun wirklich das was du Eugen das Institutionelle nennst, stehen lassen, Ich kann es nicht wie du laut rühmen, aber wenigstens kann ich auch nichts dagegen sagen und will es wachsen lassen ‑ wenn es wachsen will.

Denn ‑ “das Wunder der blossen Gegenwart zweier vertrauender Menschen zeugt vielleicht eine neue Sprache?”

[Franz an Eugen]                                                                                 18.VII. 1918.

Das Fragezeichen, du damals hinter diesen Satz, der dir eben aufgestiegen war (aus einem “Aber vielleicht ist es anders”), schriebst, frage ich heute, – während es dir sich schon lange in einen Punkt verwandelt hatte und du nicht ertrugst, dass ich noch nicht einmal das Fragezeichen setzen mochte. Nun frage ich, wie du damals frugst. Und “obwohl wir das innerste Heiligtum des Glaubens gegenseitig vor einander zugesperrt haben und den Schauplatz des Höchsten, dessen ein männlicher Geist gedenkt, in zwei ewig getrennten Idiomen abbilden” (“a.a.O.”), sollte trotzdem die “neue Sprache” wenigstens zwischen uns schon gewachsen sein? als eine Sprache der Hoffnung? und des Glaubens, der auf den Flügeln der Hoffnung emporgetragen wird; des Glaubens, den du “zu glauben hoffst”; und der ein andrer ist als der der uns über und vor aller Hoffnung gegeben wurde. Und durch den doch auch ein begeisternder Geist wehen muss, so gut wie durch jenen der “innersten Heiligtümer”. Und freilich ist dies Wehen selber erst ein zukünftiges Wehen, und der Geist der durch die neue Sprache rauscht, rauscht erst leise wie aus weiter Ferne. Und wir müssen das Anschwellen wohl erwarten. Und uns indess weiter vertrauen, damit die neue Sprache diesen Sonnenschein der Liebe hat, unter dem allein sie wachsen mag.

Liebet mich.

Euer Franz.

24.VII.18

Lieber Eugen,

tant mieux! ——-

nämlich wenn es wirklich offene Türen waren. Aber du müsstest freilich wissen, dass sie immer angelehnt waren, so dass man bisher von aussen wirklich nicht wissen konnte, ob sie offen waren oder nicht. Ich bin also zufrieden, dass ich sie nun wirklich einmal sperrangelweit aufgestossen habe (und bin neugierig, wie lange sie so stehen bleiben). Denn auf die Werke darfst du dich nicht berufen. Käme es darauf an, so wären wir alle schon von Prima her weltfertige lebenssatte Greise. Und vor allem: die Werke werden ja nicht gelesen. Wenigstens nicht von uns gegenseitig. Wir geraten, wenn wir uns sehen sollen, doch immer auf den bequemeren Weg: wir kucken uns an. Denn wir sind ja eben gleichzeitig. Das Geschriebene ist für die “Nachwelt”, deren erste Generation in den “Schülern” schon heranrückt. Dass wir trotzdem immer wieder in die Versuchung kommen, für einander zu schreiben, das ist grade das dauernde Denkzeichen unsrer Schwäche, unsrer Noch = Unerwachsenheit. Wir können und brauchen es uns nicht gewaltsam zu verbieten. Denn es verbietet sich uns schon von selber: indem wir immer mehr die Erfahrung machen, dass die “für” die wir zu schreiben meinten, uns nicht hören mögen. Und diese härteste Erfahrung nicht als einen Grund zum Verzweifeln, sondern als ein Symptom der Genesung (denn jeder natürliche Übergang geschieht ja in der Form einer Krankheit und Genesung) zu nehmen, das ist die Summe meiner “Lebensweisheit für Dreissigjährige”. Das Reprobari seitens der “Mitschüler” das notwendige Ergänzungsstück zu dem Recipi seitens der “Schüler”. Ich glaube, etwas andres hat in meinem nur teilweise verständlichen Brief nicht gestanden. Jedenfalls war es das, was ich selber daraus gelernt habe.

Nur teilweise verständlich? Du hast mir noch nicht viele Briefe geschrieben, die ich verstanden hätte, ehe ich sie – beantwortet hatte. Ein Brief ist doch kein Buch. Ein Buch muss verstanden sein wenn man es zuklappt. Aber ein Brief schliesst nicht mit einem Punkt, sondern mit den Doppelpunkt des “Gieb Antwort”. Und erst wenn man sich à corps perdu in diese Antwort hineinwirft, erst dann kann man sich bis zu dem Punkt vorarbeiten, wo auch der Brief den man beantworten wollte erst wirklich endet – nämlich eben am Ende der – Antwort.

Du meinst, im Verlangen nach dem Recipiertwerden unterschieden wir uns? O nein, sicher nicht. Der “Turm” setzt da gar keinen Unterschied. Recipitur intra muros et extra. Wir unterscheiden uns da nicht im mindesten, wenn du nämlich wirklich einsiehst, dass dies Recipi um den Preis eines Reprobari gewährt wird und nicht anders. Siehst du das? ich weiss nicht recht. Das was du Tragikomödie nennst, dass du mit Haut und Haaren, nein: mit Leib und Seele recipiert zu werden verlangst, das ist wohl der Ausdruck dafür, dass du es noch nicht siehst. Du stellst noch “deine Bedingungen”. Und verletzt damit das einzige Recht, das der Welt zusteht, und auf das sie infolgedessen eifersüchtig wacht: eben Bedingungen zu stellen. Mehr wie das tut sie ja nie; aber das will sie nun auch wirklich. Überleg dir mal, ob du ihr das zumuten kannst, diesen Verzicht. Ich spreche da etwas als Sachwalter – Jacobis. Darum genug davon. Ich muss noch etwas als Sachwalter meiner selbst sprechen.

Warum wunderst du dich immer von neuem, dass wir miteinander sprechen können. Denn wir könnens, auch wenn wirs oder du es zuvor abstreitest – du tutst den Mund auf und strafst dein anfängliches Abstreiten Lügen. Von “Neutralem” haben wir doch wahrhaftig nicht mehr viel gesprochen, seit du mich A.Bund genannt hast; “durch die Blume” vielleicht schon eher, denn es ist ein gewisses Übersetzen zwischen uns nötig. Dies Übersetzen hast du meistens mir zugeschoben, – mit Recht, denn ich kann es und du kannst es wahrscheinlich nicht. Du hast daraufhin fast unbefangen die Sprache deines Glaubens sprechen können, in der Gewissheit, dass ich sie mir schon übersetzen können würde. Und da liegt die einfache Lösung des Rätsels. Unser Glauben (und also auch unsre Werke) sind verschieden. Wäre der Glauben etwas ganz für sich, so würden wir wirklich kein Wort miteinander sprechen können; auch Übersetzen gäbe es dann nicht. Aber er ist nichts ohne die Hoffnung. Und die Hoffnung ist uns gemeinsam, wie und weil uns der Glaube verschieden ist. Die Gemeinsamkeit der Hoffnung befähigt mich, mir deinen Glauben in meine Sprache zu übersetzen. Und daher können wir wirklich von dem sprechen, “was allein Männern zu sprechen lohnt”. Du bist arg vergesslich – sonst entsännest du dich noch einer Gedichtzeile, worin das alles sehr kurz und gut gesagt war: “mein Feind im Raum, mein Freund in der Zeit”. Kennst du den Dichter nicht mehr? er war bald ein Jahr jünger als du jetzt bist. Und er verleugnet das Gesetz der Welle, die immer wieder neu heranrollt — oh weh! Erinnere dich wenn du kannst; und wenn nicht, nun so fang wieder neu an.

Ich schreibe dir ja immerzu Geburtstagsbriefe, jetzt schon den dritten. Ich komme nicht von der Zahl 30 los. Ich selber bin damals so darüber weggeglitten; erst jetzt wo ich sie in dir mit Augen sehe, wird sie mir zum Eckstein meiner Gedanken, und ich erfahre, was mir geschehen ist. Und da wunderst du dich, dass wir miteinander sprechen können. Es muss doch sein. Sogar wenn es sich nicht begreifen liesse, warum es sein kann, müsste es sein. Wahrhaftig!

——–“N’est-ce pas?”

Dein Franz.

 

August 1918

10.VIII.[18]

Liebes Gritli, es ist doch schön, dir wieder zu schreiben. Noch ist es mir zwar neu; und durch das Gefühl, dass nur ich dir schreibe, nicht du mir, ist es etwas als ob der Brief an einer unsichtbaren Wand abprallte und wieder zurückflöge zu mir – und da ist ja nun auch ein Gritli, ein kleineres, leises, aber doch wirkliches Gritli; also er kommt schon an; es ist etwas wie in dem Schwank vom Wettlauf zwischen Has und Swinegel und du kannst auch rufen: “ik bün all do”. Obwohl du das wohl kaum aussprechen könntest mit deiner basler Kehle.

Am 9.IX. hat Mutter Geburtstag; ich weiss nicht, ob du es weisst; schreib ihr jedenfalls bitte; sie legt ja jetzt auf all so etwas mehr wert als früher, in ihrem grossen Schwäche= Verlassenheits= und Ungepanzertheitsgefühl. Sie denkt jetzt daran, jemand für fest ins Haus zu nehmen. Ich wüsste aber nur Kestners; etwas Bezahltes, künstlich erst Gesuchtes wäre mir undenkbar; Kestners, nicht Hanna allein, wie ich zuerst gedacht hatte; die einzige Schwierigkeit ist die Capelle. Wenn ich, d.h. ich habe Mutter heut darüber geschrieben und wenn sie es für gut hält spricht sie selbst mit K’s darüber, – sonst also werde ich es weitertreiben, wenn ich auf Urlaub bin. Das wird nämlich “an sich” wahrscheinlich schon im Oktober sein, aber allerdings – vielleicht auch erst nach wer weiss wie langer Zeit, dann noch viel wahrscheinlicher werde ich vorher – Infanterist werden. Ich habe immer vergessen, es dir zu schreiben. Mutter darf natürlich nichts davon wissen, solange noch eine Möglichkeit ist dass das Gewitter doch noch vorübergeht. Nämlich es werden infanterie taugliche Leute herausgezogen, auch aus den Flakformationen, schon in den allernächsten Wochen; es sind zwar eine ganze Menge bei uns, mehr jedenfalls als wir hergeben müssen, aber da ich der bin, der am wenigsten zeigen darf, wie unangenehm es ihm ist, so bin ich prädestiniert und rechne schon damit als sicher, geniesse diese zeitreichen Tage als die vielleicht letzten derartigen, die ich in diesem Krieg habe. An sich ists ja schliesslich recht und billig, dass ich nach meinem bisher so unverschämt günstigen Kriegsschicksal nun auch mal in den Dreck komme. Aber schade ists doch. Schon in Warschau war mir der Dienst zu viel und ich kam zu nichts. Übrigens Warschau: ich habe doch bestanden; der Schreiber dort hatte sich geirrt.

Soviel Militärisches wie in den vorstehenden Absätzen habe ich dir glaube ich in all meinen Briefen zusammen noch nicht geschrieben. Meine Schrift ist auch ganz krakelig geworden bei dem unangenehmen Gegenstand. Also vorläufig geniesse ich noch das Leben, vertilge täglich einen Band “aus Natur u. Geisteswelt”, lasse mirs in der prachtvollen trockenen Wärme wohl sein, und tilge Briefschulden, gestern die sehr hoch aufgelaufenen an Hans, das geht nun seit Ende 17, ja eigentlich seit wir uns im Juni 17 in Berlin sahen, und führt doch zu nichts; ich habe das Gefühl wie bei einer “litterarischen Fehde”; es ist kein Du darin; und so bleibt alles schal – und Schale.

Im “Kern der Welt” – Dein Franz.

[11.VIII.18]

Liebes Gritli, wo magst du jetzt sein? d.h. dieses “jetzt” dabei denke ich nicht an heute den 11.VIII. sondern unwillkürlich 10 Tage weiter wenn du diesen Brief kriegst. Um das wirkliche Jetzt laufe ich auch in meinen Gedanken auf Filzschuhen herum, “um nicht zu stören”. Die richtige Briefaskese hat eigentlich erst angefangen seit ich dir wieder schreibe, und ich wollte, es wäre erst der 15te.

Was ich dir gestern – mal wieder – schrieb mit Hans – vielleicht ist ein Stück schlechtes Gewissen oder Dankfaulheit in meinem Unzufriedensein. Denn eigentlich gehen mir seine Fragen an die Wurzel und sind ganz einfach; und ich antworte ihm weniger einfach und sachlich, als er fragt. Vielleicht müsste ich sein Fragen ein gutes Stück ernster nehmen und mich nicht hinter den Ärger über seine Unpersönlichkeit, das “Interviewerhafte”, zurückziehen, wie ichs immer wieder tue. Vielleicht sind es allerdings auch Fragen, auf die ich mit Antworten nicht antworten kann, sondern denen ich mich durch die Tat entziehen müsste. Seine Stellung ist insofern stärker und gefährlicher für mich als Eugens 1916er, als er nicht das, sondern nur mein Judentum in Frage stellt (was Eugen zwar auch tut, aber mehr auf Grund der ersten Infragestellung). Also eigentlich grade weil er in höchst sachlicher Weise doch nur das Persönliche aufs Korn nimmt. Und das Persönliche ist durch eine sachliche Klarstellung noch nicht gerettet.

“Gegen” Mutter habe ich eine unvermutete Bundesgenossin gefunden: eine Kassler Dame, Frau Giulini, mir nur von (vielem) Hörensagen bekannt wie die meisten Menschen meiner Eltern, hat ihr ein Wort gesagt, das ihr auch wirklich eingegangen ist: Man kommt mit andern Freunden aus einem Unglück heraus als man hineingegangen ist. Das ist ja genau was ich ihr immerzu sage und eine prachtvolle Formulierung. Ich hoffe jetzt doch wieder, dass sie durchkommt. Manchmal hatte ich es jetzt aufgegeben. Du warst vielleicht in der schlimmsten Zeit bei ihr.

Beckeraths waren in Kassel. Nach Detmold gehen sie nicht. – Ende August besucht Frau Cohen Mutter.

Dies ist ein durcheinandriger Brief. Ich kann dir noch nicht wieder schreiben. Du bist bei mir, aber stumm. Müsste mir das nicht genügen? Aber es genügt mir nicht. In ein paar Tagen sprichst du wieder zu mir. Es ist unrecht, dass ich mich auf den 15ten freue, vor dem du dich ängstigen musst, und die Tage herumwünsche, die du in die Länge ziehen möchtest. Aber vielleicht bleibt Eugen noch zur Kur, dann liefen meine Wünsche nicht gegen deine. Es war eben doch ein gewaltsamer Gedanke – das mit dem Nichtschreiben. Und alles Gewaltsame – nein wir müssen fügsam sein. Was hilft alles Wollen. Im Ganzen nichts, aber im Einzelnen auch nichts. Man soll sich auch für “14 Tage” keine Vorschriften machen. Man weiss ja nicht, wie lang oder kurz “14 Tage” sind. Nein: ohne Willen, – aber auch ohne Willenslosigkeit. Müssen. Das Müssen allein braucht sich nicht zu fürchten und zu fragen ob seine Kräfte auch für “14 Tage” ausreichen. Es ist grade so stark als es jeweils sein – muss. Ich habe dich lieb.

Franz.

12.VIII.[18]

Liebes Gritli, dies ist der betrübte Rest des Warschauer Papiers; er soll doch noch an dich verschrieben werden. Gestern kam abends noch eine Freude: Eugens Brief vom 4. (sogar vom 5. gestempelt, so schnell geht es also doch!) und also ein Ton von euch; ich hatte doch mehr danach gebarmt, als ich selber wusste. Obwohl doch nur ein Mal das Wort “wir” drin stand (ihr läset Rankes Königsvorträge) – aber nun war ich doch für einen Augenblick bei euch, trotz meiner dummen freiwilligen Selbstverbannung, und sah euch.Ihm selbst schreibe ich morgen oder wenn ich das Heft der “Stimmen der Zeit” aus habe. Ich meine gar nicht, dass das “seine Zeitschrift” ist, wie er schreibt. Selbst das Beste darin oder eigentlich das einzige Gute, der erste Aufsatz (über die Ehe) ist noch gefangen in theologischer Schulsprache, und alles andre ist übrhaupt gefesselt, nicht bloss im Wort, sondern im Denken selbst. Aber ich will mir nicht vorgreifen und alles erst richtig lesen. Es ist ein grosser Jammer, dass die Schwarzen genau so wenig wie die Roten und die Goldenen in ihrer Masse schon begriffen haben, dass ihnen die Zeit gehört und dass sie nur zuzugreifen brauchten, so hätten sie sie in der Hand. Statt dessen sagen sie ihre Lektion auf, halten die Hände ängstlich auf dem Rücken gefaltet und inzwischen läuft sie ihnen davon. Aber wirklich genug davon.

Von der franziskanisch = jakobitischen Pulververschwörung gegen bzw. für seine Professur schreibt er nichts, und doch wüsste ich gern, wie er insbesondere Jacobis Brief aufgenommen hat. Mir ist inzwischen noch klarer geworden, dass man sich durch O. Victors Beruhigungsmelodie und Jacobis Zaghaftigkeit nicht abhalten lassen darf. Es muss etwas Gründliches geschehn. Ich bin wieder wie zuerst für den Sprung von der Plattform der 22 reichsdeutschen Universitäten in die ihr zugeordnete schon vorhandene University extension; extension über die ausserakademishen Stände einerseits, der  ausserreichsdeutschen Mitteleuropäer andrerseits, als die wahre und wirkliche Universitas des gegenwärtigen Zeitalters. Da gehört er hin, an irgend eine Stelle, nämlich an die Stelle zu der er durch irgendwelche Beziehungen sich den Zutritt schaffen kann. Über seinen Kopf weg ist es doch nicht gut zu machen. Aber er muss es eigentlich selber einsehen, dass er als Extraordinarius in Strassburg oder Greifswald 1920 genau so wenig die universitasbedürftigen Hörer findet wie 1914 (13 darf ich nicht sagen; da war ja einer) in Leipzig. Denn die universitas lassen sich nur die Randmenschen gefallen, die “Fachbeflissenen” selber nie. Und deshalb muss er an den Rand gehen. Er ist doch Missionar auch da. Der Missionar kann zu den Wilden gehn oder zu den Enterbten; versteift er sich aber darauf, in die Salons zu gehn (was an sich natürlich genau so nötig wäre), so hat er nur die Wahl zwischen Stilleschweigen und Hinausgeschmissenwerden.

Das ist nun ein Brief an Eugen geworden. Ob er ihn wenigstens noch bei dir trifft, sodass du nicht abzuschreiben brauchst?

Guten Abend –

Dein Franz.

13.VIII.18

Lieber Eugen, nein – deine Zeitschrift ist es nicht. Ich habe sie nun auch “von A – Z” gelesen (sogar die von dir nicht aufgeschnittene Seite), – aber gelernt daraus? am ehesten noch aus den beiden Rezensionen zur Entwicklungspsychologie; da spricht ein Mensch, der in der Sache, “über” die er spricht, auch wirklich “drin” steckt. Aber in den grossen Artikeln fehlt dies aus = der = Sache = heraus = reden ganz. Die Sache wird vorgeladen, verhört, und dann mit der katholischen Wahrheit konfrontiert, worauf sie rot wird und die Augen niederschlägt. Ich spreche nicht vom ersten Artikel, über die Ehe. Der ist Theologie und als Theologie sehr gut, freilich etwas zu sehr la théologie pour la théologie; wer in dem Begriffssystem “gnadenanzeigend”, “gnadenverleihend”, “heilig-machend” u.s.w. u.s.w. nicht zuhause ist – wie weit ist das eigentlich der katholische Laie? -, der kommt doch nicht recht mit. Aber immerhin, der Artikel bleibt in der Theologie und ist dadurch stark; er ist der einzige, der einfach “recht hat”, d.h. der sein Thema bis auf den Grund ausschöpft. Die andern aber sind alle oberflächlich, weil sie alle eben bloss vergleichen. Nimm den über die Theosophie. Ich weiss nicht, ob (ich glaube nicht, dass..; ich fürchte, dass du nicht..) die Christliche Welt liest. Da spielt sich augenblicklich eine Auseinandersetzung über Steiner ab zwischen Joh. Müller als Angreifer und Rittelmeyer als Verteidiger. Man erfährt daraus gewiss weniger direktes und einzelnes über Steiners Lehren als bei dieser scheinobjektiven Zitiermethode (Methode, denn sie ist genau so in dem Aufsatz über Expressionismus). Aber dafür ists Auseinandersetzung mit der Sache. Müller und Rittelmeyer zitieren beide fast überhaupt nicht. Der S.J.= Mann erzählt erst die “Geschichte”der Bewegung, streut die nötigen und üblichen persönlichen Verdächtigungen ein und dann springt er ins Thema: Ist das mit der Kirchenlehre zu vereinigen? “Die Kirche lehrt…” “Steiner lehrt…”. Weder Erklären, noch Begreifen, noch meinetwegen Beschimpfen, sondern ganz seelenloses Vergleichen, und damit ist es gut. – Ich bekenne, obwohl ich neugierig war, daraus nichts aber auch nichts gelernt zu haben. Denn dass der Steinersche Wortlaut sich mit dem katholischen Wortlaut nicht deckt (über mehr als über den Wortlaut kann so ein Vergleich überhaupt nichts aussagen), das habe ich schon vorher gewusst, weil es sich von selbst versteht. Wenn nicht die Sache noch in den späteren Artikeln nachkommt, in diesem kam sie noch nicht vor. Der Artikel, und genau so der über Expressionismus, ist nur defensiv, besser: nur apologetisch, keine Spur missionierend. Ich meine in dem Sinn: wenn Steiner diesen Artikel liest, wird er sagen: “Nun gut, ich bin kein Katholik; das wusste ich schon. Und was weiter?” Dagegen die Auseinandersetzung in der Christl. Welt auf einen Ton geht, dass Steiner gezwungen wäre, selbst in die Diskussion einzugreifen, sich zu wehren, sich zu klären, kurz sich überzeugen zu lassen und zu überzeugen. Kurz, die Christl. Welt rechtfertigt da ihren Namen (und die “Stimmen der Zeit” eigentlich auch; wenn man unter Stimme den wortlosen blossen Schall versteht).

Der Aufsatz des Polen über Russland ist in der Darstellung nicht übel, wenn auch inhaltlich gar nicht neu; jede “bessere” Zeitschrift hat wohl, mindestens während der Krieges, einen Aufsatz über das Thema gebracht, wo das gleiche drin stand; von Nötzels Buch gar nicht zu reden; auch in Hahns de moribus Ruthenorum steht das alles ja schon; und unmittelbar vor dem Krieg in Harnacks Akad. Abhandlung “Geist der morgenl. u. abendl. Kirche”. Der Aufsatz in den St. d. Zeit leidet aber wieder unter der einseitigen Konfrontation hie Russland – dort Rom. Auf das eigentlich Merkwürdige, nämlich die Beziehung, die sachlich zwischen Russl. und dem “Protestantismus sowie der modernen Ethik” bestehen, kommt er nur ganz flüchtig als auf eine litterarische Berührung zu sprechen, auf der letzten Seite oben. Und doch fängt da eigentlich erst die Wichtigkeit der russischen Moral für die Zeit an. Ganz grob formuliert: wie verhält sich die russische Kirche zum “Dritten Reich,” zur “Johanneskirche” Schellings oder wie man es nennen will? Ist sies etwa?? Was ists mit dem Panslawismus, vor allem mit Solowjeff? Das sind die Fragezeichen, die über einem Aufsatz stehen müssten, der wirklich “Modernstes Zukünftiges Neuestes” zu lernen und zu bedenken geben würde. Aber dem S.J.= Mann ist ja die gegenwärtige russ. Revolution grade gut genug dazu, die Inferiorität der “russ. Moral” gegenüber der römischen zu “erläutern” – dieweil ja Blut dabei geflossen ist (was bedarf es weiter Zeugnis)! Im Grunde eben auch hier wieder der ganz arme Vergleich dessen was erkannt werden soll mit dem Einfürallemalerkannten, mit Rom. Was kümmert ihn die Welt! existiert sie überhaupt? Rom ist da, μετρον άπανιων. Wieder Vergleichen statt Erkennen. Wieder Abwehr, statt Auszug Erkundung Kampf.

Der Aufsatz über Expressionismus. Weshalb überhaupt geschrieben? Offenbar hätte die religiöse Phraseologie der theoretischen Begründer allein ihn noch nicht μετρον άπανιων veranlasst, auch noch nicht die christliche Stoffwahl, die in den letzten Jahren dazu kam. Aber dass die Katholiken Conrad u. M.Fischer darauf geraten sind, das endlich wird Veranlassung, dass sich auch S.J. damit beschäftigt. Damit? Womit? Etwa mit dem Expressionismus? Schanden [?]halber so ein bischen auch; aber richtig im Schwung ist der Aufsatz erst, wo er mit sanfter mütterlicher Hand die beiden irregegangenen Söhne zurecht = und zurück nach Beuron weist. Immerhin ist hier wenigstens in dem Schlussabsatz ein gewisses Armeauftun, und das ist das Beste daran. Die Darstellung des Expessionismus ist nicht besser sondern weniger gut, unbeholfen an der Krücke von Zitaten hinkend, also weniger gut als das, was die “protestantischen” “Universitäts-revuen” darüber bringen.

Das Stück über die Viebig in den Rezensionen ist von ganz normaler Dummheit. Das interessante Stück über “Klassisch oder romantisch” am Schluss des Hefts ist – aus dem Hochland. Überhaupt nach dieser Probe doch lieber Hochland als S.J. Die Jesuiten sind und bleiben doch eben Mechaniker. Offenbar – sint ut sunt aut non sint.

Es ist ja jammerschade dass es so ist. Als ich Brief und Heft bekam, war ich ganz bereit, dir zu glauben was du von dem Heft schriebst. Es entsprach ja so ganz meinem Vorurteil, das ich seit Beginn des Kriegs habe: dass dieser Krieg Roms Geschäfte besorgt und dass es gut so ist. Aber beim Lesen, schon beim Anblättern nicht erst beim A – Z purzelte ich wieder von meinem Vorurteil herunter. Luther hat dem Katholizismus die Luftwurzeln, die er in die Welt geschlagen hatte, ausgegraben; nun sind sie verdorrt. Es war einmal, da herrschte der Papst über die Welt; jetzt herrscht er nur noch über die, die von ihm beherrscht sein wollen. Der Heilige ist noch möglich, der Ritter nicht mehr. Die Ritter sind protestantisch geworden. Die Hochlandleute, die aus der Kirche Ritterfahrten unternehmen wollen, gucken die amtlich bestellten Torhüter und S.J.=Zionswächter jedesmal, wenn sie wieder durchs Burgtor heimreiten, ängstlich nach, ob sie auch ja nicht unzulässige Gegenstände als Beute von draussen mitbringen. Der unverdächtige Dienst geschieht am Tor und auf der Mauer, ritterliche Ausfahrt bleibt verdächtig. – Schade.

Ich schicke dir als Kuriosum ein älteres Heft der Chr. Welt mit, das ich noch hier hatte und das ich vorhin heraussuchte, weil mir einfiel, dass darin ein Stück der Steinerpolemik stand und ich sehen wollte, ob ich zuviel gesagt hatte. Nun schick ichs dir, denn gleich dahinter steht – ein Aufsatz über Expressionismus. Natürlich sind die Protestanten ein paar Monate früher aufgestanden als das katholische Gegenstück. Schick doch das Heft der St.d.Z. bitte mal an Rudi (die Nr. der Chr.W. bitte nach Kassel).

Hans? Er hat doch den Krieg als weltliche Tatsache überhaupt erst in Deutschland wieder entdeckt. Was er anfangs gelegentlich darüber äusserte, war ganz kleindeutsch, ganz 70/71. So sehr hat er ihn nur für sich richtig durcherlebt. Er war nicht bloss Soldat, er war wirklich Krieger. Als dann der Doktor in ihm wieder die Augen aufmachte, da kam zuerst wieder nur Reflexion über den Krieg selbst; das gab die noch im Feld (bei der Artillerie) geschriebenen ersten Kriegsaufsätze. Und erst seit er wieder in Deutschland ist, entdeckte er die politische Welt, in der der Krieg bloss geschieht.

Ob du wohl noch in Deutschland bist? ich rede es mir ein. Für den Fall grüss Gritli; ich schreibe ihr nach diesem langen Skriptum an dich heute nicht mehr.

Und sei selber, mit oder ohne, gegrüsst von Deinem

Franz.

14.VIII.[18]

Liebes Gritli, ich bin müde, nicht etwa von “Krieg”, sondern von einem Brief von Mutter, über dem ich gestern Abend noch ein paar Stunden aufsass. Sie hat eine Auseinander-setzung mit Frau Gronau herbeigeführt, als die sie am 7ten endlich aufzusuchen Zeit gefunden hatte. Dabei ist sie aber aus der Rolle der Anklägerin gleich in die Verteidigung gekommen; denn Frau Gronau hat ihr plötzlich ein langes Sündenregister, bestehend aus lauter dummem Zeug, vorgehalten: nicht genügend ausgeliehene Mädchen, überhaupt nicht genügend “Opfer gebracht” u.s.w. – Und daraufhin sei sie, Frau Gronau, mit ihr “fertig”. Dies ist nun das Ende, skurril, ein Gezänk. Das Rechtbehaltenhaben ist ein bitteres Vergnügen; hier könnte ichs haben; Mutter pflegte mir immer Frau Gronau entgegenzuhalten als Exempel, wie jemand der nur auf sein eigenes “Gewissen” höre vortrefflich sein könne; jetzt ist sie ihr selbst mit diesem rechenschafts= und einblickslosen “Gewissen” entgegengesprungen. Für Mutter ist das Ganze “Undank-barkeit”, da sie sich grade eingeredet hatte, immer viel für sie getan zu haben, und jetzt ausdrücklich gesagt kriegt, das sei alles gar nichts gewesen, sie seien beide (Vater und sie) “ungeheure Egoisten” gewesen, von “Eitelkeit” besessen u.s.w. Und grade “Undankbarkeit” ist das was sie jetzt besonders erschreckt, weil sie sich auf den “Dank” der Leute angewiesen vorkommt. (Was natürlich Unsinn ist). Beim Schreiben kam es mir vor, als ob ich ihr Ohr erreichte; jetzt hinterher wo ich über meine Antwort reflektiere, weiss ich wieder gar nichts mehr und tappe im Dunkeln wie stets bei ihr. Das Sonderbare: dennoch habe ich das Gefühl als ob es wieder aufwärts mit ihr ginge. – Müsste sie denn eigentlich an so einem Fall nicht sehen, dass es auf das Sich = “Brauchen” nicht ankommt? Ich halte die Undankbarkeit der Menschen für “Guttaten” für einen der hoffnungsvollsten Charakterzüge der maudite race à laquelle nous appartenons. Der Mensch nimmt zwar was er geschenkt kriegt, aber es fällt ihm gar nicht ein, es dauernd schwer zu nehmen; auf die Dauer lässt er sich nicht kaufen, sondern will bezwungen werden. Nicht die “Wohltäter” sondern die grossen Schlächter sind die wirklich volkstümlichen Helden. Gestern schrieb ich dir nicht; ich hatte einen langen Antwortbrief an Eugen geschrieben und bildete mir plötzlich sicher ein, er wäre noch mit dir zusammen. Ist es wohl wahr? Und morgen fängst du wieder an, mir zu schreiben. Und eine Woche danach hab ich den Brief. Ich freue mich sehr auf dich.

Dein Franz.

15.[doppelt unterstr.] VIII.[18]

Liebes Gritli,

– – ich sitze ganz stumm vor den zwei Worten und möchte weiter gar nichts schreiben, habe auch eigentlich gar nichts weiter zu schreiben, – und habe ich dir denn eigentlich je etwas andres geschrieben? Es geht mir mit den zwei Worten wie den Kindern wenn sie einen Schulaufsatz darüber machen müssen, was alles dazu gehört, wer alles dazu hat arbeiten müssen, bis sie ihr Brot zum Frühstück haben. So wie diese weitläufige und in sehr vornehme Regionen führende Vorgeschichte des Brods, so verliere ich mich beim Angucken der zwei Worte in die weitläufige Vorgeschichte was alles dazu gehört hat, dass ich sie dir nun schreiben kann, – die Vorgeschichte die wir wissen und die andre längere die wir nicht wissen und sie führt auch in sehr hohe Regionen. Bäcker und Müller, Schmied und Bauer, Sonne und Regen, Himmel und Erde – die andre Geschichte mag ich nicht schreiben, es ist zu schön, stumm hineinzusteigen und zu denken was war – und was ist. O du liebes Brot meines Herzens, nun bist du da, und ich danke allen Menschen und Kräften und Mächten, die dich geschaffen und bereitet haben. ————–

Liebes Gritli —————-

16.VIII.18

Liebes Gritli, jetzt habe ich Rudis letzte 3 Predigten vor der grossen Pause, die ich damals nicht mehr kriegte. Sie sind sehr gut, und machen auch den Weg des Ganzen, die Richtung die es nun weiter nehmen wird, deutlich. Sie handeln von der Frau, von der Gemeinschaft, vom Deutschen. – An diesem Werk arbeitet er nun seit Ende 1912 und ist äusserlich noch nicht zu 2/3 fertig. Was sind wir für eine langsame Generation. Wenn es einmal fertig sein wird, – einen grossen Erfolg erwarte ich mir nicht, weil es keinem breiten Bedürfnis oder Instinkt entgegenkommt. Und die engeren Kreise werden nicht recht wissen, was damit anfangen; das Romanhafte darin ist auch nicht deutlich genug. Vielleicht ist ja inzwischen die Abschrift der 40 bei dir; sie sollte ja eine Rundreise machen; was ich hier habe, sind handschriftliche Originale.

Ich schicke dir für Eugen das Grabowski = Heft wegen des Goethe und Bismarck = Artikels (damit er sieht, wie man so etwas machen muss, wenn man nicht verletzen will!!!!!) Bitte zurück nach Kassel auf dem Umweg über Rudi. Ausserdem stecke ich in der Cohenschen Logik, verstehe sehr wenig, teils aus nicht genügend mathematischen Kenntnissen, teils wegen der protokollhaften teils, teils epigrammatischen Kürze. Da ich aber dabei fortwährend vergesse dass er tot ist, ihn frage, ihm dreinrede, ihm Unmöglichkeiten sage, die er sich “von niemand sonst gefallen liesse”, und er antwortet – so ist es doch sehr schön; ich benutze die bedruckten Blätter so etwas als Zauber= und Beschwörungsbuch. Das wäre ihm gar nicht recht, – aber war ich ihm denn überhaupt recht? ich habe selten einem Menschen gegenüber  das Gefühl gehabt, dass das allereigentlichste Zusammenwachsen erst in weiter Zukunft geschehen würde, und so ist mein Gefühl auch jetzt noch.

Nun ist dein Brief unterwegs hierher. Komm bald, Gritli ———————

zu mir.

17.VIII. [18]

Liebes Gritli, mit dem Urlaub wird es vielleicht doch noch bis zum November dauern. Wenn nicht bis dahin das “Schicksal” überhaupt dazwischen gegriffen hat, was eigentlich das Wahrscheinlichste ist. Eine Untersuchung war schon. Vom Kriege, der schliesslich auch hier ist, “ganz zu schweigen”. Aber so lange noch nichts bestimmt ist, hält man sich unwillkürlich an den gewohnten Ablauf der Dinge – und der sagt eben: in 2 oder 3 Monaten: Urlaub. –

Hildebrand will die Plakette machen. Ich bin sehr froh. Selbst wenn es für uns nichts sein würde, womit man ja bei H. genau so sehr rechnen muss wie bei Mamsel Pfeiffer, dann doch eben kai; ejssomenoisi puqesqai – wie geht es denn deinem Griechisch? hast du die Sonntagspensen “gemacht”? Ach nein – wie geht es dir selber? ich weiss ja gar nichts von dir, und bin noch dazu selber schuld daran. Von dir, von allem um dich herum, angefangen vom blauen Tuch und aufgehört bei Himmel und Erde. Nun seh ich dich plötzlich doch und grüsse alles Blau um dich herum und dich mitteninne, Gritli im Blauen – mein Herz ist ein gehorsamer Maler – ” Herz Maler, mal er mir…”

Hab mich lieb.

[17.VIII.18]

Lieber Eugen, sieh mal: die Margarethe Susmann ist, als Georgegeschöpf und Jüd = in, dreifach verhindert, etwas unmittelbar zu sehen; und trotzdem kriegt sie immer noch etwas toto coelo Näheres und selbst Unmittelbareres zustande als der S.J.er, der – Schmach u.Gram – überhaupt vergisst, dass er 1918 schreibt, während M.S. zwar nicht weiss, was 1918 ist, aber doch ganz voll davon ist, dass es 1918 ist.

Das Bismarckaufsatz Heft schick bitte nach Kassel weiter; das Astrologiebuch behalte; ich habe schon seit 5 Jahren darauf gewartet, dass es einer schriebe. Da hast du die antichristliche Zeitrechnung, nämlich die Travestierung (Verkleidung) der Weltge-schichtlichen Zeit in ihre welträumlichen Beding = ungen. Das Horoskop ist die vollkom-menste Auslöschung der Jahreszahl.

Aus Nat.u.G.welt, Göschen, Reklam gehen aus Papiermangel ein! Und Ludendorf führt noch immer Krieg. Die Chance des 20.III.18 wird nie wiederkehren; sie ist durch den Beginn der Manöver der Potsdammer Wachtparade auf dem altgewohnten Exerzierplatz am 19.III. auf immer verspielt. Jetzt nur noch: raus aus dem Dreck, ehe es noch schlimmer wird – mögen die Engländer Konstantinopel nehmen (Deutschland wird dafür “Briay” kriegen. Denkst du noch an Wiltfeber, dessen ganzes wildes völkisches Kreissen zuletzt die Maus “Basel muss wieder heim zum Reich” gebar? Jedes Volk hat eben auch die Pan(…)isten, die es verdient.

17.VIII.18                    Dein Franz.

18.VIII.[18]

Liebes Gritli, beim Ordnen von Briefen finde ich noch diesen Gang der Mensur Hans = Eugen. Hansens Brief, den du ja kennst, gieb Eugen wieder; und Eugens lies und schick zurück an Hans. Wie wenig  könnte  ich die von Eugen mir zugemutete  ehrliche Maklerrolle dabei spielen. Auf Eugens blutroten Hauptsatz in dem Brief geht Hans überhaupt nicht ein. Dies, und nicht alle formulierten  Gegensätze,  ist das eigentliche Symptom der Unmöglichkeit zueinanderzukommen. – Den Gelegenheitsbrief muss ich wohl in Kassel gelassen haben; hier ist er keinesfalls.

Ich lese fleissig und fast ohne was zu verstehen die Cohensche Logik. Er setzt masslos viel Mathematik und Geschichte der Mathematik voraus, dazu noch viel zeitgenössische Aussichten, und alles nur in Anspielungen. Hie und da kann ich wohl mal folgen; das lohnt sich dann fast stets; im Putzianum (dem blonden) habe ich ihn tatsächlich in einigem antezipiert. Im ganzen ist er unheimlich hegelianisch, bis in Einzelheiten, ohne es zu wissen. Eben deswegen komme ich nicht recht mit ihm zusammen. Stünde nicht das Religionsbuch am Ende, worin er tatsächlich (wenn auch nicht mit Bewusstsein) einen grossen Widerruf tut, so würde ich mich durch den dicken Hirsebreiberg der 4 oder 5 Systembände nicht durchfressen. – Das Schreiben in Anspielungen, so verlockend und papiersparend es ist, sollte man sich wirklich verbieten; wenn man nicht grade das Glück hat, im Jahr 1800 zu leben und also einen Zeitkreis um sich zu haben, der en bloc der Folgezeit vererbt wird; so ging es Hegel mit der “Phänomenologie”, deren Anspielungen fast nur auf Dinge gehen, die uns heut noch genau so lebendig sind wie sie damals waren. Aber das ist eine Ausnahme. Der Kreis der 60er bis 80er Jahre, in dem Cohen grossgewachsen ist, ist uns heute schon so fremd und wird uns auch kaum je wieder interessant werden. Dass er in dieser Zeit dann noch das geworden ist, was er ist, das ist eigentlich ein Wunder. Weil er doch wirklich in der Zeit gelebt hat, sich von der Zeit genährt hat, und nicht wie Nietzsche von seinem eigenen Fleisch. Aber die Erklärung liegt eben in dem Stück Fremdheit gegen die Zeit, das er von Haus aus hatte und sich immer bewahrte. Und deshalb wäre es eigentlich nur natürlich, wenn sein zeitfremdestes Buch auch sein grösstes geworden wäre. (Wie ich ja eben vermute).

Da habe ich unwillkürlich den Abriss des Aufsatzes hingeschrieben, den ich am Ende, wenn ich durch bin, über ihn u. speziell über das Nachlassbuch schreiben will. Nun wäre es wieder gut, wenn ich – Durchschlag hätte. Oder vielleicht ist es auch besser so; damit ich dieses wirkliche Vor = Urteil lieber wieder vergesse und erst einmal urteilsfähig werde; obwohl ich gefunden habe, dass die Nachurteile doch meist den Vorurteilen auf ein Haar gleichsehen. – Meins über dich allerdings nicht. Aber dafür deins über mich. Übrigens einmal war ich doch schon sehr eingenommen von dir: als du mir durch Mutter auf den Dub Äpfel schicken liessest und ausdrücklich auf einen Bedankemichbrief verzichtestest. Du konntest doch nicht ahnen, dass ich ihn so reichlich nachholen würde – den Bedankemichbrief.

Dank, Gritli – Dein Franz.

19.VIII.[18]

Liebes Gritli, ich bin recht innerlich verwütet, in einer Stimmung, wo ich dir besser nicht schriebe. In einigen Tagen muss ich – Folge von Warschau – dritten Mann beim Skat der “Herren” machen. Das bedeutet 4 Nachtstunden, die ich bei meinem absoluten Schlafbedürfnis am Tag nachholen muss. Was da noch übrig bleibt, da ich ohnehin auch mehr Dienst habe – weiss ich nicht. Und einen Schutz gegen Versetzung zur Infantrie bedeutet es erfahrungsgemäss auch nicht. Im übrigen ist ernsthaftes Pech viel leichter zu ertragen als eins, das in so lächerlicher Form auftritt. “Wenn ich der Bey von Tunis wäre” würde ich nicht nur…und…und…, sondern auch auf den Besitz von Spielkarten Todesstrafe stellen.

Vielleicht wird mir wieder besser, wenn erst deine Briefe kommen. Ich bin zum Zerreissen gespannt auf den ersten. Gar nicht, nicht im geringsten aus irgend einem noch so leisen Gefühl der Unsicherheit heraus, ich bin deines Herzens so gewiss wie meines eigenen, gewisser fast, ich trage es mit mir jeden Augenblick; und wollte ich es fragen, jeden Augenblick könnte ichs, aber ich frage es nicht, ich brauche es nicht zu fragen. Nein, aber das ganz Äussere, das einfache “Wo bist du”, das ganz simple “Wie geht es dir” – ich habe mich manchmal über diese Redensart mokiert, jetzt in diesen Wochen habe ich gelernt dass es keine blosse Redensart ist, all meine Spannung brennt in dieser dummen entsetzlich nebensächlichen und doch entsetzlich hauptsächlichen Frage

Wie geht es dir, Gritli? Sags mir, sags mir bald.

Dein Franz .

20.VIII.[18]

Liebes Gritli, inzwischen verschieben sich meine Urlaubsaussichten, – ganz abgesehn von der Wahrscheinlichkeit, dass ich vom Zug fortkomme – abermals um 2 Monate. Es heisst nämlich solange sollten die zurückgesetzt werden, die das letzte Mal von der Urlaubs-sperre profitiert hätten. Aber es ist überhaupt aufreibend, an Urlaub zu denken; es hemmt den nun mal notwendigen Prozess der Verkrustung. Man muss “an Ort und Stelle” sein und den Tag nehmen wie er gelaufen kommt und gar nicht daran denken, dass es anders sein könnte. Freilich gehört dazu auch, dass erst einmal das Briefleben wieder im Fluss ist und bis jetzt ist es noch nicht einmal mit Kassel wieder zum ersten Hin und Her gekommen, – von Säckingen gar nicht zu reden, das doch wirklich auch in dieser Beziehung, und nicht bloss wegen der Schweizer Grenznähe, Eugens Benennung als “Ultima Thule” verdient. Aber das ist ja nun nur noch eine Frage von Tagen, und ich will nicht ungeduldig sein. Ists am Ende auch die absolut aussichts= und endlose Kriegssituation, die auf einem lastet? So war es voriges Jahr um diese Zeit nicht, wenigstens in der äusseren Politik nicht; da spitzte sich alles auf den günstigen Moment zu, der dann um die Jahreswende eintrat und dessen Chancen dann in diesem Jahr systematisch verpulvert wurden, bis wir schliesslich da standen wo wir heute stehn. Manchmal ist mir zumute wie Eugen jetzt zumut gewesen sein muss: ich zweifle, ob wir, selbst wenn wir nachher noch da sind, überhaupt noch die Kraft haben werden unsre Arbeit, ich meine: unsre eigentliche Arbeit, zu tun. Wir sind ja grade um den für das “Heraustreten” entscheidenden Augenblick, eben die Wende von 20 zu 30, durch den Krieg betrogen. Wollen wir das, was wir als 28jährige hätten sagen müssen, dereinst als 35jährige sagen, so ist eine neue Jugend da und wir sind schon veraltet in dem Augenblick wo wir erst den Mund auftun möchten. Die Neuen sprechen schon eine neue Sprache und verstehen wohl noch was wir reden, aber nicht mehr was in uns redet, was wir hörten, – also nicht mehr uns. (Glaub, kein Zwanzigjähriger versteht heute mehr einen Vers wie den: “..und dennoch sagt der viel, der Abend sagt..”. Auch wir haben ja diesen Vers und alles was dazu gehört in uns ausgelöscht, aber wir haben ihn doch erst einmal vernommen).

So sind wir wahrhaftig auf eine Klippe gestellt und müssen – ganz streng: müssen – zum Himmel der Ewigkeit auffliegen oder im Meer der Vergangenheit ersaufen; der Strom der Zeit hat uns ausgespien. Wir müssen das Zeitlose leisten, denn der Zeit genug zu tun und es ihr anheimzustellen ob sie es weiter trägt, ist uns schon versagt. Aber wie soll einen dieser Zwang zum Allesodernichts nicht verzagt machen? Man kann wohl Allesodernichts wollen, aber es müssen ist mehr als der Mensch erträgt. Und es giebt keine Rückkehr in die Zeit; wer einmal herausgefallen ist, bleibt draussen; nur wenn das eigene Leben lückenlos läuft, hält es mit der Zeit Schritt, und der Krieg war Lücke. Es giebt keinen Rückweg, nur den Weg jenes Müssens; nur die Gefallenen sind über jenes Muss hinaus. Und doch kann ich mich selber nur als Übrigbleibenden denken.

Dein Franz.

21.VIII.[18]

Liebes Gritli, nimms nicht überschwer, was ich dir gestern schrieb. Ich weiss es selbst nicht mehr genau; aber es ist schliesslich wie all solches Grübeln über sich selbst in Klügeleien ausgeartet. Man vergisst immer zu leicht, dass das was man mitbekommen hat, die “Länge der man keine Elle zusetzen kann”, dass das am Ende durchschlagender ist als alle Konstellation und alles Schicksal. Und über diese Mitgift ins Leben gilt und gibts kein Nachdenken. Man hat sie und zehrt davon, ob man will oder nicht. Über das Schicksal nachdenken mag manhinterher, wenns “zu spät” ist. Da bekommt man Respekt, denn man sieht hinter der Maske des Schicksals die Züge der Schickung. Hingegen in die Zukunft gesehn steht die Maske ganz starr hart undurchdringlich vor einem und lässt kein Gesicht dahinter ahnen. Und darauf kommt es doch an, dass alles in der Welt Gesicht bekommt und die Maske der toten Dinghaftigkeit abtut. Die Vergangenheit tut den Mund auf und spricht zu uns; die Gegenwart spricht garmit uns; aber die Zukunft ist stumm; wir müssen zu ihr sprechen, bis sie uns hört.

Liebes Gritli, vielleicht, vielleicht bist du heut Abend da. Ich will mich nicht zu fest darauf verlassen, aber möglich ist es doch.

Dein Franz.

22.VIII.[18]

Liebes Gritli, meine Erwartung wurde erfüllt. Zwar nicht von dir, aber von Eugen war ein Brief da, eine Antwort auf den …[Zeichnung Schnecke] = Brief. Dadurch und noch aus einem andern Grund habe ich nun auch wieder daran denken müssen und es heute in dem greulich verwackelten (Eisenbahn!) Unreinen wieder zu lesen versucht. Der andre Grund ist, dass mir gestern Abend, in den Stunden grad ehe die Post kam, die Fortsetzung der Gedanken des Briefs an Rudi vom vorigen November kam, genau da wo der Brief damals aufgehört hatte, und gleich in breiter Massenhaftigkeit, aber vorläufig noch mit ziemlichem Misstrauen betrachtet; denn es “eugent” bei mir; ich denke in Figuren; das Dreieck, das damals den Inhalt des Rudibriefs bildlich zusammenfasste, mit 3 Ecken und 3 Verbindungen, enthüllt sich als sechsstrahliger …[Zeichnung Stern] Stern der Erlösung, der in sich neue “Sterne” …[Zeichnung] u.s.w. enthält. Wie gesagt, ich bin auf dieses Gegenstück zum + [Kreuz] der Wirkl. selbst noch sehr misstrauisch; aber mindestens der Anfang stimmt und lässt sich in dürren Worten begreiflich machen, denn der Stern ist weiter nichts als die Kombination zweier Dreiecke, die sich nicht aufeinanderlegen lassen wollen und also sternförmig zueinander stehen müssen: das …[Zeichnung Dreieck] der Schöpfung, nämlich das was vor der Offenbarung da ist; … [Gott Mensch Welt im Dreieck geschr.] genau wie in dem Brief an Rudi; und das …[Zeichnung Dreieck] der Offenbarung, die Welt nachher, als …[Offenbarung Schöpfung Erlösung im Dreieck geschr.], die im Brief an Rudi die Seiten des Dreiecks …[Zeichnung] waren, nun aber Punkte eines eigenen Dreiecks …[Zeichnung] werden. Beide Dreiecke Schöpfungs und Offenbarungs unlöslich verbunden …[Zeichnung] geben die Gewissheit der Erlösung. Deren Grundworte müssen also erscheinen an den Punkten der unlöslichen Verbindung, eben den 6 Schnittpunkten der beiden Dreiecke, die ihrerseits als ein neuer Stern zusammengefasst werden können. Das Wort dieser Schnittpunkte wird jedesmal gewonnen von den beiden benachbarten äusseren Sternspitzen her und zwar übereinstimmend von beiden, wodurch eigentlich Willkür ausgeschlossen sein müsste (aber natürlich doch nicht ist). Jeder “Schnittpunkt” ist also das übereinstimmende eine Spaltungsprodukt zweier benachbarter Spitzen,deren andre Spaltungsprodukte jeweils mit andern Spitzen zusammenhängen. Aber genug davon; es ist schon mehr als du verstehen kannst. Wenn ichs schreiben werde, wirds ganz leicht, – vorausgesetzt dass ich die Übersetzungsschwierigkeiten überwinde. Eigentlich muss nämlich jeder Stern in einer eigenen Sprache beschrieben werden, hebräisch, lateinisch, deutsch – und so ist es auch in dem ersten Entwurf gestern und heute geschehen. Nur für den Anfang bleibt die mathematisierende Symbolsprache des Rudibriefs. Die Mathematik ist ja die Sprache vor der Offenbarung. Erst in der Offenbarung wird die Sprache der Menschen geschaffen. Deshalb sind die Punkte des Schöpfungsdreiecks …[Zeichnung]nur mathematisch zu fassen; die des Offenbarungsdreiecks, wenn sie, wie hier nötig, vom Schöpfungs..[Zeichnung] her entwickelt werden sollen, auch. Im fertigen Stern der Erlösung treten dann aber die Menschenworte dafür ein, denn nun ist ja die Offenbarung da, und nun sind die mathematischen Symbole auch für die bisher schon gefundenen Punkte nicht mehr nötig. Das eigentlich Fruchtbare und Neue am Rudibrief, das was auch dir damals den Eindruck machte, die Lehre vom Menschen sans phrase und Palmen-zweig, ist mir auch erst jetzt klar geworden. So wie es eine Metaphysik giebt, nämlich eine Wissenschaft die von Gott handelt ganz gleichgültig ob er jemals die Welt geschaffen hat oder nicht, von Gott ganz für sich, von Gott als wenn er nicht der Herr und Schöpfer der “Physik” wäre sondern selber seine eigene Physik hätte, und so wie Hans eine Metalogik macht, eine Wissenschaft von der Welt ganz unbekümmert um ihr (der Welt) Verhältnis zu einem etwaigen Denken, einem Logos, sondern im Gegenteil diesen Logos selbst als ein Stück Weltinhalt fassend statt als Weltform, so habe ich da eine Metaethik aufgestellt, eine Lehre vom Menschen, der nicht unter Gesetzen u. Ordnungen steht, für den keine Ethik gilt, sondern dessen Ethos wenn er eins hat ein Stück seines blossen Daseins, seiner wüsten Natur wäre. Diese Meta = Wissenschaften schreiten den ganzen Kreis derSchöpfung aus, den werdefreien (aphysischen) Gott, die begriffsfreie (alogische) Welt, den sittefreien (aethischen) Menschen. – Aus diesem Dreieck der Schöpfung als Daseins wird nun das Dreieck der Offenbarung als des Worts hervorge-zwungen, etwa so wie im Rudibrief, wobei die Schöpfung nun natürlich wieder vor-kommt und jetzt eben als zum Worte gekommenene Schöpfung, als redender und beredbarer Kosmos, statt des stummen und tauben dreifachen Chaos des ersten Dreiecks; aber nun nur ein Dritteil, nicht mehr selber das Ganze. (Und in dem inneren Stern der Erlösung nachher wieder, aber nun nur noch als ein Sechsteil, etwa als “diese Welt”. So wie auch die Offenbarung dann wieder vorkommt). Der langen Rede kurzer Sinn sollte ja nun bloss sein, dass mir gestern dabei plötzlich das Gritlianum (so heisst es natürlich) einfiel und ich merkte, dass ich da auf der engen Bühne des Mikrokosmos nur das Stück habe nachspielen lassen, das sich in Wirklichkeit im Grossen zwischen Mensch und Welt im Schöpfungsdreieick abspielt. Im Mikrokosmos, also mikroskopisch gesehen und also manches intimer gesehen als mit blossem Auge, aber auch manches ohne den Zusammenhang, den richtigen, eben weil mikroskopisch isoliert.

Und nun will ich noch an Eugen schreiben. Dass ich ihm grade das astrologische Buch geschickt habe, war doch auch ein guter Instinkt für die Gleichzeitigkeit. – Wegen des Zusammentreffens mit Schweizer rechne ich auf das “brave” Gritli. – Morgen beginnen die Skatnächte und rettugslos dann auch die Mittagsschläfe. Ich fürchte, ich werde wenig von dieser Ernte einfahren können; vielleicht ists aber ganz gut, wenn sie noch einmal verfault. Mein Gefühl ist aus Misstrauen und Zuversicht ziemlich zu gleichen Teilen gemischt. –

Dein Franz.

22.VIII.18.

Lieber Eugen, mir ist ja Nietzsche nie wichtig gewesen, ausser wenn ich speziellst über “unsre Zeit” (= 1886 – ?) nachdachte. Sonst hat mir diese Rolle des falschen (bzw. richtigen) Buchs Goethe gespielt (und später der Einfachheit halber Hegel. Daher mein Verabsolutieren von “1800”, deins von “1914”. Wir meinen damit das Gleiche, (wie ich schon in Montmedy merkte).

Das Gritlianum ist auch Montmedyer Ursprungs. Es ist “dualistischer” ausgefallen als ich damals dachte. Ich wollte damals das Schreib = Experiment machen, ob ich von deinem + Weizsäckers Naturbegriff überzeugt wäre. Nun geriet es durch das Tag – Nacht = Aperçu (es war bloss ein Aperçu, ich lag im Bett und war grade aufgewacht, und so sagte ich es vor mich hin) also nun geriet es von vornherein ins Scheiden und Entzweien. Der Titel “von E. u. E.”[Von Einheit und Ewigkeit] ist frelich arg verblasen, aber wie der Inhalt selber auch, den er infolgedessen ganz gut bezeichnet. Wollte man ihn pointierter bezeichnen, so müsste man die Pointe herausgreifen und es nennen: Der Schrei. – Vom Ende der Tage geht nicht, weil es ja ebensosehr auch von Mitte und Anfang der Tage handelt. Der eigentliche Titel aber ist das Motto. Und deshalb kommt es auf den “V. E. u. Ewigk.” nicht an. Das “Publikum” ist ohnedies an einer Hand abzuzählen, nämlich ausser euch noch Rudi und ev. Trudchen Oppenheim. Schon Hans würde es nicht interessieren. Es ist ja eben doch nurejpoı (schon das ist beinahe mehr zugestanden, als ich von dir erwartete) und gar nicht opus. Auch was seit gestern wieder in mir rumort, ist nicht opus, sieht aber doch wenigstens so aus. Wie mein opus einmal aussehen wird, weiss ich nicht im geringsten. Aber was jetzt bei mir entsteht, kann noch nicht opus sein, sondern immer nur Vorübung oder Voruntersuchung. Das weiss ich so bestimmt, dass ichs mir nicht ausreden lassen kann.

Leib – Geist [daneben, über folgende Zeile hinaus]

Seele [großes Fragezeichen]               Ich habe ja den Geistabsichtlich draussen gelassen (die These “Natur ist gestorbner Leib, Geist gestorbne Seele” ist sogar eine richtige kleine Entdeckung). Das hat sich insofern gerächt, als die Seele bei mir etwas stark geistige Züge angenommen hat; etwas viel Bewusstheit. Was du entseelten Geist nennst, müsste ich in der Sprache des Gritlianums “entleibte”, “unleibhaftige” Seele nennen. (Denk an Augustinus Antithese des stoischen Sapiens und des Christen nach den Selbstaussagen des Paulus,oder an die Tertullianstelle die ich dir mal schrieb: “Christus u. die Apostel zürnen u. begehren”). Die leibhaftige Seele und der seelenhafte Leib werden ja einmal eins sein trotz der antithetischen Worte. Das Wort in dem die beiden Getrennten zusammenschmelzen, ist kein Etwas was über sie beide greift, sondern ein Wort, das sie selber sprechen, das Wort der Liebe. Eben deshalb konnte ich die Konstruktion mit den drei Etwassen

Leib – Geist

Seele      nicht brauchen. Der Gegensatz versöhnt sich in sich selbst, oder besser vielleicht: im Angesicht des Vaters (der aber doch auch kein Etwas ist). Werden Mensch u. Welt durch einen übergreifenden Begriff versöhnt? Nein, sondern wieder durch die Liebe und im Angesicht des Vaters. —

Ein Kuriosum noch: Hans hat vergessen, dass die “Sachverständigen” (ein Politikum vom April 17) schon in Alte u. Junge gestanden haben und hats die Vossische abdrucken lassen. Es ist der Artikel wo ich dich so schnöde plagiiert habe, über die Notwendigkeit der Durchschnittsverstände im Parlament. Und nun ist die Dt.Tgztg. drauf eingeschnappt.

Und nun guten Abend.

Dein Franz.

23.VIII.[18]

Liebes Gritli, nun laufe ich schon den dritten Tag hinter dem Stern her und entdecke immer noch Neues. Ich glaube doch, ich werde zu schreiben anfangen. Was mich scheu macht, ist jetzt schon weniger die Figürlichkeit des ersten Aperçus, – denn ich merke bei jedem Schritt immer mehr, dass die Figur nur eine Hülfe ist, um Verhältnisse zu erkennen, die wirklich gelten – mehr beängstigt mich der Umfang, den die Sache einmal angefangen notgedrungen annehmen muss. Das wird kein in 8 Tagen hingeschriebenes “Anum” sondern ein Buch, das mindestens Wochen braucht. Selbst wenn ich es zunächst nur bei dem Stoff bewenden lasse, den ich damals schon in dem Brief an Rudi dargestellt hatte. Denn was ich dort nur allgemein bezeichnet hatte “hier ist der Ort für die Schellingsche Theosophie” u.s.w., das muss ich alles jetzt selbst ausführen, nach “meiner” Methode. Denn es ist eben, wenn es etwas Rechtes ist, eine eigene Methode, und es giebt ganz bestimmte Gesetze, nach denen sich die Dinge zum “Stern” ordnen. Also die verschiedenen Meta…iken wollen jede ein Kapitel für sich; die Ich=Du= und Er=sie=es= Gedanken des Rudibriefs wachsen sich zu einer kompletten Sprachlehre aus, u.s.w.

Verzeih dass ich dir so Brocken zuschmeisse; ich bin eben voll davon, und es ist auch sonderbear, dass mir bei meinem ständigen süffisanten Misstrauen gegen alles Denken in geometrischen Figuren das passieren muss. Freilich ist das Geometrische auch nur Schein; denn während beim wirklichen gleichseitigen Dreieck eben die 3 Seiten auch wirklich gleich sind, sind sie bei mir in jeder Weise untereinander verschieden; man kann das Dreieck nicht kippen; jede der drei Seiten ) bedeutet regelmässig etwas andres: immer einen Zusammenhang (z.B. Gott und Welt), / immer eine Abstossung (z.B. Gott und Mensch) und immer einen Kampf (z.B. Mensch und Welt), und dementsprechend ist das was herauskommt,im ersten Fall eine Erklärung, im zweiten Fall ein Wunder, und im dritten ein Ergebnis (1.)Schöpfung 2.)Offenbarung 3.)Erlösung).

Aber nun wirklich genug; ich komme schon wieder ins Ummichschmeissen. Es wird Zeit, dass ein Brief von dir kommt und mich aus der Sterndeuterei wieder herausführt. Aber am Ende steckst du selber drin. Wann kommt wohl die Abschrift von “Sonne Mond und Sterne”?? Aber erst kommst du ja selbst. Wie wenig ist die Handschrift – und wie viel!

Auf Wiedersehn heut Abend –

Dein Franz.

24.8.18

Liebes – das Unheil nimmt seinen Lauf: ich habe angefangen, eine Einleitung zu schreiben, die selber schon ziemlich lang werden wird. Vielleicht bin ich dann zunächst einmal beruhigt. Denn vor dem Angreifen einer so langen Arbeit wie das Ganze wäre, graut es mich doch unter den hiesigen Bedingungen. Ich gerate beim Arbeiten immer in eine zunehmende Aufregung, so dass die letzten Tagesraten immer die umfangreichsten werden, weil ich zuletzt nichts andres mehr denken kann als: nur unter Dach bringen. So viel Routine habe ich ja jetzt, dass ich im voraus weiss wie es mir dabei geht. Meine schon geringe Brauchbarkeit wird gegen Ende immer unbrauchbarer. Und so ists schon bei kleinen Sachen die etwas mehr oder weniger wie eine Woche dauern. Und nun bei einer Arbeit von vielen Wochen. – Die Einleitung wird in ziemlich sanften Tönen die Philosophie beschimpfen, weil sie Gott vergewaltigt und den Menschen vergessen habe, und so Stimmung machen für die 3 Meta….iken. – Cohen Lesen geht natürlich jetzt nicht mehr. Es ist sehr komisch, wie gänzlich ihm fremde Wege mein Kopf geht, sowie er auf eigene Rechnung arbeitet. Ich kann dir nicht recht schreiben in diesen Tagen; um dich zu schonen wende ich schon die Methode des Herrn Dick aus dem David Copperfield an und lege mein Notizbuch offen neben den Briefblock, für alle Gedanken über den Kopf Karls I. Auch hast du mich gestern Abend “enttäuscht”; dein Brief war nicht da. Dafür haben mich die “Herren” nach der anderen Seite enttäuscht: sie habn ein Kartenspiel zu zweien gespielt und ich konnte früh zu Bett; gebs der Himmel, dass sie Gefallen daran finden; dann wäre der Wunderglaube, zu dem ich in meiner Verzweiflung mich schon bekehrt hatte in diesem Punkt, ja wirklich gerechtfertigt. Sieh da ist eine ganze leere Seite vor mir. Ich will aber dem Mr.Dick in mir widerstehen und nichts vom Kopf Karls I. darauf schreiben, sondern sie ruhig leer lassen. Denk dir auf dem freien Raum viel Gutes und Liebes, mehr als dir heute sagen kann (weil es heut alles unter der Schwelle im dunkeln Keller bleibt, und oben im Haus rumort in allen Zimmern der abgehauene Königskopf)

[Gr. Abstand]                                       Dein Franz.

25.VIII.[18]

Liebes Gritli, es geht so weiter mit ohne Skatzwang auch gestern Abend und mit dem unaufhörlich rollenden Kopf Karl I. Auf jedes Blatt Papier das ich grade in der Nähe habe male ich meine Sternchen. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mit dieser Figur einmal ernsthaft befassen würde; sie war mir in ihrer synagogalen Verwendung eigentlich immer unsympathisch. Die Kabbalah hat übrigens damit gearbeitet; aber näheres weiss ich nicht. Heut habe ich endlich für das Heidentum Unterkunft besorgt, was nämlich bisher bei allem Bemühen unmöglich schien und heut auf ganz unerwartete Weise von selber kam und so dass ich erst nachher die vollkommene Richtigkeit der Unterbringung einsah. So locken mich Erfolge weiter und führen doch dann immer wieder an Stellen, wo ich den Boden unter mir wegsinken fühle und wieder fürchte: “der Geist, den ich gesehen, kann ein Teufel sein”. – Also: “die Sache wills, dass ich genauer prüfe” und das tue ich ja jetzt, indem ich die Schauspieler auftreten lasse und das Stück spielen.

Bist du noch da? die Feder war inzwischen wieder etwas auf Mr. Dicks Papier gelaufen. Also du bists noch. Ich wollte dich noch etwas merkwürdiges fragen: Hier giebt es zahllose braune Eidechsen, in allen Grössen, reizende Tiere; sie fangen Fliegen und man muss ihnen unwillkürlich zusehn dabei. Wie kommts nun, dass ich (nur ich? oder ist es allgemein?) mit meiner ganzenSympathie dabei bei der Eidechse bin und mit der Fliege keine Spur Mitleid habe; (ich könnte sie ja stets retten, indem ich sie einfach wegjage); nur ein gewisses Grauen kriege ich, wenn ich das unglaublich tückische Gesicht sehe, das die Eidechse während des ziemlich langwierigen Herunterschlingens macht: so eine Art Triumph=der=Hölle = Gesicht. Also woher diese besinnungslose Sympathie mit dem Stärkeren? Es giebt ja eine Geschichte von einem kleinen Jungen, der erzählt kriegt, wie ein[em Löwen gestr.] Neger noch im letzten Augenblick verhindert wird einen Missionar zu fressen, und der entsetzlich zu weinen anfängt:”armer Neger, armer Neger!”. So ähnlich ist das eigentlich.

“Armes Gritli” – nicht weil du keine Missionare zu fressen bekommst (oder vielleicht gar doch??), aber weil du so langweilige Briefe lesen musst, von abgeschlagenen Köpfen und aufgefressenen Fliegen. Lies nur die Unterschrift; sie ist dennoch wahrer als alles:

Dein Franz.

26.8.18

Liebes Gritli, du gewöhnst mich aber sehr langsam wieder an dich. Erst kam eine Botschaft durch Eugen, dass ihr Ranke läset, dann eine zweite, dass du mich läsest (ist schon besser), und gestern eine weitere Steigerung: eigenhändig eine Vertröstung auf “morgen” (d.h. aber ins Mazedonische übersetzt: übermorgen). Nach diesen drei Komparativen darf ich also morgen den Superlativ erwarten: das “erste Handschreiben”. Ich verklage das grosse Gritli in Säckingen bei dem kleinen hier, aber das nimmt dich in Schutz und sagt, du hättest dich auf es verlassen und gemeint, ich würde es gar nicht merken – und ich selber hätte es doch auch gemeint, aber freilich ich merke es doch. Aber jedenfalls, das kleine hat mich wieder still gemacht, und nun warte ich still “auf morgen” – auf das grosse. Komm –

Sonne, Mond u. Sterne, an sich sehr gut geschrieben und doch überall nach Ergänzung verlangend; es setzt ja das ungeschriebene Revolutionsbuch direkt voraus, ist eigentlich eine Kapitel daraus. Das muss er schreiben, es ist eine überreife Frucht. Viel wichtiger als das Staatsbuch, das doch nur Essays wären. Für “Europas Darstellung” braucht er nichts mehr als noch ein bischen Kritik und Vorsicht im Formulieren des Grundsätzlichen, der Zeit = “Rechung”. Da muss er sich gegen die nächstliegenden Einwände decken, indem er die subjektive Seite, die doch mindestens auch zur Sache gehört (das Zeit =Erlebnis der Personen) betont; wie ichs ihm voriges Jahr ausgeführt habe. Das Wunder der Wirklichkeit wird nicht geringer, wenn man den immer menschlichen Mechanismus aufzeigt, durch den es sich verwirklicht; denn dieser Mechanismus ist ja selbst wieder ein Wunder. So löse ich jetzt meine Dreiecke und Sterne rückwärts in logische Beziehungen auf; sie werden dadurch nicht weniger dreieckig, aber (im Gegenteil) das Logische wird dreieckiger. Man kann das Symbol nur dadurch als das Höhere gegenüber dem formlosen Gedanken aufweisen, indem man zeigt, wie das Symbol die Kraft hat, sich der Gedanken zu bedienen. Dass die Wirklichkeit gewaltig ist, zeigt sich grade darin [dass] die Menschen gar nichts andres können als – sie verwirklichen.

– “Auf morgen”

Dein Franz.

26.VIII.18

Lieber Eugen, ich las dein Antiastrologikum noch gestern Abend zwischen Sonnenunter= und Mondaufgang, also unter der Alleinherrschaft der Sterne. Das passt ja auch dazu, denn ganz wesentlich handelst du nur von Amerika; vom Halbmond eigentlich nur wegen des Kreuzzugsvergleichs; und von der aufgehenden Sonne einfach zu wenig. Das ist also gleich meine Kritik. (Geschrieben ist es glänzend, grösstenteils sogar “reif” und trotzdem gut.) – Japan sebst ist wohl wirklich uninteressant, aber ganz Ostasien hängt ja daran. Und die Sonne ist doch viel mehr als der Mond, und jedenfalls der einzig ebenbürtige Widerpart für des Kreuz. Mit dem Mond giebt es, wie übriegens die Erfahrung [scheint gestr.] zeigt, keinen echten Kampf; Mond und Kreuzkonkurrieren; sie kämpfen nicht miteinander. Oder: sie kämpfen nicht ums Leben, sondern um die Beute. (Und der Mond ist dabei der stärkere, weil er der Nachahmer ist und sich dem Publikumsgeschmack anpasst.) Der Nachahmer istkeine gute Vorbereitung auf das Original; im Gegenteil er verdirbt den Sinn und Geschmack dafür ziemlich hoffnungslos. Der grosse Kampf steht dem Kreuz mit dem echten lebendigen Heidentum des fernen Ostens bevor. – Nicht ganz (aber halb) überzeugend war mir der scharfe Strich zwischen Amerika und England; du weisst da wohl Sachen die ich nicht weiss. – Litterarisch schlecht ist die Schlusskadenz. Sie klingt nur überzeugt, nicht überzeugend. – Beim Islam stimmen Einzelheiten nicht; die Gesamtansicht natürlich stimmt. Der Islam hat für alles Ersatz, auch für den Geist (Theorie der “Imami”, und des ausgeschlossenen Irrtums der Gesamtgemeinde). Muhamedaner ist missverstehende Benennung seitens {des aufgeklärten wohl erst?} Europas. Die Selbstbezeichnung Muslim ist viel charakteristischer: die einzige Religion, die ihren “Zweck” schon im Namen ausdrückt – wie eine Firma oder ein Verein. (Überhaupt sind die Anfänge des Islam wie eine Vereinsgründung in einer modernen Bohème – Grossstadt).

Mir war merkwürdig, dass dein “Natur und Geist” noch antinatürlicher ausgefallen ist als meins. Das war mir ganz unerwartet. Ich hatte ja meins in Auseinandersetzung mit dir geschrieben. Und nun bist du mir mehr entgegengekommen als ich wünschte. Ich glaube wirklich, etwas zu weit. Auf älteren Kreuzigungen, noch bis zu Dürer werden ja Mond und Sonne mitdargestellt. Und das Christentum nimmt ja stets von seinen Besiegten Gesetze an. So ist auch Amerika grade wenn es besiegt werden wird, schon die Bürgschaft für eine künftige Form des Christentums, die man ja kaum voraussagen kann, aber die trotzdem kommen wird. Das ist das Richtige an dem amerikan. Gefühl der Überlegenheit. Die Sterne werden also nicht vom Himmel fallen, sondern sich um das Kreuz gruppieren. Die Natur ist eben immer schon da, wenn der Geist angelaufen kommt (wie in dem unerschöpflichen Märchen vom Has und vom Swinegel); aber der Geist muss eben deshalb “sich strecken” zum Lauf immer aufs neue, damit er immer aufs neue das “Ik bün all da” der Natur hören kann – liefe er nicht, so würde ers nie zu hören kriegen. Dies ist das Geheimnis des Verhältnisses von Schöpfung und Offenbarung, dass sie in jedem Augenblick zusammenwirken müssen, beide – damit die Erlösung kommt. Damit wäre ich von dir wieder zu mir gekommen; ich sitze grade wieder bis über die Ohren in den Gedanken meines Briefs an Rudi vom vorigen November. – Das Amerikanum schicke ich erst zurück, wenn ichs nochmal gelesen habe, schreibe dir auch vielleicht nochmal darüber. Bist du dir wohl eigentlich selber klar gewesen über dein Überlaufen von der Natur zum Geist? War etwa die Annahme des Pichtschen Kreuzbegriffs mit schuld daran? fast möchte ichs glauben.

Dein Franz.

27.8.18

Liebe Überraschung, denn du hast es wirklich fertiggebracht, mich beinahe eine Woche lang warten zu lassen und erwarten, und dann noch überraschendzu kommen; denn ganz gegen die Ordnung kam gestern Abend schon Post: Hans, Trudchen und du. Vom Schah von Persien als er in den 80er Jahren seine sensationelle Europareise machte wird erzählt, ihm habe an der europäischen Musik am besten das allgemeine Durcheinander vorher, also das Stimmen gefallen. Dazu bin ich “nicht Asiat genug”, aber dennoch wenn ich lange keine Kammermusik gehört habe, müsste ich vielleicht auch schon beim Stimmen an mich halten, nicht über den Quinten wegzufliessen, obwohl sie doch (zugegeben!) “leer” sind. Weiss ich doch dass sie sich füllen werden, dass die Terz hinzu kommen wird und nachher geht es ans cis-moll op 131 oder in der lydischen Tonart – liebes – liebes Gritli –

Gestern schrieb ich grad noch an Eugen an seine Feldadresse, weil er die so ausdrücklich auf das Sonne Mond u. Sterne = Couvert geschrieben hatte. Nun hätte ich ruhig bei meinem Instinkt bleiben können, mit dem ich ihm sonst alles auch über den “15ten” hinaus an deine Adresse geschickt habe. Kassel wäre schön. Mindestens zu Anfang würdet ihr bei Mutter wohnen; nachher werdet ihr ja Haushalt führen wollen und in der Nähe der Kaserne sein. Wie Mutter jetzt ist, weisst du ja, du hast es ja noch am letzten Tag zu spüren gekriegt (sie hat mir am andern Tag davon erzählt und ich habe mir meinen Vers daraus gemacht). Sie braucht jetzt auch das Äusserliche, in ihrer grossen Hülflosigkeit und in ihrem völligen Mangel an Selbstvertrauen. Selbst Trudchen, die ihr in einer Ahnung von ihrem traurigen Zustand grade in den letzten Leipziger Tagen ein paar Mal schrieb, genau was sie brauchte, – selbst Trudchen war jetzt entsetzt von diesem Mangel an Zu= und Vertrauen. Freilich weiss sie auch nichts von dem Schluss mit Frau Gronau, Mutter hat offenbar ihr nichts davon erzählt!

Ich wäre nicht zufrieden wie du, wenn es wahr wäre, dass Eugen den Juni vergessen hätte. Ich vertrage es überhaupt nicht dass jemand vergisst. (Kennst du die Anekdote – Bismarck selbst erzählt sie in den “G.u.E.”: wie er mit dem alten Wrangel verzürnt war und der nach Jahren einmal auf einem Hoffest auf ihn zutrat und ihn fragt, ob er denn gar nicht vergessen und vergeben könne:”Vergessen – nein, vergeben – ja” und damit war es gut). Ich glaube auch nicht dass er vergessen hat. Die Lethe dieser 14 Tage gönnte ich ihm, aber auf die Dauer ist Lethe kein Nahrungsmittel. Der Mensch lebt nicht vom Vergessen, sondern vom Erinnern (auch wenn es nicht “hold” ist). So wie es eine Plattheit und Unwahrheit ist, dass “nur der Irrtum” das Leben sei; sondern in die Dunkelheit leuchtet nicht der Irrtum, sondern die Hoffnung. Könnte er diesmal, wo er die äusserste Grenze erreicht hat, jenseits von der die Nacht beginnt – könnte er auch dies vergessen, so wäre eine Wiederholung möglich. Und die ist unmöglich – denn die Seelen sind nicht mehr biegsam und elastisch, sondern in der Not jenes Monats fest geworden; sie könnte nur noch zerreissen, überstehen würden sies nicht noch einmal. – Ich muss es so hart sagen. Du weisst selber, dass es so ist.

Du fragst, ob ich gewusst habe beim Einpacken des Gritlianums, wie schön das Auspacken sein würde? Ja gewiss habe ich das gewusst – sogar nur das, vom Inhalt hat man ja so unmittelbar nachher keinen Begriff; und ich war in Wien ja nicht eher zur Ruhe gekommen, ehe ich das Papier gefunden hatte. Auch das braune Bändchen, das das Heften ersetzen musste. Ich hätte es gern heften lassen, aber ich hatte keinen schönen Faden und war auch schon durch Prileps durch, wo ichs von einem Einheimischen hätte machen lassen können; die deutschen Soldaten können ja leider alle lesen. Willst du es nicht noch nachträglich heften ? es sollen ja keine “Blätter” sein, sondern ein kleines Buch. Oder verträgt es das dünne Papier nicht?

Die beiden Schöpfungsgeschichten in der Mitte, die der Welt und die des Menschen (die “Offenbarung” – dies ist eine ganz tiefe Einsicht von Cohen, die ich jetzt in meiner Weise umschreibe, Cohen schreibt: die Offenbarung ist die Schöpfung der Vernunft. Sein letzter Aufsatz (ein Resumée des betr. Kapitels des Buchs), der schon nach seinem Tod, nein kurz vorher noch, in den Monatshefen erschien, handelt davon) – also die beiden Schöpfungsgeschichten waren dir bekannt aus – dem Brief an Rudi, den Eugen ja kannte aber nicht in Gnaden aufnehmen wollte. Deswegen sind sie natürlich für mich jetzt grade das, was mir noch nachgeht, während das Schreiben natürlich vom Anfang und Ende her geschah.

Die Einleitung geht weiter. Ich vermisse doch dabei bessere äussere Bedingungen; denn mit der Trance allein ist es hier nicht getan; die ist unter schlechten Bedingungen manchmal stärker als unter guten. Aber hier brauche ich notwendig viel Besonnenheit, und die leidet unter den ständigen Störungsmöglichkeiten und dem ganzen so tun als ob nicht. Es wird ein mixtum compositum, schon diese Einleitung: für Gelehrte zu menschlich und für Menschen zu gelehrt. So schreibe ich diesmal eigentlich für niemanden als für mich selbst. Aber schliesslich lohnt sich das auch schon, sich seine Philosophie für den Hausbedarf einzumachen. Hinterher hat man sie.

“Hinterher” – und dabei bin ich noch in der Einleitung.

Komm wieder, Gritli! es war schön heut mit dir.

Dein Franz.

28.VIII.[18]

Liebes Gritli, also schon jetzt in Kassel! ich hoffe im Stillen, Ihr seid doch noch auf der Terrasse untergekommen, denn Platz ist ja. Jetzt war doch Hanna da, und grade in diesen Tagen muss Frau Cohen da sein, und grade um Mutters willen wünschte ich, dass ihr dem “Hause” die Reverenz machtet. Und ich möchte mir euch doch auch gern einen Augenblick im grünen Zimmer vorstellen dürfen. – Das “grüne Zimmer” – es ist eigentlich eine Kriegserrungenschaft für mich oder gar erst eine Urlaubserrungenschaft, früher war es mir gleichgültig; wohl erst durch dich habe ich ein Zuhausegefühl dafür gekriegt, und erst seitdem ist es – nun eben das grüne Zimmer.

Ich bin heut von spätem Zubettgehen (Bierabend!) müde und ohnehin auch grade an einem Stein auf dem Wege der “Einleitung”, über den ich heute also sicher nicht wegkomme.

Glaubt Eugen wohl an den Hass der Franzosen gegen die Amerikaner (früher mussten es die Engländer sein) von dem Schweizer erzählt? Aber der Hass der Bundesgenossen untereinander übersteigt ja überall, auch bei uns, den gegen den Feind – einfach weil man die Bundesgenossen auf die Nähe hat und zum rechten Hass gehört Nähe wie zur Liebe, nein mehr als zur Liebe.

Ich muss dir noch zwei herrliche Sachen aus dem Heft des “Juden”, das ich heut kriegte, schreiben. Eines erzählt von einer Hamletaufführung in einem jüdischen Theater in Whitechapel, dem Londoner Judenviertel. “Und wenn sonst in das Dunkel halbgelebten Lebens die Wirklichkeit Fortinbras mit hellen Fanfarentönen hineindringt – hier wird er wie eine lästige Person verstanden. Das Theater wurde unruhig bei diesen Versen. So sehr die Menschen des Ghettos über Ophelias Wahnsinn weinten, so sehr sie mit einem gewissen Ernst die groteske Gebärde des Polonius aufnahmen (denn sie wissen selbst, was es heisst, sich lächerlich machen) so sehr versagte ihr Sinn beim Tatmenschen Fortinbras. Jemand sagte neben mir vernehmlich:”Goj”. – (Das Grossartige an dieser Markierung des einen Fortinbras als Heiden ist dies, dass der vernehmliche Sprecher offenbar alle andern Personen als Juden empfand!). Nun aber das andre: eine von Buber aufgezeichnete chassidische Geschichte: “Unsre Weisen sprachen: “Wisse was oberhalb von dir ist”. Das deutete der Apter (die Rebbes heissen nach ihren Orten: der Rischiner, der Serer u.s.w.) also: Wisse was “oberhalb”,ist von dir. Und was ist dies, was oberhalb ist? Ezechiel sagt es: “Und auf der Gestalt des Trones eine Gestalt anzusehen wie ein Mensch darauf oberhalb”. Wie kann das von Gott gesagt werden? Heisst es doch: {Jesaja} “Wem wollt ihr mich vergleichen, dass ich gliche, spricht der Heilige”. Und ebenda: “Welche Gestalt wollt ihr mir vergleichen?” Aber es ist so, dass die Gestalt, anzusehen wie ein Mensch, von uns ist. Es ist die Gestalt, die wir mit dem Dienste unsres wahrhaften Herzens bilden. Damit schaffen wir unserm Schöpfer, dem Bild= und Gleichnislosen, ihm selber, gesegnet sei er und gesegnet sei sein Name, eine menschliche Gestalt. Wenn einer Barmherzigkeit und Liebe erweist, bildet er an Gottes rechter Hand. Und wenn einer den göttlichen Krieg kämpft und das Übel verdrängt, bildet er an Gottes linker Hand. Der oberhalb auf dem Trone ist, – von dir ist er.” – Diese Geschichte ist Eugen unzugänglich (die erste nicht), weil er die Kluft nicht spüren darf, die in ihr geschlossen wird, das “Wie kann das von Gott gesagt werden”. Nicht spürendarf, nicht eben bloss nicht spürt. Du spürst sie ja von Haus aus auch nicht, aber du kannst sie nachspüren, ohne dich zu verlieren. Erzähle die Geschichte ihm lieber also nicht. Schrieb ich dir: ein Brief von mir läuft über seine Feldadresse an ihn, über Sonne Mond und Sterne, aber nichts Besonderes. – Wird er wohl diesmal Trudchen kennen lernen? ich wünschte es sehr. Aber ihr seid vielleicht, oder fast sicher, jetzt nur ein paar Tage in Kassel und erst vom Oktober an auf länger. Früher als Ende Oktober kriege ich ja auch im günstigsten Fall keinen Urlaub. So dass es also, wenn alles gut geht, das Zusammensein zu dreien diesmal wirklich giebt. Grüss ihn, und selber ——

ich bin dein.

29.VIII.[18]

Liebes Gritli – auf diesem Papier sieht meine selbstfabrizierte Tinte ja gradezu mondän aus! Ich habe einen Tintenstift dafür geopfert; andre brauen aus Beeren. – Ich schreibe dir nun schon zum zweiten Mal nach Kassel – bist du wohl noch da? Und wenn, weisst du zufällig, wo der Durchschlag von dem Brief an Rudi sich herumtreibt? Wohl irgendwo in meinem Schreibtisch, wahrscheinlich in der grossen Schieblade unter der Schreibplatte. Wenn du ihn ohne Mühe finden kannst, so schick ihn mir bitte, oder bitte Helene, dass sie mir das Original schickt, wenn sies dahat. Ich möchte gern vergleichen; aus dem, was damals nur Anläufe in die Sache hinein waren, sind ja inzwischen eigene Sachen geworden. Ich stecke übrigens augenblicklich so in den Schwierigkeiten an Ort und Stelle, dass mir das Ganze nur noch nebelhaft irgendwoher winkt – aber doch freundlich winkt; ich habe das gute Gefühl, keine orthodoxe Wissenschaft zu machen, trotz der orthodoxen Begriffe, sondern eine ganz wissenschaftliche – die freilich keinen orthodoxen Hund hinter dem Ofen hervorlocken würde und den üblichen Liberalen hinter den Ofen scheuchen würde. Kann ich dafür, dass die Offenbarung so alt ist wie der Mensch und die Schöpfung so jung wie die Welt? Im jüdischen Morgengebet heisst es von Gott, dass er “erneuert an jeglichem Tag das Werk der Schöpfung”. – Ich war ja viel orthodoxer heut vor einem Jahr etwa, und daher auch immer mit einem bösen wissenschaftlichen Gewissen belastet; daher war mir der Gedanke der Nacht als ich zum Kurs nach Prilep stapfte, querfeldein und fortwährend stolpernd und in Dornen greifend, gleich so wichtig. Daraus wurde dann 6 Wochen später der Rudibrief, und nun das jetzige. – Er ist ja so natürlich, dass man erst die Unvereinbarkeit dessen, was man selbst erfahren hat, mit allem, was Erfahrung heisst, spürt und gar nicht darauf kommt, dass doch die Schuld der Unvereinbarkeit durchaus auch bei der andern Seite liegen könnte und dass es also nur darauf ankommt, so weitherzig zu denken, dass die Erfahrung “aller” und die eigene Erfahrung beide [doppelt unterstr.] Platz darin haben; und eben diese Weitherzigkeit fordert der Begriff der Offenbarung, die ja eben (und nur) deswegen von der Schöpfung unterschieden wird und erst in der Erlösung mit ihr zusammenfliesst. Das orthodoxe Denken vernachlässigt entweder dieSchöpfung oder (wenn es, wie heute bei den sogenannt Liberalen (die in Wahrheit schlimmer oder ebenso schlimm sind wie die Orthodoxen) üblich ist, die [gestr. Doppelte] getrennte Buchführung von “Glauben” u. “Wissenschaft” behauptet) die – Erlösung! Ich merke dass ich arg kurz schreibe, aber du hast ja nun Eugen da und kannst es dir gleich erklären lassen.

Sehr —————

Dein Franz .

30.VIII.[18]

Liebes Gritli, was wird das für einen Urlaub geben, das nächste Mal, “Montmedy” und “Kassel” in einem. Eigentlich müsstet ihr doch für die Wochen einfach zu uns ziehn, selbst wenn ihr übrigens eine Wohnung gemietet habt. – Die Infanteriewolke scheint sich verzogen zu haben, vielleicht weil man für September hier selbst allerlei erwartet; ich kann mich nicht viel damit abgeben, wiel ich zu viel zu tun habe. Heut früh habe ich einen Plan für das Ganze gemacht; es wird wahrhaftig ein Buch von einigen 100 Seiten, drei Teile zu je drei Büchern, jeder Teil hat ausserdem eine eigene Einleitung, wovon die jetzt geschriebene noch nicht ganz fertige die zum ersten Teil ist. In diesen Einleitungen sammelt sich das schlechte Gewissen: sie werden gelehrt = unverständlich. Das übrige wird ungelehrt = unverständlich. Ich wünschte, vor dem Urlaub noch den ersten Teil wenigstens geschrieben zu haben. Es kommt das herein, was im Rudibrief kaum drin steht oder jedenfalls nur sehr rhapsodisch. Er wird auch der kürzeste. Deshalb ist es wohl möglich, dass ich ihn noch vor Urlaub fertig kriege. Ein ungemütliches Leben wird es freilich. Aber vielleicht bis ich ganz fertig bin ist der Krieg alle. Denn ich weiss wirklich nicht was ich dann noch im Krieg soll. Mehr als mein System schreiben kannich doch nicht. Für alles andre müsste es Frieden sein.

Ach Gritli – alles andre. Manchmal habe ich mich wohl davor gefürchtet und den Krieg wie eine letzte Atempause vor der Hetze des Lebens empfunden; aber im Grunde sehne ich mich jetzt danach, nach dem was kommt, nach “allem andern”. Und vielleicht waren diese Jahre auch in meinem eigenen Leben nicht sinnlos – eine Talsperre an der ich mich erst hochstauen musste; nur sehr wenigen ganz grossen und starken Strömen genügt es, bloss entsprungen zu sein, und selbst die brauchen noch den Glücksfall starker Zuflüsse, oder ein natürliches Staubecken wie den Bodensee. Nun einerlei – und du hast mir vielleicht meine Theorie von der “Lücke im Leben” nie recht geglaubt, wie solltest auch du grade es geglaubt haben! es wäre viel verlangt! nein, es ist keine Lücke. Tag folgt auf Tag und Augenblick auf Augenblick. Im Tag und Augenblick –

Dein.

30.VIII.[18]

Lieber Eugen, ich habe eben …[Zeichnung: Sonne, Mond u. Sterne] noch mal gelesen, litterarisch mit ähnlichem Eindruck wie das erste Mal: dass es am Schluss schwächer wird. Zur Sache noch, dass die Teilung des Kriegs in zweie sicher richtig ist. Hans hat sie auch gesehen. Unsre Kriegsschlussprofezeiung “Herbst 17” ist ja nur durch Amerika fehlgegangen; ohne Amerika wären die Westmächte der Einladung nach Brest Litowsk gefolgt, wenn nicht schon der Papstnote. – Auch meine Stoffwahl in Ökumene (Januar 17) u. Thalatta (Dezember 17) ist charakteristisch. Was ich noch nicht sehe, ist die Mediatisierung Englands. Kolonialkrieg hat es doch immer geführt, anfangs an den Dardanellen. Belgien als Kriegsschauplatz war doch nur Folge der Tradition des (gemeineuropäischen) Militarismus.

Im übrigen – ich bringe kein rechtes Inreresse für den Krieg mehr auf. Der 30jährige Krieg hatte ja auch zwei deutlich gechiedene Teile, vor und nach Richelieus Eintritt. Aber ein Landsknecht merkt nichts davon; für den ist es – später mal – der dreissigjährige Krieg, und so lang er dabei ist sind es Feldzüge und Winterquartiere. Soweit das bischen Landsknechtsseele, das in mir ist. Und das übrige ist jetzt erstrecht unpolitisch. Heut morgen habe ich einen litterarischen Voranschlag gemacht und war aufs Neue erschrocken. Hoffentlich bleibt mir wenigstens dieser Kriegsschauplatz, und in der bisherigen Form, erhalten.

Mein diesjähriges Winterquartier in Kassel werde ich wohl erst im November beziehen. Solange darfst du also baden. Aber dann spätestens musst du an die Ausbildung der niederhessisschen Trainrekruten gehen. Gott sei Dank, dass ich keiner davon bin, sondern

Dein Franz

31.8.[18]

Liebes Gritli, die Einleitung ist fertig (ich muss wohl seit einer Woche daran schreiben?). Nun werde ich ein Experiment machen. Ich werde sie abschreiben, was ich sowieso muss, und werde sie an Hans schicken. Hans kennt den Rudibrief nicht und deshalb kann ich in ihm sehen, ob ich mich verständlich genug gemacht habe. Oder etwa, was auch möglich ist, ob ich schon zu verständlich geworden bin, nämlich mehr vorweggenommen habe als ich wollte; eine Vorwegnahme soll zwar jede der drei gelehrt = feuilletonistischen Einleitungen sein, aber immer nur von dem was in dem betr. Teil selber vorkommt. Mit Hans muss ich mich ja sowieso “in Verbindung setzen”, weil ich ja ganz stark mit dem Gedanken seines Buchs (der “Parteiung”) wuchere und deshalb von ihm wissen muss, ob ich ihn richtig verstanden habe. – Mit dem ersten Teil fange ich nun wohl morgen gleich an. Das Abschreiben muss so nebenher geschehen. – Hans kriegt natürlich die Einleitung ohne eine Andeutung über den Plan des Ganzen, damit er ganz voraussetzungslos liest. Dir will ich jetzt mal den Plan schreiben:

Der Stern der Erlösung.

Ein Weltbild.

Teil I. Die Elemente oder das Immerwährende

Einleitung: Über die Möglichkeit, das All zu denken.

(In Philosophos!)

1.Buch: Gott oder das Metaphysische

2.Buch: die Welt oder das Metalogische

3.Buch: der Mensch oder das Metaethische

Teil II. Die Bahn oder das Allzeiterneuerte

Einleitung: Über die Möglichkeit, Gott [darüber:]Wunder zu erleben.

(In Theologos!)

1.Buch: Schöpfung oder der immerwährende Grund der Dinge

2.Buch: Offenbarung oder der allzeiterneuerte Ursprung der Seele

3.Buch: Erlösung oder die ewige Geburt des Reichs.

Teil III. Das Bild oder das Ewige

Einleitung: Über die Möglichkeit, das Reich zu erkennen

(In Doctores!)

1.Buch: das Feuer oder das ewige Leben

2.Buch: die Strahlen oder der ewige Weg

3.Buch: der Stern oder die ewige Wahrheit.

 

September 1918

[Herbst 1918 ?]

Lieber Eugen,  kennst du die bei den Wiltfebern gebräuchliche Umformung  des Kreuzes in das  “altgermanische” Hakenkreuz …[Zeichnung]? Und die Erklärung des Hakenkreuzes als – “Sonnenrad”?! Ist der Feind im eignen Hause nicht auch hier wieder der gefährlichste? Wie harmlos ist dagegen Nippons aufgehende Sonne.-

“Wir sind nie mehr von einander entfernt

“als wenn wir beide das Gleiche vollbringen

αύτος εφας

Dein Franz.

1.IX.[18]

Liebes Gritli, es kamen zwei Briefe von dir auf einmal. Liebes, liebes – es war gut so, dass sie auf einmal kamen, denn nun halte ich mich still und schreibe dir kein dummes Zeug – und warte dennoch weiter, denn es giebt wenige Dennochs auf Erden, um die mein Glaube und meine Hoffnung so unvertreibbar herumkreisen – und meine Liebe auch, geliebtes Gritli –

Ich mag dir heute nicht weiter schreiben, keine “Antwort”. Gritli – das helle verschim-mernde Kinderhaar – ich kann dir heute auch nicht unterschreiben, als wenn ich hier wäre;

ich bin ja bei dir.

2.9.18

Liebes Gritli, es geht immer so weiter, jetzt mit Schreiben und Abschreiben gleichzeitig. Ich merke auch, dass ich dir (sowenig wie Eugen dem ich eben schrieb) nochmal über Leib und Seele schreiben kann; teils habe ich es ja inzwischen nochmal getan. Ich bin eben jetzt bei den viel “gründlicheren” Begriffen Mensch und Welt, und wenn ich das Gespräch zwischen diesen beiden geschrieben hätte, wäre alles klar. So ist es eben keine Wahrheit, sondern nur ein mikrokosmisches Gleichnis geworden, in dem nur durch die (nur hier vorkommende) Wirklichkeit von Nacht und Tag etwas mehr als blosse Gleichniswahrheit steckt. Denn von Nacht und Tag weiss der Mensch nur, weil er Leib und …. (ich werde mich hüten!) ist. Ein bischen müsst ihr beide daran denken, dass, wollen wir nicht auf die “……” Sprache reduziert werden, wir die Worte des andern annehmen müssen, einerlei wie wir es selber sagen würden. Von dem “und”, dem “dritten Reich”, dem “Geistlichen” handelt doch der ganze Brief (ich meine den ..[Zeichnung Schnecke] Brief), das ist doch eben die Pointe. Aber nun genug.

Du brauchst dich nicht zu kümmern, wenn du mir mal nicht schreibst. Ich fürchte eher, dass ich dich manchmnal zum Schreiben bringe, wenn du schlecht kannst, – einfach wie deine Freundin jetzt, weil Frage Antwort erzwingt. Freilich – wenn dann heut Abend nichts von dir da ist – nein es ist schon besser, Gritli, du schreibst.

Ich habe die grösste Scheu Briefe zu verbrennen. Wenn es nicht ganz grob notwendig war habe ichs nie getan. Das Wort verweht, oder vielmehr verwandelt sich in die Ant = wort. Aber das geschriebene Wort, die Schrift überhaupt bedeutet ja, dass der Mensch sich nicht begnügen wollte mit Augenblick und Gegenwart, sondern sich Dauer schuf, Brücken über die Entfernungen im Raum und in der Zeit. Was also diese Probe bestanden hat, die Probe der kleinen Dauerhaftigkeit – und die hat auch das flüchtigste geschriebne Wort bestanden -, das braucht sich auch vor der grossen Dauer nicht zu fürchten. Ich schrieb dir neulich vom Vergessen. Gesprochnes Wort mag man vergessen, geschriebnes muss man verwahren – wenigstens solang man selber “verwahrt wird”, eben so lang man lebt. Das Menschenleben ist die grosse Dauer, für die das Geschriebene Wort mit seinem Überwinden der kleinen Dauer seinen Befähigungsnachweis erbracht hat. Die Briefe, die ich von jemandem habe, sind mir wie ein Stück seines Lebens, das in meine Verwahrung gelegt ist; ich hätte beim Verbrennen glaube ich ein Totschlags-gefühl; deshalb kann ich es auch bei gleichgültigen Briefen sehr schwer; selbst Einladungen habe ich, wenn sie geschrieben waren meist aufbewahrt. Die Flüchtigkeit, die auch das schriftliche Wort hat, wird wie beim mündlichen, aufgenommen und aufgelöst in die Antwort. Ein beantworteter Brief ist nie mehr “zu intim”. Nur solange ein Brief noch ohne Antwort ist, solange denke ich mit Zagen und mit Scham daran, aber die Antwort einerlei wie sie ist nimmt ihn auf, tilgt das Flüchtige an ihm, und was bleibt ist das Dauerhafte.

Die “Heidelbeeren” hatte ich ganz vergessen (sie schweben mir auch jetzt noch nur so dunkel vor, dass ich glaube, ich habe sie nicht selbst gegessen); daher hatte ich den Brief gar nicht hierher zum Beantworten mitgenommen, weil kaum etwas zum Beantworten drin stand. Ich schicke dir das beiliegende Kunstprodukt, meine liebe Maarrgrritt, erstens zur Adressierung und zweitens zur Zensur (und im Nichtge-eignetheitsfalle zur unbedenklichen Vernichtung und Vorschrift eines Ersatzschreibens).

Ich glaube, du hast die Heidelbeeren gegessen! Und mich lässt du kaltblütig den Bedankemichbrief dafür basteln – Margrit !!!!                Pfui!

Dr. Franz.

2.9.18.

Lieber Eugen, also du ergänzest schon die dünne Stelle, die mich an …[Zeichnung Sonne Mond Sterne] störte und gehst von Japan nach China. Es giebt eine recht törichte kleine Parabel von Tolstoi, wo ein Chinese recht behält, denn er verehrt den Himmel, der nur einer ist über der Erde, und wenn also alle den Himmel verehren wollten so wäre die Menschheit eins. – Für das geozentrische System kämpft seit Jahren schon Johannes Schlaf; näheres weiss ich nicht, kann es mir auch nicht vorstellen; die Fixsternparallaxen, deren Nichtnachweisbarkeit für die zeitgenössischen Gegner des Kopernik (das Denkmal dieses grossen – Polen steht übrigens in Warschau!) und noch für Tycho ein Haupt-argument war und die im 19. scl. mit den verbesserten Fernrohren überall, soweit das Fernrohr es theoretisch ermöglicht, nachgewiesen wurden, sprechen zu deutlich für Kopernikus. Sonst müsste man annehmen, alle Fixsterne beschrieben genau gleichzeitig mit der Sonne jeder für sich einen kleinen Kreis jährlich. Und da man an der Drehung der Erde um sich selbst ohnehin nicht zweifelt, so wäre selbst bei einer Wiederauffrischung des geozentrischen Planetensystems die eigentliche Crux, nämlich die kleinstädtischen Allüren des ganzen Planetensystems, gar nicht beseitigt. Die Sonnen fliegen eben (seit Giordano Bruno) und damit ist die Frage Erde oder Sonne gleichgültig geworden. Da wir aber Kant (“…sei Sonne deinem Sittentag”) und Hegel (die Weltgeschichte ist nicht der Fortschritt in Richtung auf einen Punkt, welcher unter xo y’ z” und ζ, υ’, ζ” im Sternbild des Herkules liegt, sondern im Bewusstsein der Freiheit) haben, so ist ja alles wieder in Ordnung und die Welt ist wieder genau so “geozentrisch” wie sie es seit dem Untergang der Winkler = A.Jeremiasschen “altorientalischen Weltanschauung” mit Ausnahme der 250 Jahre von Kopernikus bis Kant immer war, also seit dem “Jahre 1”. Die Astrologie, die ja die Erbin jener “altoriental. Weltansch.” ist, hat auch nicht umsonst grade im 17.scl. geblüht.

Gregory habe ich nie gesehen; das Buch möchte ich aber doch; ich habe aus der Chr. Welt eine komplette Vorstellung von ihm, als ob ich ihn gesehen hätte. – Deine Theorie über Offiziersaspiranten und Infanterie stimmt nicht; unser Zug hat z.B. seinen schiessenden Wachtm. u. Offasp. (also quasi 3ten Offizier) als “1 Uoff.” abgeben müssen. Aber vorläufig ist das Abkommandieren hier durch Offensivaussichten für September ins Stocken gekommen.   Teildemobilmachung würde Revolution bedeuten. Allerdings wüsste ich auch kein andres Mittel mehr, um dem Krieg ein Ende zu machen. Aber warum soll er eigentlich durchaus ein Ende nehmen? von uns einmal abgesehn. Die Engländer sind in Baku! (der einzige, der diese kleingedruckte Nachricht fettdruckt ist Stegemann im Bund).

Die techn. Hochschule müsste freilich an einem Ort ohne Universität liegen. Beziehungen? wenn man welche haben will, hat man immer welche. O Deutschland! – Dass die t. H. noch antisemitischer ist wie die Universität, wusste ich nicht. Aber deine “Unmöglichkeit” ist ja rein persönlich; das Fakultätsgretchen merkt, dass du “ganz sicher…, vielleicht sogar….” bist, und hängt höchstens nachher vor sich selber, (um sich doch nicht zugeben zu müssen, sie fürchte Genies oder den Teufel), ihrer nun mal habenden Antipathie ein antisemitisches Mäntelchen um. Übrigens deine Skepsis gegen die Universitäten und vor allem das Korrelat dazu, den Optimismus für die t.Hoch., teile ich nicht. Nicht die Universität ist kein Boden für dich, sondern die Fakultät. Gäbe es einen Juristenstuhl in der philos. oder theol. Fakultät (wie es einen in der medizinischen giebt), so wärest du untergebracht. Und nur weil es das nicht giebt, taste ich nach der t.H. – Das ist eben der Fehler der Universitäten, dass sie keine Universitäten mehr sind, sondern nur noch Fakultätenbündel, und noch stolz darauf sind wenn sie dies Bündel durch eine staatswissenschaftl. fünfte und eine naturwissenschaftliche sechste noch bunter machen. Und die Mediziner wohnen in ihren Instituten am Rande der bewohnten Erde und haben gar keine Zeit mehr überhaupt noch ins “Auditoriengebäude” zu kommen. Und dass es in Berlin eine Gelegenheit geben muss Weltgeschichte zu hören, muss Althoff direkt durch einen Machtspruch erzwingen. Wobei der Vergewaltigte den Zweck der Massregel zu 3/4 wieder verdirbt, indem er das Kolleg über 4 Semester zerrt statt als 1 stündiges Publikum in einem.

Anbei drei leibhaftige Heftchen Steiner (statt Brot). – Schick sie irgendwie, etwa via Helene, Göttingen Reinholdstr.14, weiter an Rudi. Kantorowicz ist ein Mensch geworden, also riskiere ichs ein Unmensch zu sein und erkläre: es ist Mist. Aber ich will mich gern zurechtweisen lassen; lies es also.

Dein Franz.

3.9.18

Liebes Gritli, es ist dumm, dass ich mich so in den “15ten” festgerannt hatte; es war aber so traurig, das Alleinschreiben; ich spürte die Entfernung so; weiss man oder darfs glauben, dass der andre auch schreibt, so ist gleich die Gleichzeitigkeit da und Zeit und Raum vergessen. Gewiss kommt es nicht auf Briefe an, so wenig wie auf Worte, aber es ist hier wie bei so vielen Dingen ein “Doch” dabei: grade weil sie “unvollkommen” und zufällig sind und Stückwerk, und das was man voneinander im Herzen trägt,”ganz” ist, grade deshalb brauchen wir sie. Das Ganze und Vollkommene, das was wir von einander in uns tragen, das kann uns kein Tod und keine Macht rauben, aber die Süsse des Lebens fehlt ihm, die giebt erst das Unvollkommene, das Täglich = Alltägliche, der Augenblick und Zufall. Ohne das werden wir uns statuarisch und kriegen Heiligenscheine. Und das soll nicht sein, solange wir leben. Deshalb dürfen wir uns vor dem “bischen Bewusstsein und Wirklichkeit” nicht drücken und unsrer Armut nicht schämen, sondern müssen entschlossen unvollkommen und “gelegentlich” sein, damit unsre Liebe nicht paradisisch wird, sondern lebendig bleibt, solange wir eben leben.

Die Heiligenscheine wachsen sehr leicht; man muss sie sich täglich rasieren – weiter nichts sind Briefe. Grade weil sie nie so “herrlich” sein können wie das stumme Glück des Einandergehörens – grade deshalb halten sie einen nicht “hoch”, aber lebendig. – Die arme Helene – aber sie kann auch weinen, wenn man ihr sagt, der Krieg gehöre in die Weltordnung; welche Protestantin könnte das. Ich habe mich bei der Geschichte wieder darüber betroffen, dass Rudi mir misstraut; sonst spräche er doch nicht mit Mutter, so dass sie “uns” “verteidigen” müsste. Ich hatte es vergessen, weiss auch nicht was ich ihm sagen soll. Er steckt auch so schrecklich im Krieg allerschlimmsten Westkalibers drin, dass es mit Schreiben nicht viel ist. Ich sprach dir einmal in Leipzig davon. Bekümmere dich aber nicht darüber; das wird auch noch gut werden, wenn ich auch noch nicht sehe wie; aber ich bin ganz gewiss.   Übrigens die Predigten wollen wirklich von Anfang an gelesen sein, bring doch Eugen dazu, sag ihm dass die erste Hälfte stark angeregt ist duch Pichts Settlements = Buch. Mit dem Herausgreifen der einzelnen, obwohl sie als einzelne entstanden sind, jede für sich, tut man dem Ganzen unrecht. Denn es ist ein Ganzes. Es handelt vom “Vergewaltigen des Himmelreichs” bzw. vom “So seid nun geduldig”, die erste Hälfte steht unter jenem, die zweite unter diesem Zeichen. Es ist kein sich entwickelndes System wie die Georgsreden, sondern eine sich widerlegende Geschichte; man darf keine einzige der Predigten ganz dogmatisch nehmen (die Einzelgedanken natürlich wohl, das sind Äusserungen eines gleichen Inneren; aber jede Predigt als Ganzes ist nur eine Station auf dem Wege). Mit Hans konnte es nur “Auseinander-setzung” geben; aber wenn er sich zu Rudi nicht findet, so wäre das einfach eine Blamage für ihn (nicht für Rudi, der hat sich längst zu ihm gefunden), nämlich ein Beweis, dass er trotz allen gegenteiligen Schwüren doch verlangt, dass man ihm gelehrt = ebenbürtig dialektisch dient; und das kann Rudi freilich nicht, denn er ist Dichter und Mediziner und in beiden Eigenschaften hat er das Dialektische nicht gelernt. Wenn er hier nicht durch die Hülle der Worte durchstösst, so glaube ich ihm sein Mannschaftshaus und alles dergleichen nicht mehr; dann hat er sich da nur durch die bequeme Zwangsgewaltstellung des Offiziers, dem man ja nicht davonlaufen ja ihn noch nichtmal angähnen kann, selbstbelogen; dann ist er ein Gelehrter, der nur Gelehrtes versteht. Eh bien – und da das alles Unsinn ist, so muss er eben auch an Rudi herankommen und Rudi, der gegenwärtige Rudi, steckt ganz in den Predigten, wenn man sie nur auch richtig als ein Ganzes (oder vielleicht Fragment eines Ganzen) liest. Dies ist ja ein richtiger Erpresserbrief und es ist gut dass dieser Passus in dem Brief an dich steht und nicht an ihn; kau ihn erst gut vor, ehe du ihn ihm gelegentlich weitergiebst. Überhaupt – aber es ist doch sonderbar, jetzt im Krieg sieht man in so etwas was man im Frieden nur tragisch genommen hätte fast mehr die gute Seite, dass er doch nun auf Monate, wahrscheinlich auf viele Monate zuhause sein wird und möchte ihm beinahe gratulieren. Denn schliesslich, da es doch keinen Frieden mehr geben wird, was bleibt einem eigentlich andres übrig. Die augenblickliche Verschlimmerung wird ja vorüber sein bis dieser Brief bei euch ist und danach kommt dann die lange Zeit, die rein aufs Gewinnkonto gehört. Denn das es etwas wirklich Schlimmes wird, mag ich nicht glauben; ich lasse mich lieber von deinem eigenen p=flegmatischen Optimismus tragen. Mach ihm einmal leise, ohne dass er es weiss (weil es sich ja nicht gehört), auch eine Eia von mir, so unauffällig zwischen deinen eigenen. Und sei nicht traurig, wirklich nicht. Sei gut.

Ich habe dich lieb.

Dein Franz.

3.9.18

Lieber Eugen, die Gleichzeitigkeit geht weiter; gestern verteidigte ich die Universität gegen dich und heut lobst du die protestantischen Universitäten und möchtest gern daran bleiben. Aber ich fürchte, das ginge nur wenn du Anlass gäbest, dich als “Historiker” oder “Philosophen” zu rufen – eben wieder ausserhalb deiner Fakultät. Diesen Anlass hast du aber noch nicht gegeben. Das Revolutionsbuch wäre vielleicht ein Anlass. Dabei denke ich freilich immer an eine peripherische (Schweiz, Österreich bis Cernowitz einschliesslich). Schreib doch das Revolutionsbuch. Denk dir einen widersetzlichen ungläubigen Leser, dem du alles sehr breit und mit beruhigenden Anknüpfungen an schon von andern Gesagtes sagen musst – und fang an. (Diesmal sag ich: Fanget an). Die Anknüpfung an 1914 muss bleiben, und wäre die nicht, würdest du ja auch nicht schreiben können. Noch einen guten Rat: schreib die Tabellen nicht in Tabellenform, sondern (trotz Papiermangels) in Sprachform. Ein Buch mit Tabellen liest man nicht, sondern bekuckt die Tabellen, sagt: Konstruktion, und klappt zu. – Die Politeia (du meinst wohl die Politik) habe ich aus den von dir angegebenen Gründen noch nie bis zu Ende gelesen; ausserdem wegen des Krieges; angefangen habe ich sie mit Beckerath in Form von Moselweinabenden in Berlin, weitergelesen mit Putzi ohne Moselwein, wobei der arme Renner, mit dem Putzi damals zusammenlebte, – Käte kannte ihn – gelegentlich ins Zimmer sah, ob wir noch nicht fertig wären. — Grabowski ist sicher nicht ganz gescheit, aber für einen Politiker schon zu sehr. Wieviel nichtkatholische Menschen auf der Welt, aber auch nur in Deutschland,überhaupt wissen, was das “Reich” ist? Ich glaube, man kann sie an den Zähnen abzählen (was übrigens greulich aussähe), und wenn man die Juden und Judenstämmlinge weglässt, an den Fingern einer Hand. Der letzte Punkt ist der merkwürdigste, 1918 p.Chr.n. Der Deutsche +), wenn er sich von dem Bauchdienst der “Nation” losgemacht hat, verfällt gleich dem Gehirnfimmel der “Idee”. Er ahnt nicht, dass beides Götzendienst ist und dass Gehirn und Bauch Glieder sein müssen des Corpus = Σωμα. Fichte ist der eigentliche Feind; und es gehört zu den Krausheiten des Augenblicks, dass er in diesem katholischen Krieg von der Majorität der deutschen Intellektuellen erst heroifiziert worden ist .

Dass das Examinieren zum Dozieren gehört, hatte ich noch nie bedacht. Es ist aber wahr.

Dein Franz.

+) ich lese die Brüder von Rhoden.

4.9.18

Liebes Gritli, ich muss dir wieder mal vom “Stern” erzählen, – grade weil du ihn ja nachher wenn er fertig ist doch nicht lesen kannst; er wird sehr schwer, wenigstens nach dem Teil zu urteilen, den ich jetzt schreibe. So muss ich dich jetzt, solange er noch bei mir ist daran teilnehmen lassen. Das Schreiben selbst ist ja gar nicht so schön; es ist mehr Arbeit. Das Herrliche aber ist das blosse daran Denken, wobei dann die Notizen entstehen. Ich spüre fast körperlich die Gedanken in mir wachsen und sich verzweigen, und spüre wie immer wieder aus den gleichen Wurzeln die Säfte in die neuen Zweige steigen. Das ist ein Gefühl, um das es sich schon allein lohnte zu leben. Der Zusammenhang, den alles ver = und zerstreut Gedachte von Jahren her in so einer Zeit plötzlich bekommt. Heute ist mir deutlich geworden, nachdem es schon ein paar Tage in mir gebrummt hatte, wie meine Gedanken über die Sprache, die ich vor 2 Jahren zuerst formulierte (von der Sprache als der Mitte zwischen den zwei Sprachlosigkeiten des Nochnichtsprechenkönnens und des Nichtmehrsprechenbrauchens, zwischen der Stummheit des Steins und dem Schweigen Gottes) (was jeder doch im Leben erfährt: erst kann er nicht mit jemandem sprechen, nachher kann ers und zuletzt hat ers nicht mehr nötig – man versteht einander auch ohne Worte) wie das sich jetzt in das Ganze einfügt und in all seinen Teilen hervortritt. Die Sprachlehre (wie auch die Kunst) hat keinen festen Ort, sondern geht durch das Ganze. Die ganze Unzulänglichkeit der Idealisten von 1800 zeigt sich in diesem einen: dass sie geglaubt haben, es gäbe eine “Ästhetik”; noch Hansens Frage nach Eugens “Verhältnis zu den Künsten” stammt aus diesem alten Wahn. (Eine Sprachlehre haben sieüberhaupt nicht gehabt – das ist das andre grosse Symptom. Schon Hamannwollte und Herder hat aus diesem Gesichtspunkt Kant kritisiert). – Zu dem Plan neulich: der III.Teil heisst nicht Das Bild (das könnte subjektiv verstanden werden, wie in dem Wort Weltbild), sondern: die Gestalt.

Ich schicke euch nächstens doch die Rhodenschen Briefe. Es ist doch etwas Grosses, obwohl greulich ätherisch. – Das Breuersche “Judenproblem”, ein, obwohl aus der schwärzesten deutschen Orthodoxie kommendes, trotzdem grundgescheites und von richtigen Formulierungen vollgestopftes Büchelchen schicke ich dir nicht, obwohl ichs täte, wenn du allein wärest. So aber habe ich eine Scheu. Ich könnte dir sagen und schicken, was Eugen nicht haben soll, aber nicht, was er nicht haben kann. So ists vielleicht etwas zu scharf gesagt, aber doch, so etwas ähnliches ist es. Es sind eben Worte.

–         Ohne Worte –

Dein.

5.9.18

Liebes Gritli, mein leichtsinniger Optimismus ist also im Recht gewesen; ich hatte es mir sonderbarer Weise nicht anders vorstellen können. Mutter schreibt mir inzwischen, Ihr kämet vielleicht jetzt noch nicht nach Kassel; aber ich schreibe doch weiter über Kassel, denn in Heidelberg seid ihr ja bis der Brief ankommt doch sicher nicht mehr und nachgeschickt wird von der Terrasse 1 sicher zuverlässiger als vom Viktoria = Hotel in Heidelberg. Vom Hotelstandpunkt kenne ich übrigens Heidelberg fast gar nicht, ausser von Hansens Hochzeit her, dieser grossen Komödie. – Der Säckinger Zensor hat sicher viel Mühe an meiner Handschrift und den zahlreichen raffiniert versteckten politisch = strategischen Anspielungen. Nun, jetzt lassen wir ihm auf lange Ruhe. – Du hast von Frau Cohen gehört. Der Wohnungswechsel hat mich auch von Anfang an erschrocken. Und sie tut mir sehr leid. Und dennoch nehme ich ihr diesen Zusammenbruch übel. Oder eigentlich nicht ihr, sondern ihm. Wie ich auch an Mutters Zusammenknicken nach den ersten Tagen Vater Schuld gebe. Auch die ersten Tage, wo sie so gefasst war, sind ja Vaters Werk gewesen, und vielleicht das Grösste was ihm je gelungen ist. Was wirklich gross und stark in Vater war, das hat da Mutter die Kraft gegeben zu “repräsentieren”, eine “Rolle zu spielen”, als “seine Frau” dazustehn. Und was schwach in ihm war, das macht nun heute sie schwach, fondlos, hülflos. Das ist es doch zwischen Mann und Frau, dass man sich gegeseitig seine Kraft und seine Schwächen einflösst. Solange man zusammen ist, wird davon nach aussen nichts sichtbar. Sowie aber einer allein auftreten muss – es braucht gar nicht dies letzte rückwegslose Muss des Todes zu sein, aber das natürlich ganz besonders – dann wird sichtbar was an dem andern, dem Abwesenden, war und was die Ehe war. Du hast von Vater doch selbst empfunden, dass er im Hause nicht ganz er selbst war; nimm das “im Hause” mal eugensch intensiv, so siehst du, weshalb sie zusammenfallen musste, sowie sie sich erst wieder im Hause allein fand (und auch, weshalb sie immer wieder sich aufrichtet und stark ist – gar nicht gewaltsam, sondern ganz natürlich, aus einer inneren Quelle heraus, sowie ein “draussen” an sie heran tritt). Des einen Teils Schwäche wird des andern Teils Schwäche, und ebenso mit der Stärke. Die Ehe ist wirklich “ein grosses Geheimnis”. Und so ist es auch bei Frau Cohen. Ich weiss ja da viel weniger und war mir bis jetzt meiner eigenen Wahrnehmungen nicht sicher. Aber jetzt bin ichs. Cohen hat über sie hinweggelebt mit seinem Eigentlichsten. Mit vielem Einzelnen wohl nicht, aber mit dem Eigentlichsten doch. Die Liebe hat sie das, solange sie zusammen waren, nie empfinden lassen, wahrscheinlich. Sie hat die beiden eben eingeschläfert. Diese Fremdheit von ihr zu ihm habe ich immer ganz krass empfunden, fast schmerzhaft, weil ich ja von dem Eigentlichsten und nur von dem Eigentlichsten bei ihm festgebannt war. Wie könnte es denn sonst sein, dass sie offenbar so gar nichts, gar [doppelt unterstr.] nichts von dem verspürt, was mir täglich mehr erstaunlich wird und doch sich nicht wegdisputieren lässt: dass ich noch nie einen Menschen gekannt habe, dessen Tod so sehr quantité négligeable ist; ich vergesse immer wieder, dass er tot ist und wenn es mir dann einfällt, erschrecke ich nicht darüber; es ist ja wahr – aber was macht es!! Das Lebendige an ihm ist nicht tot zu kriegen gewesen. Sein letztes klares Wort soll gewesen sein: “Ist es nicht schade um mich?” Ja wirklich, und weil es schade um ihn gewesen wäre, so hat der Tod eben keine Vollmacht über ihn bekommen. Wie fern ist sie ihm geblieben, dass sie davon nichts verspürt. Aber es ist nicht ihre Schuld sondern seine. Er hat den Kampf gescheut, den es gekostet hätte. Es war in ihm etwas, was sehr jüdisch ist (oder geworden ist), nämlich unbeschadet und dicht neben der grössten Unbedingtheit wieder ein Fünfegradseinlassen. Ein sich selber Hinweglügen und Hinwegtäuschen über das Misslungene oder Allzuschwere und deshalb kaum Versuchte (mir immer sehr auffällig in dem inneren Verhalten zu der völligen jüdischen Indifferenz seines nächst Natorp bedeutendsten Schülers Cassierer – ich habe ihn direkt darauf “gestellt”, da suchte ers zu beschönigen und wollte doch “ein bischen” finden und war zuletzt noch glücklich – glücklich!! – dass Cassierer, nachdem er gehört hatte, dass ich die Druckbogen des Judenbuchs las, sich bewogen gefunden hatte, doch auch darum zu bitten); also er hatte in solchen Fällen einen gewissen weinerlichen Ton, etwas unendlich Rührendes, er bat gleichsam um Entschuldigung für die Unvollkommen-heit der Welt -: “waswollen Sie”; es war alles durcheinander: Skepsis und Illusionsfähig-keit und Glauben und Verzweif-lung. Aber diese allermenschlichste Mischung hat ihn dann wohl auch gelegentlich am Möglichen verzweifeln lassen, besonders wo nun gar die Liebe den Mangel von beiden Seiten zudeckte. Und das war wohl hier. Nun “rächt” es sich, und sie zahlt den Preis nach für die Leiden, die ihr in der Vergangenheit widerrechtlich erspart geblieben sind. Noch etwas; weisst du was sehr stark bei diesem Einschläfern beteiligt war? die Gemein-samkeit in der Musik. Musik ist die allergefährlichste Kunst, sie gewöhnt einen an die Stummheit des “unter dem Wort” und wiegt einen in den Glauben, es wäre das Schweigen “jenseits der Worte“. Es ist ein Stück Selbstzucht, das nicht zu verwechseln und die Musik befördert die Verwechslung.

Ich habe noch allerlei auf dem Herzen, womit ich hätte anfangen sollen, was mir dein Brief aufgerührt hat. Meine ruhige Zeit ist aber um; so verschiebe ichs auf morgen. – Stummsein war auch hier leichter und bedrückt doch; ich hoffe Worte zu finden. –

Ich liebe dich.

7.9.[18]

Liebes Gritli, es ist mir wieder so schön gleichzeitig zumute; das macht dass nun unsre Briefe wieder hin= und hergehen. – Heut morgen habe ich – eine sonderbare Feier des Tages – aber ich bin allein, losgelöst, losgelöster noch als sonst – also heut morgen habe ich das “erste Buch” geschlossen (und zur Sicherheit gleich den ersten Satz des zweiten darunter geschrieben). Ich komme von der hochtrabenden Benennung “Buch” nicht los, obwohl diese ersten 3 “Bücher” jedes nur etwa 20 Druckseiten lang werden; aber es ginge eben in den aufgestellten Rahmen noch viel mehr hinein, z.B. die ganze Theologie des Heidentums, die ich nur in ein paar Pointen gegeben habe. So vertröste ich mich selbst mit der Bezeichnung “Buch”, grade weil ich über die einzelnen “Bücher” weg zum ganzen Buch hindränge. Vorerst wird es freilich in den nächsten Tagen eine Unterbrechung geben; bis der Brief bei dir ist, werden “wir” wohl schon im Deutschen Tagesbericht stehen (bzw. nicht stehen, sondern zurückgehn). Übrigens habe ich das Gefühl, das ich bei der Einleitung nicht hatte: dass es mir gelungen ist, ziemlich so wie ichs mir vorgestellt hatte. – Mutter schickte mir einen merkwürdigen (übrigens ganz “normalen”) Brief von Frau Cohen; ich bat sie, ihn dir auch zu schicken. – Tiecks Roman steht bei mir schon auf dem Programm, seit ich den Passus darüber in Treitschkes V.Buch las; aber gelesen habe ich ihn noch nicht. Die Papstgeschichte ist doch eine schöne camera obscura der ganzen Weltgeschichte; alles geht auf der Platte vorüber, alles freilich unter der einen Perspektive, die eben damals schon nicht mehr die “allgemeine” ist. – In der Odyssee von a gleich nach e zu springen, ist allgemeiner Schulbrauch, und beinahe schade. Denn Telemach lohnt die Bekanntschaft, und dass man 4 Gesänge lang immer an Odysseus denkt und ihn doch erst im 5ten ihn selber zu sehen bekommt, ist ein grosser Effekt. Aber e lockt freilich,und die Philologen weisen selbstverständlich nach, dass alles vorher, etwa die ersten ..zig Verse ausgenommen “späteres Einschiebsel” ist. – Meine Predigt betr. des der Reihe nach Lesens von Rudis Predigten war also schon nicht mehr nötig. Vom Gleichnis die Stelle weiss ich [gestr. Wohl] wohl x) noch. Doch sind die ersten Predigten, abgesehen von der Themastellung in der ersten, ja nur Auftakt. Das eigentliche beginnt erst, wo der Prediger zur”Tat” (der Settlementsgründung) übergeht. Je weiter ihr lest, um so mehr wirst du von dem Rosinenklauben abkommen; das Ganze ist ein guter Kuchen. – Dass Eugen Philips besuchen will wundert mich gar nicht so sehr; denn ich will es auch. Ich schrieb das sogar neulich an Hans, dass ich jetzt wohl mit Ph. zusammensein könnte, weil ich ihn nicht mehr wie früher für mich zu fürchten brauchte wegen geheimer Verwandschaften. Wenn unter “Eugen und Hans” noch kein Schlusspunkt gehört, dann aber nur wegen dieses Besuchs bei Philips. Unter “Eugen und Hans = selbst” gehört der Schlusspunkt, glaube ich.

Mutter kennt ja das Tempo unsrer Korrespondenz, und jetzt, nachdem ich wohl über eine Woche durch sie schreibe, ist auch nicht mehr viel zu verderben. Aber vor allem, ich rede mir ein, dass ihr doch noch über Kassel müsst vor Tölz, und so schreibe ich dahin weiter.

Eugens militärische Belehrungen muss ich leider (oder nicht leider) korrigieren: Vwm. Fliess wurde nach 3/4jähriger Vizeherrlichkeit (als Off.asp. und “Schiessender” sogar) zur Infanterie gegeben. Vwm Nix ist seit August vorigen Jahres Vize. Das sind die beiden Fälle bei meiner Formation. Ein Ltnant, der neulich bei uns war, war 1 Jahr Vize gewesen. Ich kümmere mich nicht darum, sonst wüsste ich wohl noch mehr Beispiele. Aber du hast recht, zunächst giebt es nähere Sorgen – und nicht bloss zunächst. Ich will einmal Fallstaff zitieren: Ich wollt es wär November, Gritli, und alles gut.

Obwohl das Eigentliche, Gritli, auch so schon “alles gut” ist, da brauchen wir auf keinen November zu warten und auf kein “bei dir sein”.

Ich bin ja bei dir –

Dein Franz.

  1. x) ich habe ganz lahmgeschriebene Finger heut, vor allem von dem greulichen und doch unvermeidlichen Abschreiben.

8.9.18

Liebes Gritli, kennst du das Papier? (die selbstgemachte Tinte steht nicht schön darauf). Ich sah nämlich eben meine Vorräte durch, von welchem tintenfähigen Papier ich wohl noch genug hätte, um ev. I 1 darauf abzuschreiben; ich war schon beinahe entschlossen, dir “unser” braunes zu entziehn, da fiel mir dies vergessene Ölkrüglein noch ein; es ist, auch ohne Wunder, noch genug da für 20 Druckseiten. Nun kann ich den Rest des braunen noch an dich verschreiben und bis dahin wird Mutter hoffentlich auf meinen Notschrei reagiert haben (denn in den Feldbuchhandlungen u. Marketendereien “hier” giebt es schon seit Wochen weder Papier noch Tinte noch Federhalter – obwohl Eugen sagen wird: Papier etc. giebt es in Feldb. u. Mark. immer). So kommt also “Gott oder das Metaphysische” (die Fremdworte in der Überschrift ärgern mich seit gestern) auf dies Papier. Wenn. Das ist nämlich immer unsicherer. So umfangreiche und vor allem so pessimistische Vorbereitungen wie jetzt habe ich hier noch nicht erlebt. Ich habe zwar leichtsinniger Weise heute wirklich I 2 angefangen, aber ich glaube nicht dass ich es noch in einem Zug zuende kriege.Eben habe ich auch Briefe verpackt, um sie heimzuschicken, deine gehen an Dr. A.Bund m.Br. Frau Gertrud Oppenheim; ich will sie nicht den hiesigen Eventualitäten aussetzen, nur den Brief mit dem Geschenk von dem kleinen blassblonden Gritli habe ich behalten – liebes grosses zwiefarben nachgedunkeltes —–

Sehr feierlich kann ich das Bevorstehende hier nicht nehmen. Durch das Buch lebe ich jetzt zusehr auf Monate hinaus, als dass ich mir mehr als höchstens eine kleine Unterbrechung vorstellen könnte. Die Abschrift der,wirklich nur mässigen, Einleitung wird hoffentlich morgen fertig, sodass sie an Hans gehen kann. Und heut Abend kommst du wieder – du kannst es wirklich ruhig riskieren, das Land ist hinreissend schön, auch in dieser brennenden Hitze, am schönsten abends wenn die nahen Berge in der klaren nackten Plastik des Sonnenuntergangs stehen – man geht über einen Berg hinüber, – die Sonne ist schon hinunter, – die weite Ebene dämmert und die fernen begrenzenden Berge schweben ganz körperlos wie blauschwarze Schatten in die Nacht hinein. Ich laufe immer ein paar Minuten hinter den andern her, damit ich das alleine habe, ohne Volksgemurmel.

Auf Wiedersehn heut Abend, Gritli –

Dein.

9.9.18.

Lieber Eugen, über den Unterschied von “geistig” und “geistlich” – ja worüber schreiben wir denn sonst? es ist doch unser einziges Thema. Weshalb sind wir denn auf Hegel so fuchtig? doch bloss weil er diesen Unterschied nicht weiss. Die Einordnung der Religion als Teilgebiet stammt sogar von ihm. Aber mit dem blossen Nunwiederherausnehmen ist es nicht getan. Das hast ja eben du mich gelehrt. Sie gehört eben doch auch hinein, oder umgekehrt es in sie. Ich stecke ja wie du weisst so bis über die Ohren jetzt grade in diesen Gedanken, dass ich kaum darüber schreiben kann. Aber es ist das Thema.

Mit der Rolle, die du den Jesuiten jetzt giebst, bin ich wohl zufrieden; aber kannst du mit solchen Burgwächtern was anfangen? hast du sie wirklich nötig? ich glaube doch nicht.

Was tut Weizsäcker. Ist die Naturphilosophie ins Inhaltliche gediehen?

Wie anti = naturphilosophisch bist du geworden. Ich spüre es wieder an dem Entdeckerschwung mit dem du den Gegensatz geistig = geistlich behandelst (wie neulich an …[Zeichnung Sonne Mond und Sterne]). Sind wir etwa dabei, uns “gründlich zu verlernen”, du dich, ich mich, indem du mir meinen altgedienten Religions = , ich dir deinen alten Naturbegriff “ausführst”. Fast kommt es mir so vor.

Ich komme heute glaube ich nicht mehr dazu Gritli zu schreiben. Grüsse sie.

Dein Franz

10.9.18.

Liebes Gritli, siehst du, ich hatte recht, weiter nach Kassel zu schreiben; das sind so Vorgefühle. An Wildungen hatte meine Seele nicht gedacht; aber ich bin, trotz der fehlenden “Berge”, froh dass ihr dort seid; in Tölz sind zwar die Berge schöner aber die Männer nicht. Und dass ihr nun gar gestern vielleicht bei Mutter wart, ist doch sehr gut. Weizsäcker ist freilich fein geworden; ich bin ja auch meine frühere sehr kritische Stellung zu ihm im vorigen Winter ganz los geworden – bis auf den kleinen Rest: dass ich ihn nicht unbedingt für sicher vor Rückfällen oder vielmehr vor einem vollkommenen e gratia excidere, einem Wieder = Herauspurzeln aus dem “Gnadenstand” halte. Er wird entweder gar nicht oder sehr gewählt heiraten müssen, wenn er von dieser Gefahr frei werden soll. Grade die Qualitäten , die ihn tragen, hängen ihm auch als ein herabziehendes Gewicht an; ich meine die ganzen Masse, die sich in dem würtembergischen Drittgenerations(!) = Nobilityzeichen, das du immer so andächtig vor den Namen malst, symbolisiert. Weizsäcker ist das eine deutsche Extrem, das (scheinbar) “zugeknöpfte”, Typ Goethe. Die Zugeknöpftheit ist ja wirklich nur ebenso Schein, wie die Aufgeknöpftheit des andern, des Schillertyps. Das ist der grosse Wert der Steffensschen Neujahrhundertnachtanekdote, die ich immer erzähle (wo der Champagner so verschieden auf die beiden wirkte: Goethe wird immer fideler, Schiller immer pedantischer). Da sieht man das bloss Scheinbare. – Und da ich grade bei den deutschen Typen bin, – sollte ich dir wirklich nie von Kähler erzählt haben? Von Baden = Baden habe ich dir sicher erzählt und dir allerlei Dokumente davon gezeigt. Und damals und dadurch kam doch der Bruch mit Kähler zum Schluss. Übrigens habe ich seit Jahren schon den Bruch nicht mehr für ein letztes Wort gehalten und rede mir ein, einmal wieder mit ihm zusammenzukommen. Weil eben die Rassenantipathie doch unmöglich ein letztes Wort sein kann, und nichts andres war es bei ihm. Vielleicht, trotz der gänzlichen Verschiedenheit der beiden “Arier” etwas entfernt Ähnliches wie bei Eugen und W.P., nur dass ich viel unbefangener massiver und unzarter (um nicht zu sagen: taktloser) auf ihn eindrang als Eugen auf W.P. – So hatte er von Anfang an etwas Angstgefühle vor mir, als müsste er sich wehren. – Ich habe nicht die epische Breite, um dir schriftlich alles zu erzählen, wie es kam – und ging. Das Ende hat mich dann sehr geschlagen, nicht mein Gewissen (das Gefühl, sich und sein Verhalten rechtfertigen zu müssen, war auf Kählers Seite; ich habe nie ein Bedürfnis gehabt davon zu sprechen), aber meine Fähigkeit zum Glauben an Menschen. Die abergläubische Scheu vor dem “Du”, die Eugen so lange hat ausbaden müssen, stammte noch von da her; insofern kann ich sagen, dass die Wunde erst da zugeheilt ist. Durch das Ende mit Kähler wurde ich dann unmittelbar frei zum Anfang mit Rudi – Sommer 1910 -, und so hat das Böse sein Gutes gehabt -. Sollte ich dir denn das wirklich noch nie erzählt haben?

Übrigens Meineckes schreckliche Antwort nehme ich nicht ganz ernst. Vielleicht war sie nur, um fertig zu werden; er ist wohl jetzt sehr überarbeitet und unterernährt.

Der Mädchenerziehung tust du Unrecht. Du liest ja jetzt Ranke – was willst du mehr. Übrigens bin ich immer wieder erstaunt wenn ich dich Gedrucktes lesen sehe, und noch nicht mal Hausgemachtes.

Nun war der Ärger über Hansens Brief auch an dir; ich hatte ihn ja schon einige Zeit hinter mir. “Blind” ist er aber nicht; er ist übersichtig. Er sieht über uns Erdgeschöpfe hinweg und ist doch natürlich auch nicht der liebe Gott, dass er sich zu uns “herniederneigen” könnte; so ist er, wie Platon von Eros sagt, ein grosser Daimon, ein Mittelwesen. Er hats auch kaum übel genommen, als ich ihm das neulich schrieb, er sei ein Engel und deshalb ginge es nicht u.s.w. (Auch seine Zusammengehörigkeit mit dem Teufel – auch natürlich nur “einem” Teufel – Philips erklärt sich so). Sieh, er ist rein. Das ist etwas Herrliches undsehr Seltenes. Du kannst ihm Eugens Brief ruhig wieder zurückgeben; seine Hände sind unbefleckbar, aber seine Finger sind unwissend; so spürt er die Seele nicht, er kann sie nur sehen. Eugens Seele aber ist nicht sichtbar, man muss sie tasten können. Mir ist beinahe als ob das wörtlich und körperlich wahr wäre, obwohl es natürlich nicht sein kann; aber vielleicht verstehst du was ich nur so sagen kann. Ja gewiss, jetzt kann ichs sagen: Eugen stellt nie bei all seiner Produktivität seine Seele als ein Gebild vor sich hin, zu deutsch: er stylisiert nicht. Sie ist immer nur flüchtig und augenblicklich, “geht vorüber ehe ichs gewahr werde und verwandelt sich, ehe ichs merke”. Und Hans versteht nur Seelen, die einmal gebildhaft sichtbar werden, also nur von Menschen, die, mit oder ohne Wissen, stylisieren (es kann ein rein körperliches Stylisieren sein). Und das ist Eugen ein Greuel.

Gritli, mit deinem Griechisch habe ich etwas angerichtet. Schon bei Eugen muss ich immer lange an seinem Latein, das er in unbegrenztem Vertrauen auf meine Gymnasialbildung seitenweise mir schreibt, herumstudieren. Denn ich kann zwar ein lateinisches Buch lesen, aber deshalb trotzdem nur sehr schwer einen einzelnen Satz oder Absatz, wo eben jedes Wort für sich verstanden werden will und nicht alles sich gegenseitig übersetzt und erklärt. Und nun schreibst du auch schon Griechisch. Ich habe καταμα[?] erst am folgenden Morgen verstanden! Den Abend habe ich immer αγρου [?] verwechselt ich glaube mit αργου [?] oder so ähnlich, was “böse” heisst und nun natürlich krina vergeblich mit richten, scheiden, unterscheiden zusammengebracht und noch vergeblicher einen Vers wie “lernet die Unterscheidung des Bösen…” in meinem Gedächtnis gesucht. Als ichs raus hatte, hatte ich erst ketzerische Gedanken und fand Luther schöner als das Griechische. Nachher wurde mir klar, dass “ansehn” damals offenbar noch nicht einfach “anschauen” hiess, sondern noch die Untertöne “jemanden” für etwas ansehn” und er ist “hoch angesehn” mitschwangen. Sodass es doch dem griechischen καταμα?ετε gut entspricht. Aber noch etwas fiel mir ein: Sind denn die Lilien in Palästina Feldblumen wie Klatschmohn und Kornblume? und so etwas muss doch gemeint sein; αγρς ist nur das Ackerfeld, nicht campus überhaupt. Oder hat Luther einfach die Lilie gesetzt für irgend eine exotische Blume? wie ers bei Tieren wohl macht. – Jetzt habe ich dir eine philologische Predigt gehalten, wozu mir zwiefach das Recht fehlt, erstens wegen der Philologie und zweitens wegen der Predigt.

Sollte der Pfarrer die Leute unglücklich machen? dann müsste er noch einen Schritt weiter gehen und sie auch schuldig (vor sich selber) machen. Indem er ihnen sagte: der Krieg hört nicht auf, weil du, du da, noch – zu kriegslustig bist. Und das zu jedem gesagt. Wer hielte das aus? Wo die ganze Kriegsmoral darauf herauskommt, den andern zu beschuldigen, das andre Volk – es hat angefangen – , die Bundesgenossen – sie haben versagt – , den anderen Stand, das Land die Stadt, die Stadt das Land, jeder seinen Nachbar, immer den “andern”. Nie “ich bins”.

Ich lege dir noch ein furchtbares Helveticum bei, das ich längst für Eugen zurückgelegt hatte. – Waldeck ist schön – du wirst sehen.

Dein Franz.

11.9.[18]

Liebes Gritli – freilich nur Chiffre. Aber wie schön, dass es auch Chiffern giebt. Ich liebe die Chiffre mehr als das verwegenste Momentprodukt des Gefühls, weil alles drin steckt und nicht bloss der einzelne Augenblick; alle Augenblicke. Alles Zusammengreifen, darauf kommt es überhaupt an. Deshalb lösche ich auch nicht aus, was ich von andern über jemanden weiss. Alle Bilder, die von einem Menschen auf der Erde herumlaufen gehören zu ihm, und will ich ihn ganz, so ziehe ich alle diese Bilder, auch die Karrikaturen, auch die Pamphlete, selbst die Hassgesänge, in mein Bild von ihm hinein. Warum soll in der Liebe nicht auch ein Lachen, ein Mitleid, selbst ein Grauen mitklingen können. Ich will ja den Menschen ganz lieben, ganz wie er ist, ich liebe ja keinen Engel, ich liebe ja den Menschen, der “ist wie ich”, der alles das Dunkle in seiner Seele hat, auch hat, was ich in meiner habe. Ich liebe eben nicht “das Lautere” (habe ich dir diese Geschichte aus Warschau mal erzählt? keine jüdische Geschichte). Ich möchte wohl, dass meine Liebe lauter wäre, aber das was ich liebe soll nicht lauter sein. Das war das Heidentum der Griechen dass sie glaubten, die Liebe müsse das Lautere zum Gegenstand haben um selber lauter sein zu können; deshalb haben Platon und Aristoteles nur dem Menschen und den Dingen Liebe zu Gott zuschreiben können, aber Gott keine Liebe zu den Menschen und zur Welt sondern nur zu sich selbst. Sie wussten nichts von Gottes “Demut”. Aber wir wissen davon und sollen es genau so machen und wen wir lieben, mit Haut und Haaren lieben, in seiner Stärke und seiner Schwachheit, den Wohlverstandnen (d.h. so wie ers gemeint hat Verstandenen) wie den Missverstandnen (d.h. anders Verstandenen, als er verstanden werden wollte); auch das Missverstandenwerden gehört zum ganzen Menschen, und wie können wir mehr lieben als wenn wir auch das Missverständliche des andern mitlieben.

Inzwischen wird wohl schon Kassler und Säckinger Post in Heidelberg zusammenfliessen und du bist für die lange Wartepause entschädigt. Und jetzt bist du ja schon in Wildungen. Geht doch auch mal zu dem Altarbild in der Kirche; es ist ein alter Westfale aus dem frühen 15.scl., als deutsches “Trecento” noch zart und still, ehe der grosse Rausch und die Krämpfe und Gewaltsamkeiten beginnen, die bis Grünewald führen und bei Dürer gebrochen und auch zerbrochen werden. Das Edertal habe ich dreimal gesehn, erst als Junge, noch als richtiges ahnungsloses Waldtal, nachher das verödete, wo die Sperrmauer schon stand und die Dorfreste in der Talsohle auf das Wassser warteten, und endlich wie der See zu 3/4 vollgelaufen war. Es war so eine Art Chidher = Erlebnis.

Ich habe wirklich angefangen I 1 auf dein Papier abzuschreiben. Es geht mit pensenhafter Regelmässigkeit täglich weiter. Bald werd ich hören, dass du davon weisst. Ich hatte gut Eugen predigen, dass wir nicht mehr für die Freunde schreiben dürfen. Nun verlange ich doch nach der Teilnahme der “Freunde” und denke kaum an die “Schüler”, so sehr schreibe ichs nur für mich. Was soll das werden?

Liebes ganzes Gritli –

dein ganzer Franz.

12.9.[18]

Liebes Gritli, ich darf nach Üsküb, ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben. Morgen Abend gehe ich fort, wenn bis dahin nichts dazwischen kommt. Ich bin von der Abschreiberei ganz verdrallt. Zum Lesen komme ich jetzt überhaupt nur ganz wenig, ausser den Zeitungen noch so etwa eine Stunde am Tag. Ich bin immer noch an den Rohdeschen Briefen; ihr müsst sie aber auch lesen, ich lese sie immer langsamer und respektvoller. Der jüngere zwar ist erst eben flügge geworden, noch jeder Zoll ein Wandervogel; seine Geistigkeit erschöpft sich in den “beiden Abstinenzen”. Dagegen der andre ist Mitte 20 und eigentlich schon ausgewachsen. Er hat etwas sehr hochmütig geistiges und – nur z.B. er liest Bahrs “Himmelfahrt” und sagt über Bahrs Katholisieren: “an seiner Volksreligion kann er natürlich nicht vorbei” (womit er ja Bahr vielleicht weniger Unrecht tut als seiner “Volksreligion”). Aber er ist doch ein Christ, eben einer nach Fichteschem Schema, und in den Grenzen dieses Schemas wird er im Krieg immer lebendiger. Manchmal sah ich mich trotz allen Abstands wie im Spiegel, zwar nicht Gegenwärtiges, aber Vergangenes. Nämlich den Akademikus. Obwohl ihm das Akademische scheinbar (es fehlen leider die Vorkriegsbriefe bis auf wenige) der grade und natürliche Weg gewesen ist, mir immer nur ein verwundertes, und anfangs sogar verzweifeltes, Experiment. Aber weil ich das Experiment, nachdem ichs mal begonnen hatte, nun auch mit Verve durchführte und tat als ob ich zuhause wäre, so gab es ähnliche Erscheinungen wie bei ihm. – Dass er glänzende Beobachtungen über Kameraden und Vorgesetzte macht – an den pikantesten Stellen leider Zensurlücken – versteht sich.

Ich werde gerufen, einen abzulösen. Ist das nicht sehr komisch?

Dein Franz.

Die Rohdebriefe kriegt ihr von Kassel.

  1. und 15.9.[18]

Liebes Gritli, ich bin unterwegs nach Üsküb. Heut ist I 2 fertig geworden. Es geht mit so pensenhafter Regelmässigkeit, dass ich jetzt das Gefühl habe, als stünde der I.Teil schon ganz auf dem Papier und wirklich wird es ja in diesem Monat noch soweit kommen, wenn nichts dazwischen kommt. Nun eine Bitte: in einem Brief, ob nach Säckingen oder Kassel weiss ich nicht und zwar im Anschluss an ein Jubelgebrüll darüber, dass ich liberal sei, schrieb ich dir ein paar Sätze über Liberale und Orthodoxe, auf die ich mich gar nicht mehr besinnen kann; ich habe sie aber als sehr pointiert im Gedächtnis und möchte gern die Einleitung zum II.Teil daraus machen. Bitte schreib sie mir heraus, der Säckinger Zensor wird ja inzwischen durch meine Briefe durch sein und du alles da haben. Es ist ganz dunkel; ich schreibe morgen weiter. Gute Nacht

15.9.[18]

In Üsküb. Ich war grad lang genug wieder draussen in der künstlichen Einsamkeit der Front, um das gewachsene Leben hier recht geniessen zu können. Über dem Gesicht einer Stadt liegt der Krieg doch höchstens wie eine Schminke während die Landschaft draussen wehrlos ist gegen die Furchen die er ihr eingräbt, die Erde wenigstens; die Wolken und das Licht lassen sich auch draussen nichts gefallen. – Ich schreibe wieder über Kassel; ein paar Briefe gingen jetzt postlagernd nach Wildungen.

Eine δοςις ολιγη für Eugen: aus einem Gespräch der Mannschaften neulich:” Die Flamen schreiben, wie sie sprechen”. Man könnte einen langen Aufsatz darüber schreiben, ehe man die 6 Worte ausgeschöpft hätte.

Mir geht noch allerlei zwischen Kopf und Herzen hin und her – es ist aber jetzt keine Zeit, Worte dafür zu suchen.

Hin und her =

Dein Franz.

17.9.[18]

Liebes Gritli, – ich schrieb dir einmal vor kurzem, ich wollte meine Liebe wäre lauter. Wie wenig sie es schon ist, hat mir wieder der gestrige Tag gesagt. Es ist eine harte aber notwendige Prüfung, wenn man das eigene Herz unter diesen unermüdlich und unerbittlich fragenden Begriff der Sünde stellt, der sich nichts abmarkten lässt und der einem die Entschuldigungen und Ausflüchte und Beruhigungen selber zu Sünden werden lässt. Ich habe noch nie so sehr wie gestern gespürt, dass die unendliche Verzweigung der Fragen, die das gemeinsame Beichtbekenntnis an die einzelne Seele richtet, doch wirklich nur Verzweigung ist und an jedem einzelnen Punkt unsrer Menschlichkeit alle diese Fragen, die eine Unglaubliche Seelenkenntnis als einzelne herauspräparieren konnte, sich zusammenfinden. Ich kann den Juni nicht vergessen, wo sich unsre Herzen über dem Abgrund aller Möglichkeit im gemeinsamen Glauben an das Unmögliche trafen. Aber die Unvergessene und Unvergessliche, o du geliebte Seele, ist verschlungen jeden Augenblick solange wir leben in soviel ach wie gern schon im nächsten Augenblick wieder Vergessenes. Da können wir uns nicht gegeseitig helfen, weder du mir noch ich dir; diesen erwünschten Vergessenheitstrank haben wir nicht in unserer Hausapotheke. Und der ihn hat, der giebt ihn nicht als “Vergessen” zu trinken, sondern unter einer andern Etikette. Liebes, wie mir gestern einmal sehr dunkel vor Augen war, da ging mir ein Wort auf, das ich von Kind auf kannte; wir sagen zu Gott: vergib uns um deinetwillen, wenn nicht um unsretwillen. Ich glaube, das ist ein Lichtstrahl, dem kein Dunkel zu dicht ist – er bricht hindurch. Da wurde mir auch das Geschehen dieser letzten Wochen klar und zusammenhängend in den Grund meiner Seele, – ich meine die unbegreiflich vorzeitig reifende Frucht des Systems, denn eine Frucht ist es ja, auch wenn es gewiss nur Vorfrucht ist.

Ich musste dir etwas von all diesem schreiben, auch wenn es nur wenig und nur gestammelt ist. Behalt es für dich. Ich bin deinem Herzen nah und du meinem. Liebe, liebe —– Dein – Dein –

Belgrad 30.9.[18]

Liebes Gritli, die Feder will noch gar nicht wieder, so lange habe ich dir nicht geschrieben; das letzte Mal am 20ten aus der Stellung einen kurzen Brief an dich, und einen langen an Eugen, die sind wohl schwerlich noch durchgekommen. Es war eine ziemliche Hetze, die Nächte immer irgendwie unterwegs; erst in Nisch hatte ich das Gefühl aus der Mausefalle herauszusein. Jetzt hier in Belgrad werde ich wohl ein paar Tage bleiben, obwohl es ein recht mässiges Lazarett ist selbst für meine bescheidenen Ansprüche; aber zum  “holt a bissel ausrasten” – um mit dem Arzt zu reden – genügts. Aber geschoren haben sie mich gestern und das “wüste Gesicht” ist ohne den Ausgleich der “schönen Haare” – ich finde es übrigens gar nicht übel so. – Mir ist übrigens bei der Flucht auch etwas verloren gegangen, wenigstens kommts mir bisher so vor: der Mut zum * der Erlösung. Was ich geschrieben habe gefällt mir nicht, und das Weiterschreiben womit ich vorgestern so sachte wieder anfing, geschieht ohne rechte Zuversicht. Das Gefühl der Unerschöpflichkeit ist ganz verschwunden. Schade. Aber vielleicht kommt es wieder. Jedenfalls schreibe ich zunüchst langsam weiter mit oder ohne Stimmung einerlei, deshalb z.T. mache ich ja diese Lazaretttage, ehe ich wieder zur Truppe gehe. – Politisch ist mir das alles doch auch sehr auf die Nerven gefallen. Wenn ein Generalstäbler an Nemesis glaubte, so müsste es Ludendorf jetzt. Dass der Krieg im Westen entschieden wird, hat sich ja nun so weit bewahrheitet wie es sich bewahrheiten kann:verloren werden kann er allerdings im Westen. Ohne das Prestigespiel der Westoffensive wäre es hier unten nicht soweit gekommen wie es gekommen ist. Ich glaube vorläufig nicht sehr fest an eine Wiederherstellung der Lage hier. Die Stimmung unsrer Mannschaften ist so defaitistisch wie möglich; alles freut sich über jeden Misserfolg; der Staat existiert nur in der dritten Person – “die da”. Aber Revolution giebt es trotzdem nicht; dazu gehörte – Mut.

Der gehört also zum Revolutionmachen und zum Systemschreiben und ich habe keinen Grund “den Deutschen” etwas vorzuwerfen. Übrigens würde ich noch nicht mal Revolution wünschen, wenigstens von mir privat aus, aber das versteht sich ja. Es ist bald 4 Wochen her, dass du bei Ranke die Stelle über den Widerstand aus den Tiefen des europäischen Lebens, der sich gegen jedes einseitige Prinzip erhebt, fandest. Aber Ranke hängt mit solchen Allgemeinheiten meist ganz in den Eindrücken von 1789 – 1815; da war es so. Der Weltkrieg ist aber viel komplizierter, nicht ein “Prinzip” wie damals, sondern viele Prizipien; Deutschland spielt gar nicht die grosse Rolle “Napoleons”, die ihm die Engländer zuschreiben (und unsre klugen Sozialdemokraten à la Leusch, “Weltkrieg = Weltrevolution”, auch). Selbst wenn die Entente jetzt siegen sollte, so wäre damit weder nur Deutschland besiegt noch nur England Sieger. Es giebt in diesem Krieg nicht “weder Sieger noch Besiegte”, sondern jeder ist Sieger u. Besiegter. Denk an Russland! da versagen alle Rankeschen Geschichtsformeln. – Aber übrigens – ich wollt es wär erst Schlafenszeit, Gritli, und alles gut. Ich darf Falstaff zitieren. Hier im Lazarett bin ich sein Kamerad. Grüss Eugen.

Dein Franz.

 

Oktober 1918

1.X.[18]

Liebes Gritli, sieh mal an, es ist gut, wenn man ausgeschlafen hat, das habe ich nämlich seit längerer Zeit diese Nacht zum ersten Mal, und gleich sah sich heute Morgen alles anders an; ich habe eben I 3 zu Ende geschrieben und es gefällt mir gar nicht schlecht. Ein paar Tage werde ich mich ja wohl noch hier “ausrasten” und inzwischen I 2 u. I 3 abschreiben und das kleine Übergangskapitel von I nach II machen. So ganz richtig bin ich zwar noch nicht wieder “drin”, aber auch nicht mehr so trostlos “draussen”.

Frau Gronaus Benehmen ist mir auch sehr ärgerlich; es steckt eine arge Gefühlsroheit darin, eigentlich ja überhaupt in ihrem ganzen Verhalten.

An I 3 könnte ich dir gut zeigen, was überhaupt in diesem ganzen “Elemente” = Teil steht. Denn hier ist der Zusammenhang mit dem Rudibrief ganz eng. Du entsinnst dich sicher der Schilderungen des Menschen vor der Offenbarung, die ja durch den ganzen Rudibrief hindurchgehen, des “stummen”, “tauben”, in sich vergrabenen Klotzes. Diese ganzen Schilderungen bilden jetzt den Inhalt von I 3, und zwar nach Möglichkeit wirklich ohne Übergreifen in die Offenbarung; also z.B. dieser Mensch sagt noch nicht einmal “Ich”, er hat tatsächlich noch keine Sprache.Ich nenne ihn “das Selbst” (im Gegensatz sowohl zur “Persönlichkeit”, d.i. der Mensch in der Welt, als zur “Seele”, d.i. der Mensch dem die Offenbarung geschehen ist). Die Terminologie ist hier glaube ich besonders klar. Die Schilderung des “Selbst” gipfelt in dem Helden der antiken Tragödie, besonders natürlich des Äschyleischen. Dieschweigen berühmtermassen manchmal aktlang, und grade dies Schweigen ist die Höhe ihrer tragischen Existenz. Da hast du also den stummen Klotz des Rudibriefs als eine höchst wohlfriesierte weltlitteraturgeschichtliche Erscheinung. Das Selbst wird dann zur Seele im Augenblick wo es spricht, aber das tut es eben hier noch nicht. Für das Heidentum giebt es nur die Alternative: heldisches Selbst – welteingefügte Individualität, jenes der Mensch im ewigen Singular, dieses der Mensch im ewigen Plural. Die Seele erst ist so “singular” wie der Held und dennoch giebt es von ihr einen Plural: die Seelen im “Reich” Gottes. – so wie ich also hier den heidnischen Menschen isoliere, so in I 2 die heidnische Welt, in I 1 den heidnischen Gott. Und es ist nun jedesmal so, dass die Offenbarung (bzw. die Schöpfung) die Elemente, wie sie in I dargestellt sind, ganz und gar nötig hat. Wie du am “Selbst” ja ganz deutlich siehst; ohne Selbst keine Seele, wie es ja der Rudibrief darstellte. So nun aber auch ohne die hanebüchene Lebendigkeit des richtigen mythischen Heidengotts kein Gott der Liebe und des Lebens; von den blassblütigen Geistgöttern Indiens führt kein Weg dahin. Und ebenso muss die Welt um Kreatur sein zu können, ganz plastisches Gebild sein; das ist schwerer zu verstehn; es ist aber genau so. – Soweit ist also das Buch nun; die “Vergangangeit” ist dargestellt, nun kommt die “Gegenwart” dran, die Welt wie sie wirklich ist, statt der heidnischen Abstrakta “Gott”, “Welt”, “Mensch”. Statt deren kommen nun die lebendigenBeziehungen “Schöpf.”, “Off.”, “Erl.”.

Nun weisst du ungefähr was los ist. Die Form der Darstellung in I war nun so, dass im Geheimen schon der * dahinter stand; nämlich die dreie, Gott Welt Mensch, wurden lebendig, bzw. gestalthaft, bzw. Selbst durch einen inneren Prozess von Selbstschöpfung, Selbstoffenbarung, Selbsterlösung, an dessenSchluss jedesmal erst das fertige heidnische Gottes= Welt= Menschen= wesen stand. Diese Methode wird angewandt, kann aber natürlich nicht enthüllt werden, weil eben von Schöpfung, Off., Erl., hier noch nicht geredet werden kann. Wie ja auch die Sprache hier noch nicht da ist, sondern nur ihre Elemente, (das Bejahen, das Verneinen und das Verbinden). In II entsteht dann die Sprache selbst, die Grammatik. (In III die Rhethorik). Die Sprache in I ist die Sprache vor der Sprache, die “Sprache des Unaussprechlichen” (nämlich: noch Unaussprechlichen): die Kunst (die stumme Verständigung vor aller Sprache). In III nachher die schweigende Verständigung jenseits aller Sprache: die Gemeinschaft der Tat (sichtbar vorgebildet im Kult; das gemeinsame Hören, das gemeinsame Mahl, das gemeinsame Knien).

Aber das war wieder zu sehr in Andeutungen gesprochen, als dass du es verstehen kannst, nimms nur als “Meins”. Das Vorhergehende wirst du verstanden haben. Es ist eben leichter, über das Fertige verständlich zu sprechen als über das was noch bloss Programm ist.

Das Eisenbahnoriginal des Gritlianum ist ganz unleserlich. Du müsstest es also für Rudi schon abschreiben oder warten bis er mal kommt . Es selber nochmal abzuschreiben bringe ich nicht über mich; ich habe so viel abzuschreiben jetzt, dass ich nichts Überflüssiges auf diesem Gebiet tun mag. Von I 2 u. I 3 ist noch nichts abgeschrieben! – Ob er aber so viel davon haben wird, dass sich die Mühe für dich lohnt? Trudchen hat es wohl jetzt in Kassel schon kennen gelernt; ich denke nämlich, der Brief trifft dich in Wildungen oder Kassel. Seit dem 12. weiss ich ja nichts, von Kassel. Es ist ein unruhiges Gefühl.

Von Eugen schrieb auch Hans: er kenne ihn nun, umgekehrt nicht; er sei gar nicht verschwommen, (was Hans eben früher meinte). Aber ich habe ja den Brief da, also: (es ist nur eine Postkarte):” Ich habe jetzt wirklich Rosenstock kennen gelernt, 2 mal; viel besser als brieflich. Er wird nicht ganz so zufrieden sein. Er hat seine frühere Verschwommenheit ganz verloren.” – Er ist jetzt freilich marmorn. Aber ich kannte ihn in früheren geologischen Perioden, als das Feste noch (z.T.) flüssig war. Das kann man nicht vergessen.   Es ist schön dir wieder zu schreiben, liebes liebes Gritli —-

Dein Franz.

2.10.[18]

Liebes Gritli, es ist eine Desolation und ein Zusammenbruch ohnegleichen; die Haare sträuben sich einem bei diesen Gesprächen um einen herum. Wie merkwürdig dass es der französ. Regierung möglich gewesen ist, die Stimmung bis heut immer noch über dem

0 punkt zu halten. Dabei ganz unpolitisch: der Parlamentarisierungsschritt, der heute morgen bekannt wurde, wird überhaupt nicht bemerkt! Es geht immer per “er”, “die da”, – ganz unbeteiligt. Die Ententelegende Über den Krieg wird glatt geglaubt. Dabei sind ja überall das “Volk” und die “Regierenden” gleichschuld. Die falsche, nämlich herzlose hochmütige und bornierte Behandlung der Bulgaren ist einfach “echt deutsch” gewesen; Offiziere und Mannschaften haben sich instinktiv ganz gleich benommen.

Ich schreibe an dem kleinen Übergangskapitel; unwillkürlich stehen mir dabei Eugens Einwendungen vor Augen; erst hier können sie erledigt werden, frühestens. – Überhaupt mache ich mir doch alle Einwendungen zu nutze, auch wenn ich sie erst ablehne; so die terminologischen zu “Seele” und “Leib”. – Einen Schub Rudischer Predigten bekam ich grade noch mit der letzten Post; es waren 4, die er seinerzeit, im Februar, nach Kassel geschickt hatte; ich habe erst eine wieder gelesen; es ist ja ganz unmöglich, sie mit “ernstem Fleiss” zu lesen; man muss sich auftun und warten. Ich lese allerdings nie mit ernstem Fleiss, sondern entweder mit frechem Leichtsinn oder mit stumpfsinnigem Fleiss – in beiden Fällen also mit Vertrauen und mit abgelegten Waffen. Ich kann ja die Waffen später wieder aufnehmen, wenn ich gelesen habe; während des Lesens können sie mich nur hindern. – Es ist mir gar nicht so, als ob der Brieffaden zwischen uns wieder zerrissen wäre, wie ers doch ist. Ich weiss nicht, aber mir ist, als schriebe ich dir in der gleichen Stadt nur von einer Strasse in die andre, und heut Abend käme ich herüber zu euch nach Tisch.

Euer Franz und Dein Franz.

3.10.[18]

Liebes Gritli, was sagst du eigentlich zu diesem kuriosen linierten Papier? ich hatte einen ganzen Block gemischten Papiers in Gradsko gekauft, kurz ehe die Franzosen dahin kamen (nämlich auf meiner Üsküber Reise) und ihn dann im Tornister mitgeführt. Auch der * d. Erl. wird von I 3 ab auf dies Papier wenigsten ins Unreine geschrieben. – Von den deutschen Ereignissen kriege ich hier nur den Wiederhall der brillant geschriebenen öst.= ung. Zeitungen, der Wiener fr. Presse, des Pester Loyd, und eines kleinen Gassenblättchens des Pester “Polit. Volksblatts”. Das ist weniger als ich möchte.

Eugen brennt sicher lichterloh a)überhaupt und b)als “Privatdozent des Staatsrechts”. Ich selber bringe nicht den “nötigen Ernst” dafür auf (mit meinen alten Schullehrern zu reden); ich muss nur lachen, wenn ich sehe wie krampfhaft sich die Monarchen an ihre wackelnden Trone klammern. Warum soll ich ehrfürchtige Schauer vor dem Sanctuarium der Monarchie verspüren, wenn die Monarchen selbst so gar nichts davon verspüren (und um so mehr gut bourgeoise Angst, ganz als ob die Krone nichts wäre als ein geldwerter Titel, den man in der Kassette eines feuersicheren Geldschranks aufbewahrt.

Ich finde diesen Ruck nach links, dieses beflissene Abladen der Verantwortung im Augenblick wo es schief geht nur blamabel. Er hätte Ludendorf zum Kanzler machen sollen, jetzt, jetzt grade. Dass wir pazifizistische Ministerien schaffen während in Engl. u. Frkr. noch die Clemenceau u. Loyd George oben sitzen, ist nur lächerlich und blamabel. Ausgenommen, wenn es den Erfolg hätte, England u. Frkr. zu revolutionieren – aber sollten wir im Ernst eine so boschewistische Logik haben? die Bolschewiki selbst hatten kein Glück mit dieser Berechnung. – Ganz sachlich freue ich mich ja selbstverständlich doch über die Verlinksung, aber aber – Bethmann wahrte bei solchen Schritten immer noch das Gesicht der Hohenzollern; diesmal geschieht es ganz würdelos und aller Demokratismus kann mir das Bedauern über diesen Fall einer nobeln Tradition nicht aufwiegen. Schon seine Coriolanreise nach Essen, wo er beim stinkenden Pöbel herumging und so tat als ob, war mir peinlich bis zum selber rot werden. Es giebt keine Könige mehr. Deutschland ist reif zur Republik und wenn erst Deutsschland, welches Land dann nicht. Die Monarchie ist ja keine Staatsform – aller Unsinn der über sie produziert wird, kommt aus diesem Grundirrtum – , die Monarchie ist eine Menschenform. Und wenn die königliche Menschenrasse ausstirbt, dann lässt sich die Staatsform höchstens noch galvanisieren.

Gestern ist mir, indem ich an Rudi darüber schrieb, der eigentliche Sinn von I aufgegangen. Die Metaphysik ist die geheime (“theosophische”) Vorgeschichte Gottes vor der Schöpfung (die Schöpfung ist ja die Geburt Gottes). Die Metaethik die geheime (“anthroposophische”) Vorgeschichte des Menschen vor der Offenbarung (die Offen-barung ist die Geburt des Menschen). Die Metalogik die geheime (“kosmosophische”) Vorgeschichte der Welt vor der Erlösung (Die Erlösung die Geburt der Welt). – Es wird das Bild immer so weit geführt, bis nur ein kleiner Ruck, ein letzter Szenenwechsel, eine Umkehr der Vorzeichen, nötig ist, dass die Liebe, das Kind, das Geschöpf sichtbar werden. Dass die Welt als Geschöpf sichtbar wird, geschieht noch nicht in der Schöpfung, sondern erst in der Erlösung; erst der erlösten Welt sieht man es an, dass sie Geschöpf ist.

Das ist auch noch kaum zu verstehn. Quäl dich nicht. (Meinst du, ich verstünde so etwas richtig, im Augenblick wo ich es schreibe? Vorhervielleicht, und nachher einmal wieder, aber viel später). Mir ist vorerst die Hauptsache, dass ich die verschiedenen Niveaus der drei Meta…iken deutlich sehe.

Ich schreibe an dem Übergangskapitel. “Hätt’ ich ein Vierteljahr nur Ruh’…” – vorläufig benutze ich eben die Tage und hoffe, dass sie sich zum Vierteljahr summieren werden. Der erste Teil hat 6 Wochen gebraucht; davon war 1 Woche Unterbrechung dank den Bulgaren. Die Wendung mit der “Loyalität gegen die Bundesgenossen” in der bulg. Tronrede ist ein ekelhafter Zynismus.

Genug, genug – ich bin durch mein vieles Schreiben schon in den Verdacht gekommen “Vorträge auszuarbeiten”. Vorträge! wenn es das je würde! —-

Dein Franz.

3.X.18

Liebes Gritli, es ist noch gar kein Wort von dir gekommen. Was ist wohl? ich habe unbestimmte und bestimmte Angstgefühle; ich wollte sehr, es käme ein Brief von dir, der alles fortbliese.

Heut war ich den ganzen Tag auf meinem Zimmer. Schön ist das eigentlich nicht; es arbeitet sich schlechter als im Felde; vielleicht ists auch nur das Ungewohnte. Schön ist nur das Bett und dann dass man einen Nachttisch mit Licht neben sich hat und nachts ruhig aufschreiben kann was einem einfällt wenn man mal wach wird, und dann wieder einschlafen.

Geschrieben habe ich in diesen freien Tagen weniger als ich dachte, es waren allerdings auch nur der Freitag und der Sonntag, die wirklich frei waren. Immerhin bin ich doch nun wieder im Fluss und wenn ich jeden Tag nur etwa 2 Stunden rausschinde, so wird es auch weiter gehn. Denk, heut habe ich die Gleichung oder vielmehr Ungleichung Trotz = Treue ganz auf eignem Weg auch gefunden. Sie kam als Abschluss eines langen Gedankengewindes plötzlich heraus. Dieses Buch II wird gar nicht schwer zu lesen. Ob es dennoch noch jemand versteht ausser dir? Auf Buch III bin ich immer neugieriger; der Vorhang der noch davorhängt will sich nicht heben.

Gute Nacht, liebes Gritli.

Dein Franz.

4.10.[18]

Liebes Gritli, heut vor einem Jahr hast du mir geschrieben, ich weiss es zufällig noch genau weil du auf meinen katholischen Namensheiligen anspieltest. Ich bin gestern Abend noch mit dem Übergangskapitel fertig geworden; es wurde noch ziemlich doll, und die Nacht konnte ich dann nach Mitternacht nicht mehr schlafen, so waren alle Geister losgelassen, ich hätte heraus auf einen “gewissen Ort” gemusst, wagte es aber nicht, über den Korridor zu gehn, in der haltlosen Aufregung in der ich war; das sind so Augenblicke wo man Doppelgänger sieht und dergleichen, weil man in seinem Körper nicht mehr recht fest angeleimt ist. Es kam alles daher, dass ich zwischen zwei Teilen war und dass infolgedessen der Stern, der während der Einzelarbeit an den einzelnen Büchern, wie du ja weisst, mir verblasst war, plötzlich wieder so stark aufstrahlte wie in den ersten Tagen als es anfing. Ich sah ihn wieder mit Augen und alles Einzelne in ihm. Wie ichs nachher am Morgen aufzuschreiben versuchte, war es ganz dürftig und kaum mehr als was ich schon am Abend wenigstens fragmentarisch notiert hatte. Das kenne ich nun aber schon; diese Dürftigkeit des lendemain ist nur Schein; der Reichtum des unmittelbaren Schauens ist Wahrheit und bewahrheitet sich später bei der Ausführung. So war auch das was ich, jetzt auch bald genau vor einem Jahr am Tage nach der Nacht in der jetzt französischgewordenen Ebene aufzuschreiben suchte, – woraus später der Rudibrief und alles wurde – ganz dürftig, sodass ich nicht wusste, wo der scheinbare Reichtum der nächtlichen Gesichte hingekommen war. Also ich sah den Stern und merkwürdigerweise drehte er sich um sich selbst und darin war alles was ich noch zu schreiben habe, zu sehn. Heut früh habe ich dann die Einleitung zum zweiten Teil angefangen, ein kaltes Sturzbad nach der Nacht und schon nach dem “Übergangs” = Kapitel. Der Titel der 2.Einl. ist etwas verändert: statt “Gott”, heisst es “das Wunder”. Jetzt geht es also ein paar Tage wieder im wissenschaftlichen Feuilletonstyl. Ich will dir der Komik halber die letzten Worte des I. und die ersten des II.Teils (also den Schluss des “Übergang” und den Anfang der “Einleitung”) herschreiben: “Dieses Offenbarwerden des immerwährenden Geheimnisses der Schöpfung ist das allzeiterneuerte Wunder der Offenbarung. Wir stehen an dem Übergang, – dem Übergang des Geheimnisses in das Wunder”.

“Wenn wirklich das Wunder des Glaubens liebstes Kind ist, so hat dieser seine Vaterpflichten, mindestens seit einiger Zeit, arg vernachlässigt”. U.s.w. in diesem frivolen Ton.

Aber nun genug von der Eingabe ans himmlische Parlament. Diese Nacht “zwischen den Teilen” wieder im unmittelbaren Anblick des Ganzen hatte ich nötig gehabt.

Vielleicht rutsche ich auf der schiefen Ebene, auf die ich nun einmal geraten bin, für ein paar Tage bis Deutschland? Was sagst du dazu? Ach Gritli – und überhaupt. Ich habe dir auch in dieser langen Nacht gegen Morgen einen langen Brief gesprochen – ich weiss nicht mehr, was darin stand. Ich weiss nur eins, und weiss es in alles andre Wissen hinein: Ich bin Dein.

5.10.18

Liebes Gritli, bis 14 Tage soll Post nach Deutschland gehen, hörte ich gestern! da bin ich vielleicht selbst vorher da, wenn auch nur auf kurze Zeit, denn ich habe doch sicher keine Malaria; es müsste eine sehr leichte tropica gewesen sein; sonst ist die Pause zu lang. Der Frieden kommt nun, und ich merke plötzlich, dass ich mehr für Deutschland übrig habe als ich wusste; denn dieser masslose englische Sieg fällt mir aufs Herz; es bleibt ein trauriger kleinbürgerlicher kontinentaler Mittelstaat übrig, und das nach den Hoffnungen dieser Jahre. Die Parlamentarisierung wie sie jetzt geschieht ist ja nur Blamage. Vielleicht würde ichs anders ansehn, wenn ich nicht schon wieder aus sicherem Hintergrund spräche, als ein Etappenschwein. Die Nurfrieden = Stimmung versteht man doch nur an der Front und in der hungernden Heimat, nicht in der kugelsicheren und wohlgenährten Zwischenzone, genannt Steppe.

I 2 ist gestern fertig abgeschrieben. Ich traue meinem Urteil nach dem Abschreiben nie; es ist immer schlecht, a la baisse.

Ob ichs machen kann, wenn ich nach Deutschland komme, euch zu sehn? vielleicht am ehesten zwischen Lazarett und Rückreise zur Front, Mutter müsste mir dann Zivilsachen mit nach dort bringen, wo ich ins Lazarett käme. Freilich dürfte dann die Reise nicht als Transport gehen.

Es wäre so schön — Dein Franz.

5.X.18

Mein lieber Eugen, ich wusste auch, dass die Einleitung ungleich im Styl geraten ist, besonders das “Verlängerungsstück” über die  Sprache, was ja eigentlich nicht unbedingt dazugehört und was ich bloss dazugesetzt habe, um es seiner Wichtigkeit entsprechend vorwegzusagen und nicht etwa erst im ersten Buch des Teils selber. Gewundert hat mich, dass du offenbar nicht von dem frappiert warst, was mir das eigentlich Frappante war: der neue Wunderbegriff (Wunder = Zeichen), wozu ja die ganze Geschichtsdarstellung nur die Para = und Periphrase gab. Aber es versteht sich, dass man andres hineinschreit in den Wald als heraustönt. – “Wie und wo” ich erkläre, ob ich als J. oder Chr. schreibe? Aber ich bin ganz sicher dass ich das nirgends erklären werde; und zwar weil ich (mit Ausnahme der Einleitungen u. einzelner Partien der Bücher) gar nicht auf der Platform des natürlichen Geistes schreibe, sondern auf der Platform meines Lebenslaufs, der bekanntlich (beim AOK 11 und bei der F.A Schiessschule Rembertow) beginnt: “Ich Franz Rosenzweig jüdischen Glaubens bin geboren als Sohn” u.s.w. “am”..”zu”.. (Chronologie und Geographie der Diaspora). Dass ich als Jude schreibe ist die ganz undiskutierte Voraussetzung, genau so undiskutiert wie dass ich als IchFranzRosenzweig schreibe. Und daher kommts auch, dass ich in diesem Buch ganz ruhig in Chiffern schreibe, viel mehr als irgend ein Leser merken kann. Ich schreibe ja wirklich nur vor mir selbst. Selbst die Beziehung zur protestant. Universität, die ich festzuhalten suche, halte ich nur deshalb fest, weil ich mein wissenschaftl. Gewissen in diesem Laden gekauft habe und es also (“unbegrenzte Garantie für dauernd richtigen Gang”) zwecks Reparatur immer wieder dorthin bringen muss. (Übrigens es ist wirkich wahr, dass es in dem Sinne wie es eine katholische Kirche giebt, wirklich giebt, – was ja immerhin auch nur ein sehr fragwürdiges Geben ist -, es auf der andern Seite nur eine protestantischeUniversität giebt.) Die Chiffern also bleiben stehn. Auch die Chiffer H.C. Denn ist das denn Hermann Cohen, den das Publikum kennt? Ist das nicht mein ganz privater und geliebter H.C.? In dem Buch II 2 kommt an ganz zentraler Stelle ein Citat aus dem Munde eines Jungen, der noch nicht zur Schule geht; soll ich da etwa Herrn G.P. mit Anerkennung zitieren (verlegt im Haus zur Flamme, Hinterzarten 1918. 12′. Ungebunden.)? Bin ich Below?

Und deshalb leugne ich auch, dass deine Kolonie ein Haus ist. Das Himmerlreich ist keine Institution. Und du suchst noch nach einer Institution (Institution eben zu deutsch nicht als “Haus”). Das Haus ist zerstört. Menschenhände bauen es nicht neu. Dass deine Kolonie kein Haus ist, sondern nur das aus Scham von dir nicht zu erkennen und benennen gewagte Himmelreich, das geht auch daraus hervor, dass jeder deiner Kolonisten ein oder den andern hineinbringen würde, den die andern herausweisen würden und umgekehrt. Wäre es ein Haus, dann hätte es ein verschliessbares Tor. Aber am Himmelstor mag zwar ein Pförtner stehn, aber ein Schloss hat es sowenig wie die Haustüren der taciteischen Deutschen.

Über Marcks stimmen wir ja genau überein. Aber gegen das Leiden dieserDeutschen, wie ich es jetzt an Kähler sehe, ist dein Leiden (und nun gar meins, das ja doch beinahe schon mehr Mit = leiden ist) ein Kinderspiel. Sie sitzen wirklich im Dunkel und jammern auf den Trümmern ihres Jerusalem, ohne dass eine Stimme ihnen “Tröstet tröstet mein Volk” predigte. Kählers Gesicht verzerrt sich mitten in einem abwegigen Gespräch, wenn er es im Augenblick vergessen hat und es ihm nun wieder einfällt. Mein eigener Kummer erscheint mir jetzt, wo ich Kähler sehe, wirklich ganz unerlaubt, ich habe gar kein Recht dazu. Und dass sich dir grade in diesem Augenblick “München” aufschliesst, ist gradezu providentiell. Ich habe dir keine “Ratschläge” gegeben (welche denn?); ich habe nur gleich gespürt, dass das dein “Zeit ists” war. Ist es denn mir nicht ganz natürlich, dass ich keinen dieser drei Aufsätze (auch schon Volksst. u. Gottesr. nicht) so begrüsst habe wie all dein früheres? Du bist mit ihnen eben aus dem Kreis der Freundschaft heraus = und in die Kirche hineingetreten; da darf ich dir gar nicht folgen können (so wenig wie du Zeit ists lesen oder wenn lesen jedenfalls nicht goutieren konntest). Bei Gritli, auch bei Rudi, konnte es noch zweifelhaft sein wie die Aufnahme zu verstehen war (ob aus dem Du oder aus dem Wir), jetzt wo Karl Muth hinzutritt ist es klar: es war das Wir. Und deshalb gratuliere ich dir zu dem Brief, den ich gestern vor lauter Freude – verzeih die Indiskretion – sogar Mündels mitgeteilt habe (die Frau hatte Siegfrieds Tod auch gelesen). Aber ausserdem: was sind das für Leute, dieser Muth und das Publikum auf das er doch offenbar rechnet. Ich wünsche sehr, dass daraus auch äusserlich irgend was wird, und wenn nur ein regelmässiges Rezensieren für die Zeitschrift. Die Zeit, wo du fortwährend neue eigne Zeitschriften für uns gründen wolltest, muss vorbei sein; es ist ja das, was ich dir im Sommer von Leipzig aus schrieb; man hat doch immer ein Vorgefühl dessen was kommen muss.

Ich weiss jetzt auch, warum ich Amerika nicht vorausgesehen und vorausgeglaubt habe, und du und Hans wohl. Um Katastrophen vorzufühlen, muss man aktiv mitleben. Wer passiv mitlebt wie ich, kann nur wissen, was ist und etwa noch was wird, aber nicht was sich ereignen wird.

Das Licht will ausgehen und ich bin nun zwei Tage nicht zum * und, obwohl ich seit gestern früh lauter Briefe von ihr kriege, auch nicht zum Brief an Gritli gekommen. Grüss sie und sag ihr – oder sags auch nicht —-

Dein Franz.

6.10.18

Liebes Gritli, es ist noch nicht ganz sicher, ob wir, speziell ob ich, weiter komme. Vielleicht werde ich auch schon hier entlassen. Die Friedensaussichten drücken weiter auf mir, ganz anders wie letzten [gestr. Sept] Dezember, wo schon das schwache Frühlingslüftchen mich so warm anblies. Wie anders war damals Deutschlands Lage und Aussicht. In einem Sommer ist das alles verspielt! Ich dürfte ja eigentlich nach meiner eignen Theorie mich gar nicht persönlich darüber aufregen, aber es geht mir nun doch so, unprogrammgemäss. Ich fange morgens so früh wie möglich, wenn es eben dämmert, zu schreiben an, weil ich nachher, wenn Zeitungen da sind, mich nicht mehr recht konzentrieren kann. (Dazu habe ich allerdings auch einen kleinen Schnupfen; erst heute wird geheizt und es regnet hier und ist gar nicht südliches sondern ganz mitteleuropäisches Klima. “Mitteleuropa” – das ist nun alles vorbei. Die Entente verwirklicht ihr Programm Punkt für Punkt, einschliesslich der “Demokratisierung”! Und dazu noch das schrankenlose Vergnügen der Leute die mit mir liegen, wenn sie die Zeitung lesen (lauter Deutsche!). Von der Demokratisierung verstehen sie nur, dass jetzt die “Leute, die Grossen, die sich bisher am grünen Tisch vollgefressen und =gesoffen haben, nun herunter müssen, und auch einmal merken wie es tut”. (wörtlich!) Dabei geben sie ganz zynisch zu, sie würden es “auch” getan haben, wenn sie “oben” gesessen hätten. “Auch”! – Ich halte zwar nicht den Mund, aber im Grunde fresse ichs doch in mich hinein. [gestr. Dein Franz] Ich verlange sehr nach Aussprache oder nach meinen Postsachen – einerlei; so ist es mir beinahe gleich, ob ich nach Deutschland komme oder zur Truppe. Aber nun wirklich und undurchgestrichen

Dein Franz.

7.10.18

Liebes Gritli, es ist später wie sonst geworden, ich habe den ganzen Tag an der Einleitung geschrieben; sie ist jetzt in der Partie, wo ich selber neugierig bin, was herauskommt. Sie wird wohl besser als die erste, leidet aber natürlich auch an dem gleichen Fehler, dass sie vorwegnehmen muss, was erst nachher im Teil selbst ausgeführt wird.

Heut abend sah ich mich auch zum ersten Mal in Ruhe im Spiegel an seit die “schönen Haare” gefallen sind. Sie sind noch nicht wieder gewachsen und ich habe mir meine Kopfform genau betrachtet und war sehr zufrieden; es ist eine ganz ruhig und schön gewölbte freilich etwas turmhaft in die Höhe gehende Kuppel, gar nicht unruhig und drohend wie die Stirn, sondern klassisch und still – wohl das einzige an meinem Kopf, wovon man das sagen könnte (und ich bin bald 32 Jahre alt geworden, ohne es zu wissen!) (γηρασκω δ’ αει, πολλα διδασκομενος) (das müsstest du übersetzen können, es ist von Solon, ein Pentameter). – Der Prinz von Baden redet schön, aber was hilfts – die Leute mit dem “Zug um den Mund” sind nun obenan, und im Grunde hatte auch Maxens Rede ihn (Bethmanns, auch wenn er pazifizistelte, nie). Ich muss jetzt immer an die Komödie von Gespräch denken, die ich am letzten Leipziger Tag mit Hermann Michel hatte. Ich sagte ihm damals, er sei einer der brutalsten Machtpolitiker, die mir bisher vorgekommen wären, nur freilich im Sinne der englischen Politik. Denn das war das Kuriose, dass er England unbewusst das Recht auf all seine Eroberungen gab, und sich für es einfach auf den Boden der “Kriegskarte” stellte. So giftig und hinterhältig war übrigens das ganze Gespräch. Über mein Schellingianum hat er mich in direkt unangenehmer Manier ausgeholt, richtig ausgeholt wie ein Untersuchungsrichter, ich merkte erst allmählich, worauf er herauswollte (und er hat sich wohl eingeredet, ich merkte es überhaupt nicht). Kurz, auch darin mit Zug um den Mund.

Hast du gemerkt? Wilhelm rechnet uns überhaupt nicht mehr zu seinen Soldaten. “Mitten in das schwerste Ringen fällt der Zusammenbruch der makedonischen Front. Eure Front {eure!!!} ist ungebrochen”.

Diese veille de la paix sieht anders aus als die voriges Jahr. Ich barme nach einem Wort von Eugen, einem politischen ausnahmsweise. In meiner Menschenleere habe ich heut sogar mit einem braven Mann namens Keppich politisiert. Das Netteste hier im Lazarett sind die Religionsgespräche (kathol. = evangel.), ich bleibe stummer Zuhörer und stelle nur manchmal eine Zwischenfrage oder bestärke die schwache Partei, die gegen den Führer des Corpus Catholicorum behauptet, dass “hurra” nicht aus dem Lateinischen kommt und nicht “tötet ihn” heisst.

Es ist schon der 8. Gestern war ein netter Abend. Ich bin erkältet an allen Körperteilen die sich erkälten können. Trotzdem wird weitergeschrieben. Der Gedanke, der dir einleuchtete, dass die Offenbarung eine neue Schöpfung sei, leuchtet mir auch immer mehr ein und auf und wird ein Träger des Ganzen, insbesondere des 2. Teils.

Übrigens damit du nicht aus Sympathie mitfrierst bzw. mir nachfrierst – ich habe gestern Abend eine grosse Anleihe an warmer Unterwäsche, einschliesslich sogar Pulswärmern, aufgenommen. Also du brauchst nicht zu frösteln. Aber sei sonst bei mir.

Doch das bist du ja —

und ich bin Dein.

Oktober 2 1918

8.10.18

Liebes Gritli, mein kurioser gemischter Block überrascht mich durch dieses ganz vereinzelte Blatt von beinahe deiner Farbe. Also ich wills seiner Bestimmung zuführen. Die zweite Einleitung wird sehr schön; sie hat ein Grundaperçu von siegreicher Einfachheit, eben dies mit der Offenbarung als der Zweiten Schöpfung, aber so: das Wunder ist nicht Änderung des Naturlaufs, ein solches Eingreifen ist Zauber, nicht Wunder (in unserem gemeinsamen Sinn). Bei uns ist das Wunder “Zeichen” d.h. es ist die bestätigende Erfüllung einer Voraussage. Das Wunder wird für den Glauben erst Wunder durch die vorangehende Erwartung; der Profet gehört zum Wunder. (Denk an euer Verhältnis vom N.T. zum A.T., oder bei uns an das von Offenbarung und Vätergeschichte – das “gelobte” Land! -) Als “Zeichen” ist das Wunder nicht wie die heidnische Magie ein Eingreifen in den Willen der Götter, sondern im Gegenteil der sichtbare Beweis des Daseins der göttlichen Vorsehung (also des zentralen Inhalts der Offenbarung gegenüber allem Heidentum; ohne Gottes Willen fällt kein Haar vom Haupte). (Die Möglichkeit der Weissagung ist der Beweis für die Wirksamkeit der Vorsehung Gottes). Daher die Wundersüchtigkeit, die Freude am Wunder, die bis ins 18.scl. die Theologie erfüllte. Bis dahin war wirklich das Wunder des Glaubens liebstes Kind. Und nun: Die Offenbarung ist ja das Wunder par excellence. Wodurch wird dies Wunder echtes Wunder für den Glauben, “Zeichen”? Weil es in der Schöpfung ganz und gar vorausgesagt ist!!! Der Mund dieser Weissagung hat die Philosophie zu sein. Tableau! Das ist doch schön? Die Schöpfung gewissermassen das A.T. der Offenbarung. Die Philosophie nicht ancilla Theologiae, sondern der Johannes, durch dessen Taufe Jesus erst der Christus wird. Die Offenbarung also nicht bloss Erneuerung der Schöpfung, sondern siewird erst das Wunder, das sie ist, dadurch dass sie in der Schöpfung angelegt ist. Die Sprache ist allen Menschen anerschaffen von Anfang, und – nicht doch, sondern dadurch grade ist sie das Organon der Offenbarung; würde sie erst in der historischen Offenbarung hervorbrechen, so wäre es nicht die Offenbarung, die wir glauben, sondern ein heidnischer Spuk. – Das ist doch herrlich klar und doch nicht auszudenken, nichtwahr? Frag einmal Eugen (und dich selbst auch), ob ihm folgende Überschriften besser gefallen:

Gott und seine Natur

Eine Metaphysik

———————————————-

Die Welt und ihr Geist

Eine Metalogik

———————————————-

Der Mensch und sein Selbst

Eine Metaethik

Ach liebes Gritli, und wie gefällt dir diese Unterschrift:

Dein Franz.

9.10.18

Liebes Gritli, gestern Abend habe ich meinem stark verschnupften Gehirn noch den Schluss der Einleitung abgezwungen und heute mit II 1 (oder soll man die “Bücher” besser durchgehend numerieren, erstes bis neuntes?) angefangen. Ich kam auf einen Schluss der mich erstaunte und rührte. Du weisst ja, dass ich das Gefühl hatte, schon länger, mindestens seit dem Rudibrief, mich mehr und mehr an Cohen heranzuschreiben, immer liberaler, oder, meinetwegen immer “rationalistischer” zu werden. Im Winter 13 auf 14, als ich ihn zuerst hörte, empfand ich seinen Rationalismus als das eigentlich Trennende. Denn ich selber trotz meiner Vereugenisierung trug doch immer noch allerlei Eierschalen von früher mit mir herum, und so eben das Misstrauen auf die “Vernunft”. Wie eine Stadt und selbst die Zitadelle längst genommen sein kann und doch einzelne Aussenforts noch tagelang feuern bis sie, von der Stadt selbst aus, niedergekämpft sind. Als das Kennwort von Cohen mich von ihm trennenden Rationalismus erschien mir damals ein Talmudsatz, an dem er den Begriff der Offenbarung entwickelte (auch im Buch und in dem Artikel der Monatshefte spielt er eine Rolle): “Gottes Licht – des Menschen Seele”. Und nun hör den Schluss der Einleitung, wie er gestern ganz ungeahnt und ungewollt sich formte: (Ich hole etwas weit aus, weil es dir auch das was ich gestern schrieb, noch etwas verdeutlichen kann): … Und so ist nichts an dem Offenbarungswunder neu, nichts ein zauberhafter Eingriff in die erschaffene Schöpfung, sondern ganz ist es Zeichen, ganz Sichtbarmachung und Lautwerdung der ursprünglich in der stummen Nacht der Schöpfung verborgenen Vorsehung, ganz – Offenbarung. Die Offenbarung ist also allzeit neu, nur weil sie uralt ist. Sie erneuert die uralte Schöpfung zur immer neugeschaffenen Gegenwart, weil schon jene uralte Schöpfung selber nichts ist als die versiegelte Weissagung, dass Gott Tag um Tag das Werk des Anfangs erneuert. Das Wort des Menschen ist Sinnbild: jeden Augenblick wird es im Munde des Sprechers neugeschaffen, doch nur weil es von Anbeginn an ist und jeden Sprecher, der einst das Wunder der Erneuerung an ihm wirkt, schon in seinem Schosse trägt. Aber dies ist mehr als Sinnbild: das Wort Gottes ist die Offenbarung, nur weil es zugleich die Schöpfung ist. Gott sprach: Es werde Licht – und das Licht Gottes, was ist es? des Menschen Seele.

Kannst du dir denken, wie mir war, als plötzlich die letzten Worte dastanden und mich anguckten?

Über dem Schreiben kommt das Abschreiben zu kurz (ich bin erst bei I 2 ), was insofern schade ist, als ich hier bequemere Gelegenheit dazu habe, nämlich einen Tisch, als anderswo. – Es sollen heut schon Antwortbriefe aus Deutschland hier sein, da wäre die Post doch rascher gegangen als ich fürchtete und Mutter hätte vielleicht meinen Brief noch vor dem Telegramm gehabt. Ich vermisse hier kaum Briefe – ich freue mich nur darauf, wenn sie wieder kommen. Von dir ist mir, als bekäme ich Briefe, ich empfinde mein Schreiben diesmal gar nicht als einseitig. Besuchst du mich denn auch in diesem Lazarett? im blauen Tuch? Gritli –

Dein Franz.

10.10.18

Liebes Gritli,

in Rembertow bei dem Kurs nach mir hat beim Scharfschiessen ein Lehrer, ein Hauptmann, auf Einwohner, die sich, was natürlich verboten ist, auf dem abgesperrten Gelände herumtrieben, offenbar um kupferne Führungsringe zu sammeln, schiessen lassen und als der Schüler nicht gleich traf, selber die nächsten Kommandos gegeben und mit 2 Gruppen 3 Tote erzielt. Deutschland verdient, was ihm jetzt geschieht; das ist das Furchtbarste.

Ich schreibe dir heute erst ganz spät. Ich bin ja jetzt an

II 1 und das geht, weil II 1 gewissermassen die Verantwortung für II 2 u. II 3 trägt, die nachher dann fast von selbst die gleiche Form annehmen, langsam. Mein alter Freund, der Islam, den ich bisher immer mit Verwunderung bei dem Sternpersonal vermisste, hat sich nun endlich auch gemeldet, und wird als Probe aufs Exempel durch den ganzen IIten Teil gehn. Er macht nämlich alles verkehrt, weil er die heidnischen Begriffe von Gott Welt und Mensch ohne innere Umkehr in die übernommenen Begriffe der Offenbarung hineinführt, also der mythische Gott bei ihm so wie er ist zum Schöpfer wird u.s.w. – es ist zu umständlich, es auseinanderzusetzen. Aber sonderbar ist es doch, wie alles ganz von selber kommt; nachträglich sehe ich natürlich, dass der Islam nur hier kommen kann. Es kommt alles ganz ungesucht. Fast alles wenigstens.

Hie und da habe ich natürlich die Frechheit eine kleine Schlucht auch mal einfach zu überspringen, um weiterzukommen. Denn alles in mir drängt nach dem Augenblick, wo das Ganze fertig ist, und wo ich das Ganze mit einem kühlen “mittelmässig” abtue, was ich jetzt einfach noch nicht kann; es gefällt mir und ich bin masslos gespannt auf alles Mögliche darin. Ausserdem ist es so merkwürdig, wie persönlich alles wird, es sind überall meine ganz privaten Angelegenheiten – und doch ein System. Wenn es fertig ist, sollen es Eugen und Rudi doch zu lesen bekommen; vorher hat es keinen Zweck, weil es nach epischer Methode geschrieben ist, mit ständigen Verweisungen auf Kommendes, und das macht nervös, wenn man nicht das Ganze in Händen hat (leicht zu lesen wird es allerdings nicht;

das merke ich, wenn ich es für die Abschrift durchlese; etwa 14 Tage wird man dran zu tun haben). In der Abschrift ist jetzt auch der “Übergang” fertig, und von I 3 die Hälfte, also bald der ganze erste Teil.

Charakteristisch für die Sache ist, dass ich ohne jede Konkurrenzgefühle mit “andern Philosophen” schreibe. Ich habe eben so gar nicht das Gefühl, das Weltgeheimnis beim Schopfe zu haben, sondern nur: mein System zu schreiben.

Eigentlich ist das mit bald 32 Jahren ja etwas ganz Normales; aber es kommt mir nicht so vor, weil ich gewöhnt bin (durch den Krieg und auch sonst) mich immer als jünger, eben so etwa als

27 jährig wie ich ja bei Kriegsausbruch war, anzusehn.

Liebes Gritli, wie alt bin ich denn wirklich?

Dein Franz.

11.10 18

Liebes Gritli,

– bzw. lieber Eugen, ist es nicht merkwürdig, dass nun die deutsche Niederlage wohl im Zusammenhang mit der Auflösung Österrs. = Ungarns zu einer Verwirklichung des alten alldeutschen Programms (Typens Wiltfeber) führen wird? Grade die Niederlage! – Der “Kabinetswechsel” in der Türkei, obwohl ja vorauszusehn, löscht mein letztes Hoffnungsfünkchen aus und ich bin nun auch politisch, – nicht bloss, wie selbstverständlich, privat, – für Frieden um jeden Preis, einschliesslich also der Helvetisierung des Elsass, die ja das natürliche Ergebnis einer unbeeinflussten Volksabstimmung sein würde, einschliesslich der Entschädigungsmilliarden an Belgien und Frankreich, ausschliesslich des Wiederkriegens der Kolonien. – Solange hat man sich in den Sieg hineingedacht, dass einem die Niederlage noch etwas ganz Neues ist und ich mich erst einmal in die Konsequenzen hineindenken muss. Der Rest unsres Lebens wird nun in einem besiegten Volk verfliessen. Unser militärisches Gesiegthaben glaubt uns ja kein Mensch ausser uns selbst. Und wenn selbst -, Napoleons Feldzug von 1814 soll sein genialster gewesen sein. – –

Heut ist es schon einen Monat her, dass ich die letzten Briefe geschrieben bekam oder morgen. Ich möchte doch bald wieder in das “Hin und Wieder” hinein, einerlei ob im Vorder= oder “Hinterland”. Unser Zug ins “Hinterland” lässt noch auf sich warten. Mein Gewissen wird täglich schlechter; aber ich denke, bald wird ihm die hohe Behörde unter die Arme greifen und hier unter uns “sieben” – ich bin jetzt 12 Tage hier.

Es ist wieder das Religionsgespräch um mich herum,- als Orchesterbegleitung zu dem in mir. Einer fragt “ja was ist denn der Glaube? und der Angeredete sagt: ja das ist eine sehr schwere Frage”.

Ich finde das gar nicht mehr.

So klug wird man, wenn man ein System hat!.

Dein Franz.

12.10.[18]

Liebes Gritli, es ist wieder spät geworden, und “spät” heisst: kümmerliche Beleuchtung. Ich habe den ganzen Tag über geschrieben, und bin noch nicht einmal zufrieden, es ist schwierig und unklar geworden; ich hätte es vielleicht nicht so überstürzen sollen, aber ich wollte bis zu einem bestimmten Punkt kommen. Es sieht übrigens so aus, als ob auch im II.Teil der “Stern” noch gar nicht beschrieben werden müsste, wahrscheinlich erst im “Übergang” von II zu III.

Das andre ist die Politik. Sie hat mich seit Bethmanns Sturz nicht mehr so aufgeregt. Allmählich akklimatisiere ich mich an dies neue Klima eines besiegten Deutschland. Ich glaube übrigens, dass das Malheur hier unten nur die gern ergriffene Gelegenheit war, sich laudabiliter dem Papst in Washington zu subjicieren; zureichender Grund wäre es, für sich allein, nicht gewesen.

Unamtlich wird verlautbart, unser Zug käme. Dann käme ich also doch vielleicht mit nach Deutschland.

Frag mal Eugen, ob die Polen wirklich Gdansk kriegen? – Dazu übrigens ein Geschichtchen, das ich im Sommer in Warschau hörte. Deutsche Herren werden zwecks Kennenlernens in eine jüdische Schule in Praga, Warschaus Vorstadt auf dem rechten Weichselufer, geführt. Der Cicerone fragt nachher (zwecks Prüfung in weltlichen Wissenschaften) eine geografische Frage: grosse polnische Städte an der Weichsel. Worauf das gefragte Judenjüngelchen herausschmettert: “Praga, Warschau und Gdansk.” – Es soll lange Gesichter gegeben haben. Wenn das in der jüdischen Volksschule passierte, —–

Ich habe übrigens die von Eugen gefürchtete “Allmacht” und “Allweisheit” jetzt auch behandelt, nicht in der Metaphysik, sondern bei der Schöpfung. Ich glaube, Eugen wird es überhaupt viel zu theologisch sein. Der II.Teil wird nichtleichter zu lesen als der I. – Du wirst darauf angewiesen sein, dass ich dir Stellen daraus (“Lichtstrahlen aus dem Talmud” ) vorlese.

Wann? ——–

Dein Franz.

13.10.[18]

Liebes Gritli, wie schön, dass doch noch ein Brief hierher kam; der an das Lazarett, die an Keppichs noch nicht. Ich bin zwar schon ganz aus der Stimmung des Verlorenen und Wiedergefundenen heraus; es ist ja schon über 14 Tage her, dass sich der Eisenbahn = Zug von Üsküb nach Nisch in Bewegung setzte. Mutter tut mir so leid, dass es mir ganz gleich ist, was sie für Schritte getan hat; es waren natürlich heute unsinnige; meine Nachricht musste ja früher kommen. Gott versuchen? das können ja nur die, die auch er versuchen kann, nämlich die ihn kennen. – Ein Satz, den ich schleunigst notiere; denn der Begriff der “Versuchung” wird ebenso grundlegend für den Übergang zum III.Teil sein wie der des Wunders für den II. Etwas was ich übrigens obwohl ich täglich etwas mehr davon merke noch selber nicht erklären könnte; aber diese Denkvorgefühle täuschen fast nie. Die Bücher des II.Teils werden, wie ichs vorher schon wusste, annähernd nochmal so lang wie die des Iten. Die gramat. Analyse des Schöpfungskapitels verschiebe ich bis an den Schluss des Buchs und werde das Grammatische vorher so geben. – Wir fahren morgen weiter, vielleicht auf einem Donaudampfer, – das wäre schön. Ob ich wirklich jetzt mitdieser (kein=)Fieber = Tabelle bis nach Deutschland durchrutsche, um dort gleich wieder zurückgeschickt zu werden, denn deutsche u. österr. Ärzte ist zweierlei – weiss ich noch nicht. Meine Briefe vom 20. darunter einer an Eugen und ein paar Briefe von euch, die ich an Trudchen zur Aufbewahrung geschickt hatte – das scheint alles verloren gegangen zu sein; ich war dumm; ich hätte es denken sollen. Der an Eugen war eine so aggressive Verteidigung des “Sterns”, dass es gar nichts schadet, dass er verloren ging. – Ich habe Sehnsucht nach dem 2.Buch und grosse Spannung auf das 3te. Durch dies wäre ich eigentlich gern hindurch, das Schönste über die Schöpfung nimmt die Einleitung vorweg. Es kann aber noch eine Woche dauern. Die Stoffverteilung innerhalb der drei Bücher steht jetzt fest, da die des 1ten feststeht.

Der Krieg wird nicht ins Land kommen; wir treten es lieber vorher ab. Und ehe die Frauen bewaffnet werden, werden die Männer lieber entwaffnet. Und das alles ist gut so. (Und das ist das Schlimmste). Den sinnlos heroischen Untergangskrieg (“nicht der Sieg ists, den der Deutsche fordert, .⁄ U .⁄.U .⁄ U .⁄ U .⁄ U .⁄, wenn der Brand nur fackelgleich entlodert, wert der Leiche die zu Grabe geht” Kleists Germania an ihre Kinder) diesen Krieg soll ein Christliches Volk nicht führen. Karthago, Sagunt etc. durften es, aber im Kreise der Offenbarung nur Jerusalem, aber das jüdische Schicksal muss einzig in seiner Art Bleiben. Und selbst da hat, was bei Karthago u. Sagunt nicht war, ein Prinz Max namens R.Jochanan b.Sakkai, also vielmehr ein Prinz Hans, dem Volk durch den Gang ins Lager des Titus die Grundlagen der Fortexistenz gesichert. – Sonderbar, dass ich dir auch grade schrieb, ob Deutschland es nicht verdient hätte. Aber haben denn die andern diesen Erfolg verdient? Ist die blosse Standhaftigkeit Frankreichs, die Hartnäckigkeit Englands, der Idealismus Amerikas – ist das wirklich so viel mehr gewesen? Man darf eben auch im Völkerleben nicht moralisieren; es ist unfromm.

Ich habe Gelegenheit, den Brief durch Boten also ganz rasch zu schicken, so rasch, dass ich ihm – dem Brief, nicht dem Boten, um Himmelswillen! – ein “Gutes” anvertrauen möchte; es kommt ja noch frisch an.

Liebes liebes – – –

Dein Franz.

13.10.[18]

Liebes Gritli, mir ist ganz zivil; ich bin heut schon seit 11 bei Louis Mosbachers Tochter u. Schwiegersohn, und nachher fahren wir mit dem Dampfer nach Sunlin – : Konditorei!

Die Gewissheit des Friedens ergreift mich doch jetzt stärker als die Politik. – Heut früh habe ich ein paar Seiten über die Mathematik geschrieben und von morgen an kommt das erste Stück zur Grammatik, die Schöpfungsformen des Worts. Es wird eine – grammatische Analyse des 1.Kap. der Bibel, eigentlich gegen meine Absicht, aber es wurde so überzeugend, dass ich schliesslich meinen Widerstand aufgab; denk: die Verse wo der Mensch erschaffen wird bringen lauter neue grammatische Formen, Vordeutungen auf die Offenbarungsformen des Worts, aber noch im Rahmen der Schöpfungsformen. Da kannst du dir nun wieder nichts bei denken; es ist aber etwas was nachher in der Ausführung ganz einfach und klar wird.

Ich sitze übrigens schon in der Konditorei, vorher die Rast auf dem kleinen Vergnügungsdampfer über Save und Donau, ich glaube die erste solche Dampferfahst wieder seit 1914, und herrliches Wetter – selbst mein Begleiter ist ganz nett, wenn auch nicht so nett wie er für so einen ersten Tag Vorschmack der Friedens sein müsste. Aber es ist unrecht von mir das zu schreiben während er neben mir sitzt.

—— Dein Franz.

[Mitte Oktober 1918?]

[auf Zettelchen mit Eisenbahnstempel und =Auskunft]

Das [Pfeil bezgl. der Auskunft] ist garnicht wahr! – Liebes Gritli, ich muss dir doch noch gute Nacht sagen; der Tag ist sonst ein i ohne Punkt. Vor lauter Schreiben und Abschreiben (vor allem das) kam ich nicht mehr durch bis zum braunen Papier, obwohl ich dir glaube ich eine Menge zu sagen habe. Aber das glaube ich immer. An Eugen fing ich heut auch einen grossen Bogen an und nachher kamen bloss ein paar dicke Brocken. Sag ihm, mein Kopf wäre absorbiert, so reichte es nur noch zum “Behaupten”, nicht mehr zum “Beweisen”. Und Männer wollen ja alles bewiesen haben! Dir genügen schon die Behauptungen – du beherzigst sie eben. Haupt und Herz –

Dein.

19.10.[18]

Liebes Gritli, die ganzen Tage schrieb ich nicht; immer sah es aus, als ob wir fort kämen und dann wurde doch nichts daraus; und übrigens sass ich von früh bis abends und gebar meinen tanzenden *. Morgen früh wird wohl II 1 fertig, es fehlt nur noch die grammatische Analyse von I M 1. Es ist wie ich dachte mehr als doppelt so lang geworden wie die Bücher des I. Teils; sodass ich jetzt mit ca 13 “Druckbogen” wohl die knappe Hälfte des Ganzen habe; ich habe immer noch den heftigen Drang nach dem Ende; es ist mir ganz egal, ob das einzelne ein bisschen besser oder schlechter ist. Ich will es geschrieben haben. Dass es dann da ist und wie es ist, ist mir gleichgültig: Ich denke ja an keine Leser; noch nicht einmal an mich selbst als Leser. Es ist mir nur lästig, das Geschriebene zum Abschreiben nochmal lesen zu müssen, während ich das sonst gern tat. Diesmal will ich nur vorwärts und durch. Selbst die demoralisierte Drückerei hier im Lazarett herum gestatte ich mir. Der * ist mir jetzt das Nächste, die nächste Aufgabe. Ich trage ihn jetzt täglich durch das Meer des deutschen Jammers und halte ihn so hoch dass er nicht nass wird. (Du darfst aber nicht glauben, dass er lesbar wird. Ich war ganz erstaunt wie du schriebst, er ginge dir mehr und mehr auf. Das Schöpfungsbuch ist genau so schwer wie die des I.Teils. Den Stern selbst werde ich wahrscheinlich nur im Übergang von II zu III ganz kurz dem “Leser” zur Selbstkonstruktion empfehlen, im übrigen einfach die Symbole …[Zeichnung Dreieck Spitze oben, Dreieck Spitze unten, Stern] auf ein Blatt vor je den I.II.III.Teil malen. Im übrigen muss alles mit Worten zu sagen sein. (Aber die algebraischen Symbole habe ich fleissig in I, und boshafterweise auch zur Darstellung der idealistischen Philosophie in II 1 verwendet. Die Kunstlehre habe ich heut genau entworfen. In II 1 kommt nur wenig davon herein, nicht aus sachlichen sondern nur aus darstellerischen Gründen. Hier, in dem Verhältnis von Kunst u. Sprache, Denken und Sprache, ist sehr vieles in nächster Nähe zu Eugen – und trotzdem wird er es kaum goutieren.) Alles tue ich dabei in einem wie verzauberten Zustand, in genauem Gefühl von dem Furchtbaren was geschieht und doch über dies Gefühl weg. Ich schreibe in die Jahrtausende hinein und krümme mich dabei unter den Geisselhieben des Jahrhunderts. Es ist alles wie du schreibst (ich habe deine Briefe vom 13. – gestern – , und vom 9. – heute -); das Ende von allem was uns selbstverständlich war. Ich speziell merke ja jetzt, wo es zerbricht, erst ganz, dass es mir noch mehr bedeutet hat als ich mir zugab. Es war doch eben einfach die Welt, der man vertraute, weil sie da war. Die Rätselhaftigkeit von Gottes Willen spürt man erst ganz in der Niederlage; im Sieg redet man sich ein, somüsste es sein. Und das Sonderbarste ist, wie sich das alles sammelt in dem Schmerz um die Hohenzollern. Das wusste ich nicht, dass ich so gefühlsmonarchisch bin. Es empört sich alles in mir gegen einen Präsident Scheidemann oder einen Kaiser Max. Ich weiss ja das deutsche Sündenregister genau, und brauche meiner alten Aufstellung keinen einzigen Posten hinzuzufügen, aber nun ist es härter gestraft als es (verdient? weiss ich nicht, aber als es:) tragen kann. Es ist nicht reif, nicht stark genug für eine solche Strafe, es wird ihr einfach innerlich erliegen und wirklich verwilsont werden. Eugen hat in …[Zeichnung Sonne Mond Sterne] die amerikanische Gefahr gesehn, als ich sie noch nicht wirklich ernst nahm. – Es geht mir genau wie euch, ich habe nach der Dt.Tageszeitung verlangt. – Auf einen Wiener Kongress hoffe ich nicht; dann kämen wir noch mit dem nackten (Bismarckschen) Leben davon; es wird viel schlimmer. – Wir haben alle nicht gewusst, wie vergänglich alles Menschliche ist. Weil das Reich 43 Jahre stand, dachten wir, es könne nur zunehmen, nicht verschwinden, höchstens stehen bleiben, und über diese letzte Möglichkeit, über das möglicherweise Stehenbleiben bei Bismarck haben wir gejammert und Lamento geschrien wie über das Schlimmste. Und nun! – Ich schreibe dir morgen weiter. Grüss Eugen. Ich freue mich mit euch über Picht. Dazu musste ein Reich stürzen! Was ist der Mensch!

Sei mir gut.

Dein Franz.

25.10.18

Liebes Gritli, ich bin noch ganz verschlafen; in Marburg war ich aufgewacht und von da fuhrst du mit mir, ich las das Durchschlagbüchelchen und es war mir seltsam, mich wieder so verloren vorzustellen, so verloren und doch so geborgen und eingehüllt, ganz warm und weich, in deiner Liebe. O du liebe – du mehr als Seele, inniger und heimlicher, – du liebes Herz, – wie bin ich arm gegen dich, grade jetzt, wo ich mich so in andres ausgebe; ich kann gar nichts weiter als mich in deine Arme nehmen zu lassen, und “bei dir sein” und aus dem Reichtum deines Herzens trinken. Schenk mir davon, immer und immer, – du Immergeliebte.

Was waren es für verworrene und schöne Stunden von vorgestern abend bis heute früh. Verworren auch, denn ich sah Eugen nun auch wieder als wäre es ein erstes Mal; ich glaube, ich sah ihn durch und durch; ich sah ihn viel mehr als dass ich mit ihm sprach; das unaufhörliche Sprechen war ja nur ein Versuch, dies Sehen zu verhüllen, nur ein grosses Geschwätz, in Wahrheit sah ich ihn immer nur an. Ich sah ihn doch, jene kurzen Stunden voriges Jahr am 2.VII abgerechnet, zum ersten Mal leibhaftig und wirklich neben dir, im gleichen Raum, das Sehen ist da etwas, was man sich nie vorher vorstellen kann, man muss es erfahren haben. Dich sah ich gar nicht an, bloss ihn, dich spürte ich bloss. Ich habe euch lieb. –

Mit der Krankmeldung.

Oktober 3 1918

28.X.18

Liebes Herz, ich kann dir noch gar nicht wieder schreiben, nur immerfort an dich denken. Gritli, Gritli – was sind alle Worte nach diesem Tag= und Nachttraum gemeinsamen Lebens, den wir träumen durften, ohne den Traum mit dem Erwachen zu büssen; denn ich bin noch nicht erwacht und ich wollte, es bliebe so und nur das nie verlorene Gefühl, dass es ein Traum war, schiede Traum und Leben. Lieber Traum und liebes Leben du, entflieh mir nicht, bleib!

Was sind Worte – ich muss dir einen rechten Nachrichtenbrief schreiben; nur zur Nachricht taugt das Wort, und sonst nur das Schweigen. Eben war ich bei Herrn Mündel, und nach allerlei Umständen kriegte ich ihn auch zum Diktat bereit; er schreibt nämlich ungern nach Diktat, und zunächst wollen wir es so versuchen, dass er das Unreine abschreibt und ich bin dabei und springe bei unleserlichen Stellen helfend ein; geht das, so ist es mir natürlich am liebsten so, ich könnte dann gleichzeitig etwas für mich tun, etwa korrigieren. Vielleicht kann ich ausserhalb der Kaserne wohnen, und kurioserweise: meine alten Wirtinnen wohnen jetzt so in der Nähe der Kaserne wie früher in der Nähe der Universität, – ich will also sehen, ob ich ein drittes Mal zu ihnen ziehen kann. Es war überhaupt recht freiburgisch schon heute; meine schönsten Universitätssemester waren doch die hier. Nur der Münsterturm sieht abscheulich aus mit seinem hohen steifen Stehkragen. Rohde ist leider grade weggekommen, nach Belgien. Was aus mir wird, weiss ich natürlich nocht nicht; ein paar Wochen können es wohl werden und 8 Tage Kriegsanleiheurlaub ab 4.XI (oder ev. auch ein paar Tage später) nach “Kassel und Wildungen” zwecks Flüssigmachung von M. 600 (sprich sechshundert – wenn wir die in Frankfurt gehabt hätten!) sind mir sicher; die kommen nicht ins Soldbuch, zählen also nicht als Unterbrechung der urlaubslosen Zeit; ich will sie also auch nicht zählen; also z.B. wenn ich grade im Schreiben bin, nicht unterbrechen, sondern ruhig jeden Morgen ein paar Stunden daran hängen. Bis jetzt habe ich noch nichts wieder geschrieben, teils aus Abhaltung und teils aus einer Art Schamgefühl; es wird ja das eigentlich indiskrete Kapitel, obwohl gar nicht Beichte.

Aufgeräumt wird hier zur F.Art., nicht zur Inf.! das ist bezeichnend; Art. hat jetzt schwerere Verluste als Infantrie. Em.[?] schützt nicht, im Gegenteil; das Militärische ist doch immer unberechenbar. Heute morgen hat es sich aber mit 21 Mark als Retter in der Not erwiesen; ich war nach Liquidierung meiner Briefmarken auf 20 Pf bewussten Kassenbestand gekommen; einen unbewussten von einem 5= und einem 2= M Schein entdeckte ich erst viel später. – Kleidervorschriften sind hier von einer Garnison-mässigkeit, als ob man 1913 schriebe. Ich halte es übrigens jetzt doch wieder für möglich, dass die Hohenzollern, wenn auch nicht Wilhelm, bleiben; nur leider nicht weil das deutsch Volk sie hält, sondern weil England in ihnen einen Schutz vor dem Bolschewismus erblickt. Heut abend bei Mündel sah ich wieder, wie wenig die Menschen schon die Lage spüren. Das Wörtlein “muss” ist offenbar im Deutschen schwer auszusprechen; dass eine französ. Besatzung in Freiburg sein würde, hatte er noch nie gedacht und war ganz erschüttert von der Möglichkeit. Bleibe ich länger, d.h. noch über den Anleiheurlaub hinaus, so würde ich wohl mal einen Sonntag nach Hinterzarten; aber soll und kann ich dann nicht vor allen Dingen einmal nach Säckingen? das liegt mir viel mehr am Herzen. Aber vorläufig ist ja noch nicht die Rede davon.

Dies verrückte Papier habe ich Keppichs in Belgrad entführt und schreibe II 2 darauf. Es lässt mehr unbeschrieben als beschrieben. Und auch der Brief selber lässt mehr ungeschrieben als geschrieben. Meine Gedanken laufen ringsherum auf dem ganzen Rand.

Denkend = dankend

— Dein.

29.10.18

Liebes Gritli, bei wem schreib ich wohl? bei Herrn Kinkel. Was ich mit Tinte geschrieben habe – und das Schöpfungkapitel ist es fast ganz -, kann er fast ohne Hülfe meinerseits und fast ohne Fehler abschreiben; das ist ein rechtes Glück; denn im übrigen sieht es hier mit den Aussichten für den Stern bös aus; der elende Garnisondienst mordet die Frühstunden; sowie ich Privatwohnung habe, werde ich mir durch Mittagschlafen und 4 Uhr früh Aufstehen einen künstlichen Morgen schaffen. Die Abende gehen auf das Diktieren bzw. Dabeisitzen. – Freiburg gefällt mir wieder so gut, dass ich gar nicht mehr begreife, warum der badische Flakzug so ein Reinfall war; ich würde heute wieder die gleiche Dummheit machen wie damals in Ostende, als ich gleich auf den “badischen Zug” hin zugriff. Aber es liegt wohl an dem Unterschied von Oberland und Unterland, und wenn ich meine Erfahrungen im Zug einzeln durchgehe, dann ordnen sie sich wirklich nach Freiburg und Karlsruhe auseinander. Und die Stadt -, aber ich kenne sie zu genau, sodass es nicht der ganz direkte Eindruck ist wie Frankfurt im Dunkel, wo ich nichts kannte und also rein sah; hier kenne ich soviel, dass ich mehr sehe als eigentich zu sehen ist. Denk doch, dass ich nochnichtmal über die Gossen stolpere, sosehr habe ich es noch im Gefühl, wo die Übergänge sind. Heut war ich bei meinen alten Wirtsfräuleins, sie sahen aus wie vor 12 Jahren, erkannten mich aber nicht! Alle meine alten Möbel sah ich wieder, auch zwei Lithographien nach Blättern aus der Brahmsphantasie (der befreite Prom. und die Gigantomachie) hingen noch an der Wand, mit denen ich ein paar Odaliskenbilder zugedeckt hatte, um die schönen Rahmen zu retten. Sie wohnen doch ziemlich weit ab, aber vielleicht ziehe ich hin. Gestern abend kam ich am Wirtshaus zur Insel (am Schwabentor) vorbei, fand den Eingang nicht, erst als ich schon nicht mehr darauf hoffte, nämlich in der Strasse, die zur alten Universität weiterführt, fand ich ihn plötzlich, da hing nämlich aus einem langen erleuchteten Flur, den ich ganz vergessen hatte, eine Laterne heraus, mit links und rechts “Gasthaus zur Insel” und vorn – nun was wohl vorn? was wohl anders als – der Stern, etwas in die Länge gezogen, weil die …[Zeichnung] Vorderwand der Laterne schmal war, aber doch wirklich er wars. Da musste ich wohl hereingehen, was ich ja auch vorher schon wollte. Es muss doch werden, trotz Garnisondienstes und allem.

Liebes Gritli – liebes Gritli —

*       — Dein Franz.

30.10.[18]

Liebes Gritli, heut ist erst der zweite Tag Garnisondienst, und schon zum Davonlaufen. Das ist nichts für mich, im Krieg ist alles vernünftiger, und auch das Zusammensein mit den Leuten – es sind hier fast alles Sergeanten! also kaum ein einjähr. Uoff. mehr – nicht so unerträglich wie hier. Und 7 Stunden! Heut habe ich nach Mittag und – während der Instruktionsstunde (ganz wie ein Schuljunge) etwas gesternt, sonst wäre ich auch heute nicht dazu gekommen. Abends ging ich vor Mündel in die Universität, um J.Cohns von 6-1/2 8 angekündigtes Seminar zu besuchen; ich war weniger auf ihn, und gar nicht auf “Logik u. Erkenntnistheorie”, gespannt als auf den Eindruck eines Kriegsstudenten-publikums. Aber auf dem Gang zum philos. Seminar war alles finster; das gedruckte Verzeichnis hatte offenbar gelogen, und enttäuscht und etwas trübselig wollte ich die Treppe heruntergehen; da stand ein Artillerieoffizier, ebenso ziellos wie ich, und wie ich die Treppe herunter an ihm vorbei will, erkennen wir uns; es war Kähler. Wir waren beide erschrocken und bewegt. Er war ohne bestimmten Grund, nur von einer dunkeln Unruhe getrieben, in die Universität gegangen; ich hatte bis zum letzten Augenblick gezweifelt, ob ich eigentlich hinwollte. Nun hatte es also doch seinen guten Grund gehabt. Es war dann ein gespanntes Zusammensein, trotz allen guten Willens, von seiner Seite Misstrauen, von meiner Angst, einfach Angst. Es ist ja doch eine schwere Verletzung gewesen; und ich würde nicht das Gefühl haben, sie wieder aufreissen zu müssen, wäre ich nicht eben von mir aus ebenfalls zur Wiederaufnahme des Verfahrens veranlasst, aber eben: ich empfinde mich ihm gegenüber nicht mehr so glatt im Recht wie damals, ich verurteile meine damalige Existenz jetzt ja selber. Morgen sehe ich ihn wieder. Es war eigentlich das erste Erwachen von dir, ich sass ihm gegenüber und fühlte wie unversammelt noch meine Lebensgeister waren; sie waren noch bei dir,in deinen Armen. Nun rief ich sie zusammen und stellte sie “in Linie”.. K. ist ab 1.1.19 bei Kronprinzens (bzw. dann wohl schon “Hohenzollerns”) als Hauslehrer angestellt. Er las mir – erzähl das auch Eugen – einen langen Brief des jungen Marcks vor, vom 23.X. (noch ohne Ahnung von Österreichs Abfall), dessen Eugen sich vielleicht auch noch aus Baden = Baden erinnert; er war damals mirabilia mundi Friburgensis, spielte viel mit Selbstmord, wurde stattdessen Offizier und ist jetzt mit seinen ca 26 Jahren Hauptmann im Generalstab, edelster Halbgott = Typ, der sich den Kopf um eine werbende Idee zerbricht, aber eine “werbende” muss es natürlich sein. Denn er denkt am 23. noch ernsthaft an Fristung des Widerstands ins Frühjahr, um wenigstens das Bewusstsein zu haben, dem Schicksal keine Gelegenheit entzogen zu haben. An das Volk denkt er mit diesen Berechnungen immer nur im Zusammenhang der werbenden Idee, als welche er den – Rechtsfrieden empfiehlt. Von nichts ist die Halbgöttlichkeit so fern als vom Busse tun, und doch wäre das die einzige “Idee”, die jetzt an der Zeit ist. – Praktisch sind ja diese letzten Widerstandsgedanken, die ja auch in der rechten Presse dieser Tage aufschossen, nun wieder abgetan, durch Österreichs Abfall, über den ich als Leser der österr. ungar. Zeitungen schon seit Wochen im klaren war, aber aus deutschen Zeitungen war nichts darüber zu lernen. – Kähler selbst politisiert stark mit geschichtlichen Vergleichen und also etwas armselig. Er ist ja geborenster Preusse, und ich musste oft wieder an die grauenhafte Entdeckung denken, welche Menschen allein an das Reich glauben. Natürlich sagt auch er: “nun werden eben Bücher geschrieben”; aber selbst das ist schon Unglauben. Vielleicht werden keine Bücher geschrieben – wozu die Parallelen mit “vor 100 Jahren”, – vielleicht bricht Deutschland auch “geistig” zusammen – vielleicht versinkt Europa überhaupt – weder von Germania noch von Europa steht geschrieben, dass sie manent in aeternum. Aber es ist furchtbar schwer, das zu denken; schon für mich, dem es leicht fällt, leicht fallen müsste, und für einen Menschen wie Kähler, Urenkel des Königsberger Polizeidirektors Frey aus der Reformzeit und Enkel eines Preuss. Generals in türkischen Instruktionsdiensten, wohl fast unmöglich. – Ich habe mir, um ein paar Tage lang nicht DrittenMannabschlagen spielen zu müssen, mir  4 Tage Schonung geben lassen. Es ist zwar Allerheiligen und Sonntag dabei und ich darf eigentlich nicht aus der Kaserne heraus, aber es ists mir doch wert.

Dein Franz

31.10.[18]

Liebes Gritli, Doris v.Beckerath ist gestorben, du wirst es ja schon wissen. Ich kann dir heute nicht schreiben. Es bleibt nichts als sich fest zu klammern an das was noch bleibt. Das Leben reisst einem das Herz in kleinen Stücken aus dem Leib. Bleibe du doch – ich wage kaum zu sagen: mir; bleibe nur überhaupt; ich kann es mir nicht vorstellen, dass du gingest. Bleibe, bleibe.

 

November 1918

1.XI.[18]

Liebes Gritli, heut habe ich zum ersten Mal wieder einen ganzen Tag gehabt und gleich auch wieder den ganzen Tag geschrieben. Diese Stimme reisst eben scheinbar nicht ab, ganz einerlei welche andern Stimmen in der schrecklich polyphonen Symfonie des Lebens noch mittönen. Ich habe mich noch nicht zu einem Brief an B. aufraffen können. Steckte ich nicht in der elenden Uniform, so würde ich nun zu ihm fahren und einfach eine Zeitlang bei ihm leben. Er hatte ja – das wusstest du nicht – alle inneren Ansprüche, die ja auch er stellte, sozusagen sein ganzes “metaphysisches” Teil, an diese Frau ab= und für sie aufgegeben. Er hatte verzichtet, mit einem gewissen Bewusstsein verzichtet, mehr zu werden als er war, und war mit beiden Füssen ins Glück und Nichtsalsglück hineingesprungen. Nun hat er das begraben und muss sich doppelt leer vorkommen; denn er ist weniger als er früher war. Ich spüre deutlich dass ich mehr mit ihm mitleide als unmittelbar um sie mich gräme. Ich hing wohl an ihr nur durch seine Vermittlung, – wie ja auch an dem ersten Abend, wo die beiden sich seit ihrer Kindheit wiedersahen und ich sie zu Tisch führte, sie mir keinen starken Eindruck machte, während gleich zu merken war, dass er, der sich auf ihre rechte Seite placiert hatte, sich für sie enflammierte. Dabei bleibt es natürlich wahr, dass an ihr viel mehr war als an ihm. Aber Freundschaft und Liebe gehen ja nicht nach solchen objektiven “Wahrheiten”. “Leicht sind sie besser – du bist gut” sagt Walter v.d.Vogelw. Gegen Abend war ich wieder ein paar Stunden mit Kähler. Es ist gut und doch nicht das, was nocheinmal zwischen uns kommen muss. Das bleibt mir und ihm nicht erspart. (Übrigens konnte ich nicht verhindern, dass er sich meiner – annimmt!) und meine steckende Wohnungsangelegenheit etwas bei der Abteilung IX 1 in Fluss bringt! – Als Doris starb, waren wir wohl grade in Frankfurt beisammen – . Ich habe noch kein Wort von dir seitdem (auch Geld ist übrigens keins gekommen). Was mag wohl sein?

Dein Franz.

2.XI.[18]

Geliebtes Herz, was ist das für ein Jahr des Todes – und doch nicht bloss des Todes, sondern auch dessen was stark ist wie der Tod. Meine Seele zieht ihre Kreise um dich und liebt dich. Dies Buch II 2 an dem ich jetzt schreibe gehört dir noch viel eigener als das Gritlianum, grade weil es nicht von vornherein für dich bestimmt war und es ja auch jetzt nicht ist. Es ist nicht “Dir” aber – dein. Dein – wie ich. Manchmal ist mir, als wäre ich ein Kind, das nicht schreiben kann und es doch gern möchte und du führtest mir die Feder. Tu’s weiter, Geliebte.

Ich wohne nun ausserhalb der Kaserne und werde wohl 4-5 Wochen sicher hierbleiben, indem ich (Schnells Geschoss) zu einem Kurs kommandirt werde; der nimmt mir weniger Zeit weg als der übliche Dienst und ist nicht so ärgerlich. Es ist schön, ein Zimmer fü r sich zu haben. Dies behalte ich vielleicht nur ein paar Tage und ziehe dann zu meinen alten Wirtsfräuleins. Verloren geht mir durch den Kurs zwar der sonst sichre Kriegsanleiheurlaub von 6-8 Tagen. Aber du weisst ja, dass ich jetzt gar nicht rechte Lust auf Urlaub habe. Wenn ich den II.Teil geschrieben habe und den dritten angefangen, dann viel eher; denn III 1 und III 2 sehe ich ohne Erregung entgegen; sie werden mehr oder weniger bloss eine Darstellung von mir nun längst alten Geschichten sein; die “tümer” sind mir ja überhaupt jetzt, wenigstens wenn ich am Stern schreibe, fast unwichtig geworden; erst vor III 3 verspüre ich wieder die Schauer, die man vor dem verschleierten Bild spürt; denn da muss ich ganz verstehen was ich eigentlich denn gemacht habe. So werde ich nach Kursschluss Urlaub beantragen – falls bis dahin noch ein geregeltes Militär besteht mit Dienststempeln u.s.w., woran ich ja etwas zweifle. Heut ist ja Eugens 2.XI; vielleicht hat Wilhelm heute wirklich die Abdankung unterschrieben. Kähler sagt, einem Badener oder Cumberländer oder dergl. (ich glaube nämlich, der Cumberländer wird kommen) würde er nicht den Fahneneid leisten, dann schon eher einer Republik. – Mutter habe ich heute geschrieben, sie möchte ein paar Tage herkommen; ein Brief von ihr, den ich eben bekam, zeigt dass es richtig war. Wäre nicht alles so unsicher, so wäre es vielleicht das Beste ich behielte sie hier unten irgendwo im Schwarzwald, wo ich sie Sonntags besuchen könnte, in einem Sanatorium auf einige Wochen. Die Ernährungsverhältnisse hier sind ja gradezu glänzend. Weisst du zufällig ein Sanatorium? Freiburg selbst ginge natürlich nicht, weil ich dann alle meine freie Zeit bei ihr sein müsste und das möchte ich keinesfalls. Sie wird selbst gar nichts dagegen haben, sich etwas zu pflegen. Schliesslich ist es hier unten ja auch kaum viel unsicherer als in Kassel, die Grenze ist in Deutschland plötzlich überall sehr nah; es ist wieder wie 1914, “als eng die Grenze uns umwand” wie Trudchen schrieb. Aber anders als 1914 sind die inneren Kräfte verbraucht. Ich musste in diesen Tagen daran denken (und merkwürdigerweise Kähler auch), dass Lettow = Vorbeck sich nun vielleicht länger schlagen würde als das Deutsche Reich. Das grande latrocinium Staat ist trotz seiner Grandität, und durch sie, hinfälliger gebaut als das kleine latrocinium einer echten Freischar. Der Staat ist eben doch ein Abstraktum, der sich die wirklichen Menschen erst untertan machen muss, um Blut und Leben zu kriegen. Eine Bande aber besteht aus den wirklichen Menschen unmittelbar.

Ich bat Herrn Mündel, die Einleitung II an Eugen zu schicken; hoffentlich hat ers getan. Sie ist wohl wirklich im ganzen sehr gut geworden; der Gedanke kam mir jetzt schon wie eine Trivialität vor und doch möchte ich darauf schwören, dass ihn noch niemand gehabt hat.

Es ist spät und unwillkürlich ist die Feder bis zum Ende des Bogens gelaufen. Eigentlich hatte ich ihn nur genommen, um dir die ersten Worte zu schreiben. Es sind auch die letzten. Geliebtes Herz

Dein.

8.11.18 – am Münsterplatz!

[Freiburg]

Liebes Gritli, endlich. Vier Tage lang schrieb ich dir nicht und von dir kam Brief auf Brief und ich liess mirs wohl sein. Du kennst deine Konkurrenten, den +++ Dienst und den Stern (müsste wohl heissen “*** Stern”). Der Stern ist freilich jetzt in einem Teil wo alles Schreiben daran Schreiben an dich ist; du siehst mir immerfort über die Schulter. Ich bin wieder ganz drin, nur freilich geht es langsamer weiter, weil ich nur begrenzte Zeiten dafür habe. Aber seit gestern ist ja nun der Dienst 1.)”angenehm” und 2.)vor allem wenig geworden; gewöhnlich vormittags von 1/2 9 bis 1/4 12 und Nachmittag 1 oder 2 Stunden. Vor dem Krieg ist er ja nun gerettet; nun muss ich hoffen, dass ich ihn auch durch die Revolution durchtrage, die ja unzweifelhaft in den nächsten Monaten kommt. Mir ist unheimlich; es wird mir gehen wie 1914, ich werde versuchen müssen, innerlich und äusserlich neutral zu bleiben, und es wird mir ebensowenig wie damals auf die Dauer gelingen; und dann wird mein Platz, aus dem gleichen Grund wie damals, nämlich weil es das Natürliche, Nächstliegende und Unvermeidliche ist, auf der reaktionären Seite sein, und doch nur, wie damals ja auch, mit halbem Herzen.

Vorläufig aber sitze ich also wieder am Münsterplatz, im “Geist”; der Name verwunderte mich erst, als ich gestern Abend auf dem Teller das Hotelwappen, die Taube mit dem Heiligenschein, sah. Ich war gestern wie ein Verrückter; ich hatte erst in einer Pension nahe bei dem Kurs = Schauplatz gemietet, dann fiel es mir schwer auf die Seele, dass ich nun also wieder so wie diese Woche in Freiburg ausserhalb Freiburgs wohnen sollte – mir war es die ganze Zeit gewesen, als ob ich gar nicht in Freiburg wäre sondern, immer noch wie die vergangenen Jahre bloss da spukte. Und als ich abends den gemeinsamen Tisch sah, erschrak ich so vor dem Gedanken eines gemeinsamen Essens mit Fremden, dass ich die Pensionsmutter ganz verwirrt ansprach, ich müsse wieder fort; sie liess mich, weil sie offenbar dachte, ich wäre nicht recht im Kopf, ruhig gehen; und nun bin ich hier, in einem etwas ungemütlichen, nämlich zweibettigen, Zimmerchen, aber nach vorn heraus. So denkt man nun, man wäre anspruchslos geworden und nicht mehr wählerisch, und sowie man nur mal wieder die Wahl hat, ist man wieder ihrer ganzen Qual verfallen, und eher schlimmer noch als früher. Aber die Hauptsache: ich bin nun wieder in Freiburg.

Ich möchte dir gern vom Stern erzählen, aber es geht nicht, es ist zu viel. Der Übergang von II zu III, ich meine nicht das Übergangskapitel, sondern die Einleitung für Rudi, wird jetzt im einzelnen klarer; es sind alles ganz einfache Gedanken, so einfach wie das vom Wunder in der IIten Einleitung; hat dir das nicht auch einge = leuchtet? ich meine, ob du nun nicht auch das Gefühl hast, zu wissen, was ein Wunder ist; mir geht es so.

Deine Briefflut trat ein gleich am Morgen, nachdem ich angefangen hatte, über die Ebbe zu erschrecken. Jetzt weiss ich kaum, wo anfangen mit Antworten. Ich will sie einmal der Reihe nach legen. Obwohl das auch dumm ist. Ich freue mich so, dass du da bist, ohne alle Reihehfolge. Nein Gritli, du musst leben, alt brauchst du ja nicht zu werden, wir werden ja alle nicht alt; aber noch musst du leben. Wir hatten freilich bei der Nachricht von Doris beide das gleiche Gefühl, deinen Brief bekam ich erst viel später. Aber ich meine, es war das Gefühl, als ob sie wie ein Opfer an deiner Stelle heruntergestiegen wäre. Ein furchtbares Gefühl, aber so kam es mir. Die Gleichzeitigkeit mit unsern Frankfurter Tageszeiten war es, die uns beide so erschütterte. – Um sie selbst traure ich weniger als um Eugen [meint wohl Emil von Beckerath]. Und ans Leben klammern sich jetzt meine Hände fest an; so vieles hält mich, der Zusammenbruch um mich wird mir bald wie einer dieser komischen opernhaften Zusammenbrüche einer Dekoration auf dem Theater, ich fühle mich kaum mehr beteiligt; mein Hegelbuch, von dem Eugen nun recht behält, als er, nicht im Scherz, sondern im schweren Ernst, 1913 sagte: es wird nie gedruckt, erscheint mir wie das Lösegeld (ich meine: das Nichtgedrucktwerden des Buchs), mit dem ich mich von dieser meiner untergehenden Welt loslöse.) Was mir in Zukunft Welt heissen wird – ich weiss es weniger als je. Aber lebenssatt bin ich nicht; “man wird wieder Wein pflanzen auf den Bergen Samarias” – “man”, wer, weiss ich nicht, aber “man”. Eugen hat recht, der * reisst mich jetzt über den Abgrund der Zeit hinüber in das Irgend einer Zukunft. Es ist alles viel “vorgesehener”, was wir tun, als wir je vorhersehen konnten.

Aber nun will ich wirklich anfangen, die Briefe einzeln vorzunehmen und zu antworten. Du bist doch in jedem drin, und eine Ganze. Vor so vielen einzelnen Briefen spürt man es deutlicher als bei einem einzelnen, dass Briefe nicht der Mensch selber sind; den einzelnen Brief für den Menschen selber zu nehmen, überredet sich das sehnsüchtige Herz viel leichter.

Inzwischen habe ich zu Mittag gegessen, und dabei erfahren, dass dieser Brief vielleicht schon nicht mehr durchkommt. Es ist mir eine Beruhigung, dass Eugen in Kassel ist; allerdings wenn noch Züge gehn, müsste er ja jetzt nach Berlin. Es geht noch rascher weiter als ich in den letzten Tagen dachte. Es wird nichts übrig bleiben als die Entente ins Land zu bitten, wie wir vor einem halben Jahr in die Ukraine gerufen wurden. Eugens Aufsatz hatte ich neulich noch nicht, er kam erst später. In seiner Unumschriebenheit hat er mir besser gefallen als das Gleichnis in Siegfrieds Tod. Ich gab ihn gestern Abend auch Mündels. (Die Geldnot wird übrigens wieder akut für mich. Wenn ich jetzt plötzlich fort müsste, so könnte ich weder Hotel noch Mündel noch Eisenbahn bezahlen. Eine Frage: das Telegramm das du mir schicktest, bedeutet doch weiter nichts; ihr habt das Geld doch nicht abschicken können? oder liegt es etwa hier und wartet, dass ich es hole?)

Liebes, ich lese deinen ersten Brief, den vom 28., wieder; es ist nichts zu “beantworten”, es ist ja alles wie du sagst, das von den getrennten Häusern unsrer irdischen Hülle, und alles. Es ist nichts zu sagen; ich musste den Brief küssen faute de mieux.

Marie Herterich kannte ich, flüchtig nur. Sie war reizvoll; aber unheimlich in der Zusammenhangslosigkeit mit ihrer Mutter, ich meine die äussere, körperliche Zusammenhangslosigkeit; von dem inneren Verhältnis der beiden wusste ich nichts.

Ich sitze wieder bei Herrn Mündel und erschrecke über die Schwierigkeit von II 1; er ist eben malgré moi doch eine komplette Logik in nuce geworden. Und inzwischen machen die Münchner eine Republik und was in Berlin geschehen ist wird man vielleicht heut Abend schon hören. Und Kassel? und Terrasse 1? Ich kann nicht verzweifeln; der * hat einen starken Auftrieb und hält mich über allen Wassern; es ist mir noch nie so mit etwas Geschriebenem gegangen; freilich war auch noch nie in etwas was ich schrieb soviel von meinem vergangenen und zukünftigen Leben – das gegenwärtige, immer gegenwärtige, auch nicht zu vergessen, du Unvergessliche, immer Gegenwärtige -. In allem andern war nur entweder mein vergangenes oder gegenwärtiges oder zukünftiges Leben.

Was du von deinem Kindergebet sagst, ist wahr. Es steht auch im * so, oder vielmehr es wird so drin stehen; ies gehört zu den Übergangspartien von II nach III, die mir jetzt klar sind. Wenn man es ganz wirklich beten kann, ist man auch todesbereit; denn das gehört freilich zur Frömmigkeit, sogut wie es überhaupt zur Liebe gehört. Ich spüre noch heute nach, wie in mir zum ersten Mal dieses Gefühl des Sterbenkönnens, Nunsterbenkönnens lebendig wurde eben in dem Augenblick wo ich, als Vierzehnjäh-riger wohl, zuerst lebendig wurde. Nicht todesbereit sein heisst nämlich weiter nichts als – nicht ganz lebendig sein; im höchsten Leben ist mans. Und was du Frömmigkeit nennst, ist ja nichts als dies höchste Leben. Dem Lebenwollen widerspricht also die Todesbereitschaft nur insofern es noch Lebenwollen ist. Lebenwollen ist nämlich noch nicht Leben, sondern eben bloss erst Lebenwollen. Wäre es schon Leben und über das blosse Lebenwollen, dies elende Möchtegern, hinaus, dann wäre der Mensch auch todesbereit. Wenn wirs nicht sind, so ist das eben unsre Mangelhaftigkeit, ein Zeichen, dass wir noch keine ganzen Menschen sind. Ich kann es dir kaum sagen und möchte es dir nur ganz leise sagen, ganz leise: es ist unsre Liebe, meine und deine, die uns nicht todesbereit sein lässt. Antworte mir nicht darauf. Ich küsse deine Hände und deinen Mund. Sprich kein Wort. Lass es sein, als fühlten wir nur im Dunkel unsre Nähe und sähen einander nicht. – –

Mutter war immer so sinnlos verängstigt um mich, so sinnlos, ich meine so ohne Gefühl für den, der doch der Gegenstand ihrer Angst sein sollte; ich empfand mich in ihrer Angst immer wie entwürdigt, wie zu einer statistischen Nummer oder einem Stück Vieh herabgesetzt, – und sie schämte sich ihrer Angst auch und verbarg sie hinter Vaters. Es ist wirklich eine Teufelbesessenheit; aber da muss ich dir widersprechen: solche Teufel habe ich nicht und du auch nicht; die sind uns wirklich “exorciert”. Uns “[gestr. Peinigen] züchtigen unsre Nieren die ganze Nacht”, wie der Psalm sagt, – das ist aber kein Teufel, sondern – das Gegenteil. Übrigens “Nieren” hat doch einmal so realistisch geklungen, als wenn es heute hiesse “Nerven”; es ist eine kuriose Sache mit der Alterspatina der Bibelsprache.

Ist dies am Ende der letzte Brief auf lange, der noch durchkommt? Ich habe so eine Ahnung. Ist es so, dann – – ich habe dich lieb über alle Zwischenräume und Zwischenzeiten hinweg. Wir sehn uns wieder —

Dein.

9.XI.[18]

Liebes Gritli, heut abend kam das Telegramm mit dem Geld und den drei Unterschriften und beides zusammen besserte mich wieder etwas auf; Mutter hat also doch einen Mann im Haus, wenn er auch der jetzt verfehmten Klasse der Offiziere angehört. Von Kassel stand noch nichts in der Zeitung; aber es versteht sich ja, dass es auch dort ist wie überall. Mir war den Tag so in einer Mischung speiübel und zum Heulen.

Hier hat die Revolution mittags begonnen, noch in recht ruhigen Formen (nur eine Offiziers Patrouille hat geschossen; der Leutnant wurde dann vom General persönlich zurückgerissen). Ich habe nachmittags mich 3 Stunden auf mein Zimmer verkrochen, lamentiert und am * geschrieben, wahrscheinlich sehr mässig, obwohl es ein Stück war auf das ich mich gefreut hatte.

Die Cohensche Stelle aus dem Buch heisst: Gott “giebt” die Offenbarung wie er alles giebt, das Leben und das Brot und auch den Tod. Übrigens unterschreibe ich das “wie” in dem Satz nun doch nicht mehr. Leben und Brod giebt er, aber die Offenbarung “giebt” er nicht, sondern er giebt sich in der Offenbarung. Du siehst, ich habe deinen Brief vom 6. gekriegt; ich war in der Kaserne, da lag er. Er ist schon sehr veraltet; die [Weltg durchgestrichen] ach was “Welt”, die Geschichte ist rasch weitergegangen. Ich hoffe doch sehr dass Eugen sich nicht wieder mit Breitscheid anlässt; man soll eben doch keine Politik ausserhalb seiner Sphäre machen; ich kann mir nicht helfen. Was will er als Christ unter den Bolschewikis? warum nicht dann den natürlichen Weg zu den Gegenrevolutionären, die sich doch bald irgendwo organisieren werden. Ein Gefühlsmo-narchist kann nun eben mal nicht unter die Republikaner gehen und ein Kriegerischer nicht unter die Pazifizisten. Und das Leben ist schon nicht so gradewegs; muss man sich da selber noch künstlich in schiefe Stellungen bringen. Er soll, wenn es denn sein muss, sein Es lebe der König nicht erst in seinem 5ten, sondern ruhig schon in seinem 1ten politischen Akt sagen. Ich wollte, er führe, wenn das jetzt noch geht, nach München, wirklich. Ich glaube noch nicht recht (trotz Heims Mittuen) an die Republikanisierung der oberbayrischen Bauern. Aber mehr als an Eugen und an alles muss ich wieder an den Kaiser denken und an seinen furchtbaren kümmerlichen Abgang – und er hatte soviel Sinn für schöne Abgänge und dergl. Neben dem Geist war früher eine Zeitungsredaktion; dort auf der Schwelle stehend habe ich in der Wahlnacht 1907 (der Blockwahl) zum ersten Mal das Volk – ich stand mit dem Gesicht zu ihm hin – als die 1000köpfige Bestie mit Augen gesehen. Nun wohne ich mit dem gleichen Blick heraus. Allerdings spielt sich sonderbarerweise bisher nichts auf dem Münsterplatz ab. – Ich glaube kaum, dass unser Kurs noch zu hohen Jahren vielmehr Tagen kommt. Wenn dann sich alles auflöst, versuche ich natürlich, nach Kassel zu Mutter zu fahren. Wäre nur mein Zivilanzug erst hier; das wäre eine grosse Erleichterung . – Mit Kähler lebe ich sehr merkwürdig. Ich liebe ihn doch noch immer. Und er kennt mich noch immer miss. Dabei sind wir grundsätzlich erst jetzt Gegner geworden, ganz anders als damals. – Der 2.XI.? wann ist denn in Tagen nichts passiert? ?

Ich schreibe bei Herrn Mündel und er will aufhören und so muss ich auch aufhören. Es ist ja auch gleich; es geht so immer weiter und im Grunde schreibe ich dir ja nur einen einzigen langen Brief und die Über= und Unterschriften sind nur Kommas darin. Sie sind auch gleich untereinander wie Kommas. Nichtwahr?

Immer gleich – Dein.

[10.11.18]

Liebes Gritli liebes Gritli, nachher schreibe ich dir noch richtig, aber ich muss dir gleich schreiben, was mir geschehen ist, mitten in diesem Zusammensturz. Ich war heut den ganzen Nachmittag mit Kähler zusammen und wir sind uns wieder nah gekommen, besser als früher; es ging die ganzen Tage schon, d’antico amor senti la gran potenza, und er wohl auch und heut war es so, dass wir uns an den Armen hatten und uns wieder mit Leib und Seele nah waren; es ist noch ein Anfang, aber die Wunde die ich noch immer offen an mir trug ist zugeheilt; wie immer ό τρωσας και ίασεται – die Wunde heilt der Speer nur der sie schlug. Und nun muss es jetzt oder später einmal weitergehn. Ich bin glücklich in dem grossen Unglück. Ich musste es jemandem sagen, ihm selbst konnte ich es ja nur halb und verworren sagen, und das Papier ist nun dumm, aber es geht zu dir und du löst die Buchstaben vom Papier und machst sie zu Worten und hörst sie in deinem Herzen, liebes Gritli.

Ich will nun sehen bald nach Kassel zu kommen; vielleicht kann ich Mutter doch etwas helfen in der nächsten Zeit. Diese Nacht hatte ich einen sonderbaren Traum. Vater hatte “Urlaub” vom Tod bekommen – so hiess es wirklich – , er war wie lebendig und es war ganz nett, eben wie im Urlaub, wo man doch weiss, wenn der Urlaub alle ist muss er wieder zurück. Er war wenig verändert, nur etwas dicklich geworden und manchmal wurde ihm sehr schwach und er musste sich setzen und in seinem Stuhl zurücklehnen. Er war mir böse, dass ich noch nicht in Kassel bei Mutter wäre und als ich zur Entschuldigung meine Arbeit anführte, an der ich schrieb, liess er es nicht gelten und sagte “Lass doch die Witzchen” (kurioserweise; ein Wort, das er so wenig gebrauchte wie ich selber “die Witzchen”). Und ich wollte ihm grad noch sagen, es handle sich um ein grosses Buch von ca 400 Seiten, nicht um ein kleines anum von 40, um ihn zu informieren. Aber ich kam nicht mehr dazu. Es war auch ein Traum, der einem den Tag über nachgeht.

Kählers Vater ist manchmal ans Fenster gegangen, hat hinausgestarrt und dann gesagt, mit leisem Schauder: “Das möchte ich nicht mehr erleben”. Damit meinte er den künftigen Krieg. – Als ihm Kähler einmal von deutscher Zukunft sprach, sagte er, er habe 1870 das bestimmte Gefühl gehabt, dass er den Kulminationspunkt seines Volkes erlebe.

Greda zu sehen ging ja nicht mehr; es gab noch gar keinen Urlaub wegen der Sperre. Aber ich hätte auch eine Scheu gehabt vor so einer quasi Besichtigung beiderseits. Wenn man sich besichtigt, kann man sich nicht sehen. Es ist besser, wir warten auf das “von selbst”. Man soll sich den leisen Schrecken des ersten Sehens nicht nehmen; er ist das Beste und enthält eigentlich das ganze Schicksal der Zukunft in sich. Und man zerstört sich ihn, wenn man sich verabredet. Weshalb empfinden wir eine auf Grund einer Zeitungsannonce zustandekommende Ehe als so greulich? Die Menschen können doch nett sein. Aber der Zauber des “Zufalls” ist der Begegnung geraubt. Dieser “Zufall” ist doch eben Gottes Stellvertreter. So ein Zufall war der Mittwoch vor 8 Tagen in der Universität.

Nach Säckingen komme ich ja nun nicht mehr, wo ich so bald hier fortkomme.

Die Hermann Michels werden ja nun demnächst auch blutig werden. Auch Robespierre hatte den “pazifistischen Zug um den Mund”.

Du schreibst vom Sonntag, der bleiben wird, auch wenn Europa versinkt. Ich war heut abend, als die Bedingungen heraus waren mit Kähler einen Augenblick im Münster, da sahen wir auch mit Augen, was vorher war, was nachher bleiben wird. Es gingen Menschen in dem Chorumgang hinter dem Gitter, mit Lichtern, und man hatte das Gefühl, sie gingen geschützt vor dem Einsturz der Welt hier einem ewigen Geschäfte, ihrem Geschäfte, nach. Was sind denn solche Dome anders als das steingewordene “Dennoch” gegen die Welt in der Welt. Vor den letzten Versen deines (und meines) 46ten (und ja auch Luthers, der heute, am Tag der Bedingungen, geboren ist, und Schiller auch) – vor diesen letzten Versen müsste doch Wilson ganz klein werden. Die Bedingung mit den Kriegsgefangenen ist die abgründige Gemeinheit. Hier darf man hassen. So etwas hätte der “preussische Militarismus” nicht ausgedacht; das hätte dem Rest ritterliches Tradition widersprochen, die doch noch in ihm lebendig war. — Ich habe dich lieb Gritli

Dein Franz.

11.XI.[18]

Liebes Gritli, doch ein paar Worte. Ich werde ja nun von hier fortgehn, ohne J.Cohn und ohne auch Kantorowiczs zu sehn; hoffentlich wissen sie nicht dass ich hier bin. Meine übrige Zeit, oder viel mehr die Zeit die ich mir freimache, gehört Kähler. Ich las deinen Brief wieder vom 2.XI.; da schreibst du von der Luft die über die gefallenen Grenzen hereinweht und die von Russland herübergreifende Bewegung. Ich kann nicht mit und ich wollte, Eugen könnte auch nicht mit. Die Bewegung ist eben doch nicht alles. Ich sehe vorläufig nur ein Gemeng aus Zwang und Unordnung, und das Hochkommen der Hermann Michels. Ich lerne nachträglich sogar mich nicht bloss als Deutschen, sondern –ganz neu – sogar mich als Preussen fühlen. Ich glaube, nach dieser Erfahrung werde ich nie wieder “Demokrat”. Es ist ebenso unmöglich wie Pazifizismus. In aller Zeit gilt Herrschaft und Krieg. Freiheit und Frieden liegen nur – jenseits. Zwischen allem hindurch hatte ich wohl auch das Gefühl des wieder = Luft = werdens (“dass wieder weiter werde unsre Welt”). Aber seit der Revolution nicht mehr. Denn nun ist doch auch das Innere eng zum Ersticken. Ich verstehe erst jetzt richtig, was Eugen vom Untergang der Universitäten sagt. Die “Kultur”, die unser war, wird noch zu unsern Lebzeiten untergehn wie etwa die ritterliche um 1500 (unter den ersten Drucken ist noch der Parcifal und Nibelungenhandschriften sind noch bis Ende des 15.scl. abgeschrieben. Schon Luther hat beides sicher nicht mehr gekannt. Ein Neues wird ja kommen. Aber es ist nicht unsres. Wie schon der kalte Revolutionsidealismus der jungen Dichter nicht mehr unser war. Es fehlt die Büchnersche Schlusswendung, das Vive le roi. Ich habe nie gern hurra gerufen, aber jetzt gäbe ich etwas darum, ich dürfte es noch einmal.

Ich bin traurig. Und ich wünschte, Eugen wäre es auch, und nichts andres. Es wäre ein Jammer, wenn er wieder zum Sachwalter der Breitscheidschen Ressentiments würde. Sei gut zu ihm – und zu mir.

Dein.

  1. und 13.11.[18]

Liebes Gritli, mir ist übel vor diesem ganzen Betrieb, ich bin ein einziges Vive le roi; ich grüsse die Offiziere, seit es verboten ist, mit wahrer Inbrunst. So ist es mir auch ein greulicher Gedanke, dass Eugen nun doch mittut und also mit einer roten Kokarde in irgend einem Büro sitzt. Ganz abgesehen davon, dass das was der Christ “Rosenstock” da tut, nachher beim nächsten (demokratischen oder monarchischen) Pogrom – und auf was soll eine Revolution in Deutschland schliesslich hinauslaufen wenn nicht auf eine Judenhetze; dies Volk, das immer gegen sich selbst wütet, hat den allgemeinen Sündenbock der Völker deswegen zur Ablenkung ganz besonders nötig – die Kassler Juden büssen müssen. Die doch wirklich nichts dafür können. Aber überhaupt, wenn die Krone wirklich das “Volkssanktuarium” war, wie er mir voriges Jahr schrieb, dann ist nun wo dies Palladium entwendet ist, für die die dran geglaubt haben, keine Möglichkeit mitzutun. Ihren Gang geht die Bewegung von selber weiter, ob man mittut oder nicht. Solange zu essen da ist, friedlich. Nachher wenns aufgebraucht ist, mit Mord und Totschlag. Wie ist ihm denn bei der Vorstellung von Liebknecht auf dem Schlossbalkon zumute? Parteien kennt der ja allerdings auch nicht, nämlich nur seine eigne. Über Burfeldes und Paasches (und auch Liebknechts) Befreiung habe ich mich gefreut; dass aber mein politisches Schicksal jetzt in die Hand solcher Dümmlinge gelegt ist, ist doch nicht sehr beruhigend. Sonst weiss man doch nicht, was für Esel über einem walten, in diesem Fall sind es aber drei öffentlich kompromittierte Naivusse und Pacificusse, die man schon kennt. Dass die Politik die zum Kriege führte, unglücklich geendet hat, ändert nichts daran, dass sie die einzig richtige war. Hier hörte ich heut einen (gutgekleideten) alten Herrn zu einem andern sagen: “Unsre Regierung hätte 1914 sagen sollen: Wir führen grundsätzlich keine Kriege; nehmt euch, was ihr wollt”. – Das ist eigentlich die ganze Weisheit der neuen Männer.

Was schreibe ich dir denn das alles? Übrigens noch etwas. Wie eng die Grenzen geworden sind, wird man in den nächsten Jahrzehnten merken; es wird eine ungeheuer giftige Zeit werden, weil man so eng aufeinanderhockt wie im Unterstand oder U=Boot. (Und auch die guten Sitten werden wie dort verloren gehn).- Ich hätte vorgestern “desertieren” können, wenn ich rasch entschlossen gewesen wäre und 8 Tage Bahnfahrt ohne Verpflegungssicherheit nicht gescheut hätte. Aber weisst du, ich habe vor Kassel Angst, obwohl ihr da seid, nämlich vor Mutter. Ich bleibe ganz gern noch ein paar Tage hier und mache wenigstens II 2 (morgen oder übermorgen) fertig und fange II 3 vielleicht noch an. Denn ich fürchte Mutter wird mir schrecklich zusetzen, teils indem sie ausdrücklich auf meine Arbeits[leistung?] mit Betonung “verzichtet” – und das ist doch greulich, wenn man weiss: da sitzt jemand und verzichtet dir zu Liebe jetzt darauf dass du bei ihm sitzt – und teils auch wegen des Radaus, den es giebt, wenn ich mal nicht zum Essen komme, oder Nachts aufbleibe. Aber ich komme natürlich nach Kassel, nur ists mir nicht eilig, (solange ich weiss dass ihr da seid). Übrigens wird sich alles von selber abwickeln. Dadurch dass ich noch einige Tage hier bin, Kähler aber schon übermorgen fährt, werde ich nun doch auch zu J.Cohn kommen, und anstandshalber dann auch zu Kantorowicz, vor dem es mich jetzt besonders graut; ich hatte schon an Höniger neulich genug.

Du spürst keine Begeisterung für die Berliner Gegenrevolution? Ich doch. Sie haben sich doch mit Bewusstsein für eine hoffnungslose Sache geopfert. Das ist gross, viel schwerer als der Tod im Krieg. Weisst du übrigens was das eigentliche furchtbare Merkmal unsrer Niederlage ist? (wie leicht mir jetzt das “Wir” in Bezug auf Deutschland von den Lippen geht! 5 Jahre lang habe ich nur in der dritten Person von ihm gesprochen, erst jetzt fühle ich mich ihm wieder zugehörig – “und wies Pferd konnte, sturbs”) also dies: alle unsre Gefallenen sind fehlgefallen. Und nun kriechen die Refraktäre[?] aus ihren Schweizer Löchern, sagen: wir leben noch und setzen sich als die wahren Jakobs ans Steuerruder. Patroklos ist gefallen, 10000fach, und nun kehrt Thersitis zurück. Geht dir nicht auch das “Siegesfest”, das Schillersche, im Kopf herum? Ich schrieb gestern Kähler in den Wiltfeber, den ich ihm schenkte, “Ajas fiel durch Ajas Kraft”.

Rudis Brief schicke ich dir bald; ich will ihn erst nochmal lesen.

Am Stern arbeite ich, solange ich arbeite in Vergessenheit des Draussen; aber zwischendurch denke ich kaum an ihn; sodass ich mich immer erst hineinfinden muss. Dies Buch wird aber doch ein dolles Stück; das vorige ist bösartig schwer, dieses ist eigentlich ganz leicht, aber trotzdem wäre es für die meisten siebenfach versiegelt, und alle Siegel lösten sich wohl nur dir.

13.XI.[18]

Gestern Abend war es zum ersten Mal wieder hell auf den Strassen. Ich trau[r]e der Dunkelheit hier nicht nach; ich kannte Freiburg zu genau, um rein sehen zu können; ich wusste zu viel.

Du (oder wohl Eugen durch deinen Mund) also du hast ja durchaus recht, dass das eigentlich Furchtbarste, der “Notenwechsel mit Wilson” und die zu diesem Pfeifetanzen gebildete Regierung jetzt überwunden ist. Sie haben draussen jetzt wieder Angst vor uns. Unser besiegtester Monat war der Oktober. Und das, ich meine diese Veränderung zum Besseren, haben mit ihrem Russisch (Russisch, weisst du Aljoscha, nicht wie ein europäisches Pensionsmädchen!) die Bolschewisten getan. Aber wie ist mir denn, dass nun ich, der ich seit Jahren Russland und immer wieder Russland profezeie und während des ganzen Kriegs von Anfang an Mr. Chauvin, wo er mir begegnete (z.B. “Tante Paula”) brusquiert habe, indem ich ihm sagte, was wahr war: dass für mich persönlich die Russen seit Jahren, oder vielmehr nicht die Russen sondern der, Dostojewski unendlich viel mehr bedeuteten als Goethe et hoc genus omne – dass nun wo meine Profezeiung eintritt, ich nun plötzlich nicht mitkann, sondern in der “Nanie” mit Eugen zu reden, stecken bleibe.??? Vielleicht fehlt es mir, dass ich weder Breitscheid noch Burfelde kenne. Oder doch einfach, dass zwar in meinen entscheidenden Jahren (die mich ent = schieden) es die Russen waren, aber in den grundlegenden zuvor doch “die Griechen” und ihre Statthalter auf Erden, die Deutschen von 1800.

I ken not help it – ach, und England! Was für ein pêle- mêle der Sprachen, ein rechtes Babel.

Ich krieche bei deiner Stummheit unter, einen Augenblick – und einen stummen Augen = blick,liebes Gritli,

— Dein Franz.

13.XI.[18]

Liebes Gritli, morgen werde ich wohl mit II 2 fertig; die Kunstlehre läuft mir so auseinander, obwohl sie mich eigentlich gar nicht interessiert und ich ein etwas schlechtes Gewissen habe, dass ich so ausführlich darin werde. Andrerseits ist sie ja ganz gut als ein weltliches Intermezzo in diesem sonst rein geist= und sinnlichen Buch II 2. Wenn ich es nun fertig habe, bin ich etwas mehr fähig nach Kassel zu fahren. So am Anfang eines neuen Abschnitts geht es immer besser als am Ende; da kann man sich die Arbeit auch eher einteilen; gegen Ende hat sie immer ihre eigene Geschwindigkeit, die zunimmt wie beim Fall. – München muss bleiben falls nur das Hochland und – das bayr. Zentrum die jetzigen Ereignisse überleben. Ich glaube etwas an eine süddeutsche Gegenrevolution. Wenn sie von Baden ausginge – was für eine “Raumgleichung” zu 1849! damals NO gegen SW, jetzt umgekehrt; es ist doch sonderbar, dass der Grossherzog noch da ist. Was dabei herauskäme, wäre freilich, da es nur mit französ. Hülfe gelingen könnte, ein Rheinbund, kein deutsches Reich. Aber wer denkt auch noch an so antiquierte Gegenstände wie das Dt.Reich. Nur “Ghibellinen” – und selbst die sitzen in Soldatenräten.

In Rudis Brief hat mich die Stelle über meinen Brief von vorigem Jahr frappiert. Ich hätte nämlich den Inhalt nicht mit einem Wort angeben können, er ist aber vollkommen richtig so, und passt auch vollständig auf das aus jener Keimzelle hervorgewachsene bzw. = wachsende grosse Gewächs. “eine Tatsache, ein Grund wie die Schöpfung es ist” – ich wusste gar nicht mehr, dass das schon damals in meinen Brief so gestanden haben muss. Der ganze * geht ja wirklich nur um den einen Begriff der Tatsächlichkeit. Die Tatsache, das factum erst befreit einen von der blossen visio, zu deutsch ιδεα – Idee. Wenn ich das was ich und Eugen und … und … und …….wollen, mit einem ismus reimen wollte, so wäre es “Faktizismus”. Aber “Gott sei Dank” giebt es ja dafür das deutsche Wort Glauben. Für Idealismus kann man eben nicht “Glauben” sagen.

Mir ist erst aus Rudis Brief, und dann ja allerdings auch aus Eugens an mich, klar geworden, wie sehr er sich weiter dem Katholischen nähert. Ihm könnte ich ja nicht darüber schreiben, so wenig wie er mir sans phrase darüber schreiben könnte. Mir sind ja an sich die beiden Konfessionen gleichwert; vielleicht hat mir “Volksst. u. R.G.” grade deshalb keinen solchen Eindruck gemacht, weil ich das Verhältnis von Katholisch und Protestantisch längst so sah, wenn auch mit anderer Begründung. Ich sehe die Frage nur in Bezug auf Eugen. Und da wünschte ich, ihm bliebe dieser Ruck erspart mit all den inneren Verhärtungen, Masken und Zwängen, die er ihm (nicht weil zum Katholischen, sondern als Ruck überhaupt) auferlegt. Sieh einmal: im Grunde will Eugen doch nur mehr Tradition, mehr Selbstverständlichkeit, mehr “Tatsächlichkeit” um sich spüren als er im Protestantismus gefunden hat; und das meint er nun im Katholizismus zu finden. Aber in Wahrheit findet ers da auch nicht (die beiden Kirchen sind ja gleich alt – Paulus und Petrus! denk an die Essgeschichte in der Ap.Gesch.). Er kann es nirgends finden. Das findet man nur, wenn man es nicht sucht, sondern hat. Wäre er Jude geblieben, so würde ers gefunden haben. Nun er Christ geworden ist, müsste er in der Konsequenz dieses Schrittes bleiben, d.h.: da er nie traditionsgebundener Binnenchrist werden kann, freier, nur auf seinem Sattel geltender Grenzerchrist werden. Grade in seiner Freiheit, in seiner Ich=E.R.=heit wirkt er und ist er echt. Je dogmatischer er, in Religion wie in Politik, auftritt um so – unechter wirkt (und ohne es zu wissen auch: ist er). Wird er wirklich formell katholisch, so muss er sich auf soviele Hinterbeine setzen, wie er nicht hat; er hat auch nur zwei wie jeder Mensch. – Bei Rudi liegt die Sache durch seine Ehe anders. Und vor allem wäre es bei ihm das erste Mal. Einmal umziehn, das kann jedem passieren und jeder überstehts.

Aber “zweimal umgezogen ist einmal abgebrannt”, das Spruchwort gilt auch im Geistig= und Geistlichen. Nun habe ich mir etwas, was mir dumpf drinnen brummte, ins Freie geschrieben. Es leuchtet mir selber ein.

Gute Nacht – –

Gute Nacht. Dein.

14.XI.[18]

Liebes Gritli, es ist drollig, mit was für einem vergesslichen Kopf ich den * schreibe; ich kenne eigentlich immer nur die Partie, die ich grade schreibe; und dennoch geht alles zusammen, und ohne klares Bewusstsein davon mache ich fortwährend die nötigen Vor= und Zurückweisungen. Das Buch schreibt sich eigentlich selbst; so rund war die erste Konzeption; ich selber bin nur der jeweils für das Tagespensum beauftragte Mandator. Es ist ja das was ich dir gestern schrieb: dass mir erst an Rudis Inhaltsangabe meines Briefs von jetzt vor einem Jahr mein “ismus” aufgegangen ist.

Liebes Gritli, ich bin heut morgen so vergnügt, dass ich beinahe mit II 2 fertig bin, dass ich vor lauter Vergnügtsein – nicht fertig werde. Ich muss mich heut aus Brotmangel in der Kaserne melden und werde dann wohl in den nächsten Tagen Wachen u. dergl. Dienst machen müssen. Ich will aber noch auf jeden Fall bis Sonntag mindestens hier bleiben (und bis dahin wird sich wohl die Heimatsbeurlaubung der Preussen geklärt haben und sonst fahre ich in einem Kantorowiczschen Rock) nämlich ich will es jetzt so machen, dass die nächsten Abende Herr Mündel bloss unter meiner konsultierenden Assistenz den Text für sich durchliest, damit er ihn nachher in Ruhe schreiben kann. Auf die Weise kriege ich dann auch II 2 in Reinschrift, und das möchte ich sehr gern.

Mutter schreibt, dass du im Haus “angestellt” bist. Daher war wohl kein Brief von dir dabei. Ich bin froh, dass Eugen nach München fährt statt nach Berlin.

Liebe, liebe – ich werde nie wieder etwas schreiben wie dieses Buch II 2

—————–

Morgen früh werde ich wohl fertig.

Dein Franz.

15.XI.[18]

Liebes Gritli, II 2 ist fertig. Dann ging ich auf die Bibliothek, um etwas nachzusehn und einen kleinen gelehrten Knalleffekt hineinzusetzen (nämlich, dass das Wort “Ich” – frz. “Moi”, nicht “Je” – im Hohen Lied häufiger vorkommt als in irgend einem andern biblischen Buch). Danach ging ich zur Belohnung auf den Zeitschriftensaal und fand auch gleich 2 interessante Hefte, 1.) den Logos, wo sich Cassierer ausführlich mit “Franz Rosenzweig”s Schellingianum auseinandersetzt; gelesen habe ich den Artikel noch nicht und 2.) das Hochland mit Eugens Wilsoniade, die ich jetzt natürlich mit offeneren Augen gelesen habe als im August. Die Änderungen gegen den Schluss hin sind sehr gut. Überhaupt das Ganze.

Also: und nun geht der Abtransport plötzlich so schnell, dass ich wohl nur eben noch mit dem gemeinsamen Durchlesen des Texts mit Herrn M. fertig werde. Ich melde mich erst morgen wieder in der Kaserne, damit ich erst Sonntag Abend fortkomme. Bis dahin wird es dann mit einiger Hetze schon gehen. Also Montag oder Dienstag bin ich dann in Kassel. Und dann muss ich eben sehen wie ichs mir einrichte, ev. auch mit Frühaufstehen.

Dass Eugen meine in contumaciam erteilten Ratschläge ahnungsvoll befolgt hat und nach München gefahren ist, statt nach Berlin, freut mich sehr. Warum auch sich partout auf den Kopf stellen. München ist doch das Natürliche. Er wird sicher in high spirits zurückkommen. Aber siehst du, schon seine kurze Tätigkeit im Kasseler Soldatenrat hat genügt, dass sein Name ins Volksblatt und damit in das Gedächtnis aller Kasseler politisch interessierten Leute gekommen ist und natürlich nicht als “Eugen Rosenstock”, sondern als “so ein Dr. Rosenstein oder Rosenzweig oder =feld – na Sie wissen schon”. So geht es nun einmal.

Es ist mit Kähler nur ein Anfang, allerdings ein merk = würdig notwendiger (diesmal wirklich mit deinem Bindestrich), aber kein leichter. Er glaubt noch an “Ansichten” und freut sich dass wir gleiche haben, und das ist ja gar nicht wahr. Am liebsten nähme ich ihn einfach beim Schopf, den er NB gar nicht hat. – Liebe, II 2 ist so schön. Ich freue mich auf die Stunden im grünen Zimmer, wo ich dir die Hauptstücke vorlesen werde. Diesmal zuerst nur dir allein. Da ichs hier lasse zum Abschreiben, kann es allerdings noch Wochen dauern. Eigentlich kennst du es freilich schon, es steht wohl ebensoviel von dir drin wie von mir.

Guten Abend – und nun bald auf Wiedersehn –

liebes liebes Gritli

Dein

16.XI.[18]

Liebes Gritli, heut kam mit dem neuesten Brief der eine Woche ältere aus der Rotlaubstrasse. Er war aber gar nicht veraltet. Du fragst ja auch grade nach dem Brief diesmal. – Es geht mir auch so: ich fürchte mich vor Kassel, aber doch beinahe weniger mit euch als wenn ihr nicht da seid. So und so wird es den ganzen Tag heissen: Franz du musst heute und dies und das. Mit Mutter zusammenschlafen, keinesfalls. Ich ziehe auf jeden Fall in mein Zimmer und schlafe auf dem Sopha. Will sie es beziehen, gut, wenn nicht, auch gut. Das Bett unten benutze ich einfach nicht; das giebt eine Nacht Lamento und dann giebt sie nach. Übrigens ist es auch besser, die Einquartierten haben das Gefühl, dass jemand von der Familie auf ihrem Stockwerk schläft. Sonst fühlen sie sich zusehr Herren der Situation. – Etwas wollen wir aber doch ruhig zu vieren zusammen sein; es wird natürlich Scheusslichkeiten geben; aber die schlimmste, (die mir sonst immer passiert), dass man sich vorher darauf gefreut hat und nachher enttäuscht ist – die ist diesmal wenigstens nicht möglich. Wir wollen uns unter uns dreien sagen, das wir gar nicht darauf rechnen, viel miteinander zu sein und jede gute Stunde, die dann doch kommt, als reines Geschenk betrachten. Ein chassez = croisez Kassel = Oberrhein wäre doch zu betrüblich. Ausserdem muss ich auch mit Eugen speziell einmal zusammensein; ich war ihm in seinen beiden letzten politischen Fiebern, dem vom Herbst 17 und diesem jetzt, fern; und das geht nicht. Es ist wohl möglich, dass ich wütig geschrieben habe – ich weiss es nicht mehr – , aber wie kann man ruhig bleiben, wenn man sieht, wie er sich nun schon zum zweiten Mal mit dieser Gesellschaft einlässt, ohne doch zu ihr gehören zu wollen. Das kann nie gut werden, wie alles was man nur mit halbem oder Viertelsherzen tut. Ja freilich geht “katholisch” (“katholisch” nämlich, – katholisch ohne “” sehr wohl, wie sich schon bald zeigen wird; denn katholisch ohne “” ist weiter nichts wie eine Macht und die kann mit allen Königen und Präsidenten und Räten der Erde huren) also “katholisch” und bolschewistisch, nicht zusammen; grade um der Freiheit zum Und willen, die im Christlichen liegt, wünschte ich so sehr, er bliebe Christ und (und!) “katholisch”, und würde nicht Kathol = ik.

Es ist grauenhaft wahr, dass unsre ganze Generation jetzt einfach zum alten Eisen geworfen ist (ich sagte eben zu J.Cohn, den ich heut Morgen nun endlich besuchte: “wie Ihre” – so im Ton einer Selbstverständlichkeit, worauf er mich verwundert anguckte). Es war im Grunde schon vorher so. Die 20 jährigen haben gleichzeitig mit den 30 jährigen ihre ersten Bücher gedruckt: das war die Signatur von 1914. Die 10 Jahre die wir still waren, haben uns den Zusammenhang mit der Zeit gekostet; die Revolution drückt nur das Siegel darunter. Nun bleibt uns nichts als das Zeitlose. Pichts Worte haben ihn mir näher gebracht als er mir bisher war. Er sieht den gleichen Welt = Untergang wie wir und weiss doch auch dass es nicht das Welt = Ende ist. Zum Sichnahefühlen gehört ja mehr als das Wissen um das gleiche Verhältnis zum lieben Gott; es gehört ein Stück gemeinsame Welt dazu, und das hatte ich noch nie bei ihm gespürt, bis auf diesen Satz. “Und wies Pferd konnte, sturbs” – wie die gemeinsame Welt da war, da war sie kaputt. Er weiss das “Nie wieder” dieser Welt und rechnet nicht wie der gute J.Cohn mit “10 Jahren in der Oppositon”.

Und zu alledem das deutsche Volk, fröhlich wie Herr Sauerbrod bei Busch:

Heissa, sagte Sauerbrod,

Heissa, meine Frau ist tot.

Ist etwa Buschs Knopp = Trilogie auch ein Gleichnis auf das deutsche Volk?

Aber das deutsche Volk – giebt es jetzt nicht, aus dem einfachen Grund weil es es nie gegeben hat. Die ganze Bismarcksche Schöpfung war ein Stahlhelm, der ihm auf den Kopf gesetzt war; hätte er es geschützt, so wäre es wohl allmählich so dran gewohnt worden, dass es ihn nicht mehr hätte absetzen mögen, so aber warf er das schwere Ding mit Heissa in die Ecke. 1871 hätte sich 1914-18 bewähren müssen, an sich war es nur eine künstliche Bildung. Bismarcks Deutschland war nicht der Kern des zukünftigen Reichs, der auf jeden Fall bestehen bleiben musste, sondern ein Wechsel auf dies zukünftige Reich, der nun, da dies falliert hat, ein wertloses scrap of paper geworden ist.

Also ich bleibe nun noch diese Woche hier. Als Kähler mir es vorschlug, heut Mittag, nachdem ich am Morgen deinen Brief bekommen hatte, kam es mir so klar vor, dass ich glatt Ja sagte. Jetzt tut es mir doch beinahe mehr leid; ist es nicht doch besser, sich unter ekligen Umständen zu sehn, als gar nicht? ich habe rechte Sehnsucht nach dir. Vielleicht wirds morgen besser, wenn ich in II 3 hineinsteige. Denn dann weiss ich doch warum ich noch hier bin. J.Cohn allein hätte mich nicht gehalten; er ist fein aber klein. Wohnen tun sie ja wieder prachtvoll. Ich habe mich übrigens schlecht benommen; ich habe noch nicht wieder das Gefühl für die zivile Akustik. Als er Kantorowicz “unsern Freund” nannte, habe ich ganz greulich geschimpft.

Aber ihr seid doch sicher in einer Woche noch da? Sonst würde ich hier alles auf den Kopf stellen um doch noch zu fahren; einen Urlaubschein müsste mir dann der Abteilungsadjutant ausstellen. Mein Leben hier beruht ja auf Nichtexistenz in den Akten (dem sog. “Rapport”); aber zum Eisenbahnfahren und vor allem wegen der Verpflegung in Kassel muss man existieren. Länger wie eine Woche bleibe ich ja keinesfalls. Und vielleicht macht es auf Mutter sogar einen gewissen Eindruck, dass ich nicht komme trotz des Magneten …[Zeichnung] den sie aufgehängt hat; daraus sieht sie doch, dass die Arbeit mir wichtig ist.

Ja die “Arbeit”. II 3 ist mir immer noch ziemlich dunkel. Aber II 2 ist schön geworden, eine ganze Kette von Lichtern, die einem aufgehen; es scheint mir übrigens doch länger zu sein als II 1.

Nein Gritli, den Traum kann uns keine “rauhe Wirklichkeit” nehmen; ich spüre es, wie er in mir weiterlebt, als wäre es kein Traum, sondern ein Stück von mir. Und ist es das nicht auch? Ich lebe davon. Und überhaupt von dir. Alle Worte sind dumm und stumm.

Nimm mich an dein Herz ——

17.XI.[18]

Liebes Gritli, einen Tag kriege ich nur Post von dir, einen Tag von Mutter – geh du zur Linken und du zur Rechten – was soll Feindschaft sein zwischen meinen Briefen und deinen Briefen.  Heut nur von Mutter. – Ich bin antelefonabel, für etwa eilige Fälle. Nr.362. Heut Abend gehe ich nochmal zu Cohn; ich fürchte mich vor meinem eigenen Benehmen. Mit II 3 war es nur ein sachtes Anfangen heute, aber immer doch ein Anfangen; ich schreibe ja am ersten Tag immer nur wenig.

Heut um 11 zogen Freiburger Truppen ein, mit Musik. Es war ganz furchtbar, nicht das einzelne, nicht das was man wirklich sah; aber es sprang einem so ins Gefühl, wie das hätte werden müssen und wie es nun geworden ist. Was man so sieht, ist immer noch viel umreissender als was man weiss. Ich verkroch mich in einen finstern Hausflur, vor dem ich grade stand, und habe geheult, bis sie vorüber waren. Dann frass ich im Automatenrestaurant vier Lebkuchen und dann war ich wieder einigermassen in Form, ging ins Hotel und schrieb den Anfang von II 3. Nachmittags war ich wieder wie immer mit Kähler. Er hat jetzt Eugens Amerika gelesen und starken Eindruck davon. Gegen das InderNaturnichtvorkommen der Kreuzform führte er die sich kreuzenden Spuren an. Aber das sponte se movere der Tiere ist ja wirklich schon der Bruch mit der Natur.

Ich lebe doch nun wieder wirklich in Freiburg und suche nach und nach wieder die alten Orte und Wege auf, und begegne mir überall, doch eigentlich wie einem Fremden. Das Ende mit Kähler damals und der Weggang von Freiburg war wirklich Ende und Weggang.Und so ist es ganz wirklich und wahrhaftig, dass ich mich jetzt mit Kähler grade in Freiburg wiederfinden musste.

Ich bin gern hier; aber es gehört doch dazu, dass diese Tage nur ein Aufschub sind. Ich möchte dich einfach wieder sehen und mit dir im gleichen Zimmer sein – du brauchst gar nichts zu sprechen. In einer Woche also. So kann es ja gar nicht verdorben werden. Denk doch, es ist uns noch nie verdorben. Und mit Mutter ist es ja ganz gleich; sie ist eifersüchtig, wenn ich allein da bin und du mit da bist,und wenn du allein da bist.

Hier ist so ein reizender alter Herr, der im Geist gegen 1/2 11 immer sein Viertel trinkt und ein Frühstücksbrot dazu isst. Als ihm heut jemand sagte, dass nur wir die Gefangenen herausgeben müssten, meinte er: “Aber das hätte man doch nicht bewilligen sollen” (mit dem Ton auf dem “bewilligen”). Und nachher: wir sind doch nicht besiegt, wir ziehen uns doch bloss zurück. – Ist Deutschland nicht rührend? Die Süddtsch. Monatshefte schrieben, noch vor dem Sturz, die Deutschen meinten, beim Abschluss müssten ihnen ihre früheren Siege angerechnet werden wie einem Schüler, der am Ende des Vierteljahrs einmal ein Extemporale verbaut hat, die früheren guten. Diese schüler= und lehrerhafte Auffassung des grauenhaft unschulmässigen Lebens ist ja auch Militarismus. Dem Militarismus ist ja auch wohler auf dem Kasernenhof als im Feld.

Kähler kannte Breitscheid aus seiner Freiburger Zeit von vor 10 Jahren und hatte üble Erinnerungen an ihn!

Hier (und anderswo auch) nimmt jetzt das Zentrum den Kampf auf. Eugens Reise nach München statt [doppelt unterstr.] nach Berlin wird ein Symbol für ihn werden. – Aber ich will wirklich noch vor dem Essen rasch an den * gehn. “Bis nachher”, hätte ich beinahe gesagt, aber ich schreibe ja nur und so muss es wohl heissen: “bis morgen”.

Aber ohne “nachher” und ohne “morgen”

Dein.

18.XI.[18]

O weh, also habe ich dir heut früh ein leeres Couvert geschickt. Eben fand ich bei Herrn Mündel den liegengebliebenen Inhalt.

Ich bin jetzt drin in II 3. Da ich die Woche noch hier bleibe (trotz des greulichen Gesprächs heut mittag mit Mutter), so wird vielleicht auch die Reinschrift von II 2 noch fertig und ich kann sie schon mitbringen. Also und Jonas Cohn gestern Abend. Sehr angenehm ruhig, sehr klug – und natürlich ganz unmöglich jetzt, obwohl eine gesunde Kur. Er sieht alles was jetzt geschieht als Sache von “Jahrzehnten” an. Den “Imperialismus” hat er immer abgelehnt; es ist die grosse Schuld des Judentums, den Gedanken des auserwählten Volks aufgebracht zu haben “worüber Sie natürlich anders denken werden”. Ich dachte aber gar nicht anders, sondern meinte bei mir, dieser Zusammenhang von heidnischem Nationalismus und Ärger über das Judentum wäre ein so shönes Schulbeispiel, dass ichs gar nicht anders wünschte. Im übrigen war ich sehr laut, – und ausserdem: es war das erste Mal, dass ich seit dem * (den ich übrigens hier jetzt auch auf der Burse und noch einer dritten Wirtschaft entdeckt habe) einen gelernten Philosophen sah. Ich hatte so gar keinen Respekt mehr. Heut habe ich mir Husserl angehört, den ich noch nicht kannte.

Wieder ein Philosoph weniger.

November 2 1918

19.XI.[18]

Liebes Gritli, ich wurde gestern Abend noch nicht mit Schreiben fertig, aber ich schickte den Brief doch ab, weil ja auch der Nachzügler hinter dem leeren couvert noch mitmusste. Nun kam heut früh dein Brief vom Freitag. Ich muss dir gleich antworten; es bedrückt mich, ich kann ihn nicht bis zum Abend unbeantwortet lassen. Ich muss dir sehr schlimm über Eugen geschrieben haben, ich weiss wirklich nicht mehr, was, aber ich merke es ja aus dir. Ich bin mir aber bewusst, heute nicht anders darüber zu denken als damals und damals nicht anders als heute. Das “Tu was dir unter die Hände kommt” – wer weiss das besser als ich. Mein ganzes Leben steht ja unter diesem Gedanken, dass die nächste Pflicht zwar nicht die höchste ist, aber der höchsten vorgeht, und dass man der höchsten nur dann leben darf, wenn sie zugleich die nächste geworden ist. Das ist meine ganze Moral in nuce, obwohl ichs hier mir selber wohl zum ersten Mal bewusst formuliere.

Aber z.B. dem Krieg gegenüber habe ich so gehandelt. Also das verstehe ich durchaus. Nur die Anwendung, die Eugen daraus auf sich machte, die bekämpfe ich. Und zwar aus dem einfachen Grunde, aus dem ich die ganze Breitscheidiade 1917 auch schon verabscheut habe: weil sie gar nicht aus Eugen kam, sondern Eugen hat sich damals von Breitscheid einfach fangen lassen. Breitscheid musste sehen, dass Eugen nicht sein Mann war, aber er war als Politikus skrupellos genug, Eugens Kraft zu sich hinüberziehn zu wollen. Die Seele, – was so ein Politiker unter Seele versteht – würde schon nachfolgen; erst sollte er ihnen nur mal seinen Leib verkaufen (indem er sich für die Unabhängigen kompromittierte). Hatte man ihn einmal so erst in seinem bisherigen Dasein unmöglich gemacht, dann würde der so Gebrochene und Zerbrochene schon, durch Ressentiment etc. was dann ja immer entsteht, auch “innerlich” ihr Mann werden. So empfand ich Breitscheid damals, und so auch jetzt. Und wie mir Kähler ihn beschrieb, das passte auch dazu. Und dass er damals zugelassen hat, dass Eugen sich beim AOK so für ihn verwandte, auch. – Dass wir alle, obwohl wir “…nie vergessen werden”, einmal unsern innern Frieden mit den neuen Zuständen schliessen werden, wenn wir leben, war mir vom ersten Augenblick an selbstverständlich. Dass er in Kassel mittat, war mir nicht aufregend, viel mehr das, dass er in Berlin mittun wollte und sich Vorwürfe machte, nicht mitgetan zu haben. Kassel habe ich mehr tragikomischempfunden, weil ich da ja nur die sichere Erfolglosigkeit und den einzigen ganz verqueren Erfolg den es haben würde (den antisemitischen) voraussah. Denn “mitarbeiten” können grade im Augenblick nur die richtigen feigen Bürgerlichen, die aus Angst um ihr bischen “Leben und Eigentum” – was diese beiden Worte plötzlich wieder für eine Bedeutung kriegen! sie sind ganz an die Stelle getreten, die 4 Jahre lang das Wort

“Vaterland” in den öffentlichen Äusserungen eingenommen hatte – also die Bürgerlichen können mitmachen, um durch ihre Arbeit und durch ihre Unentbehrlichkeit die “Bewegung in ruhige Bahnen zu lenken”. Für die Eugens aber ist jetzt noch nicht die Zeit. Das Volk kann jetzt noch keinen Verstand der Verständigen brauchen. Es braucht vorerst weiter nichts als Prügel, nämlich den Schaden durch den es klug wird. Es kennt den Krieg, die Revolution aber kennt es noch nicht und den Bürgerkrieg (mit fremdem Einmarsch) kennt es auch noch nicht. Es ist noch in himmelblauer Seligkeit. So muss es erst einmal durch die Hölle hindurch. Wer es liebt wie Eugen, der ja nicht “Mitleid mit ihm” hat, darf ihm das nicht ersparen wollen; nur wer es hasst und fürchtet wie die Bürgerlichen (und wie “das Bürgerliche” auch in uns es hasst und fürchtet), der darf freilich “ihm”, d.h. ehrlich gesprochen: sich selber, die “Schrecken des Bürgerkriegs ersparen” wollen. Nein, jetzt heisst es grade aus gehen und grade aus laufen lassen, das “Gehen” für einen selber und das “Laufen lassen” für die Dinge. Es ist keine russische Revolution, trotz der russischen Formen und Einflüsse; es ist vorläufig eine “Dienstboten = (Lakaien, Kellner, Frisörs, Trinkgeldempfänger kurzum “deutsche” – in Anführungs-strichen “deutsche”) Revolution. Einfach die Antwort auf die Überbelastung der Volksseele im Kriege. Das muss sich erst ausgetobt, wirklich aus = getobt haben. Dann, wenn Krieg und Revolution erst ausgeschwitzt sind, dann kann das deutsche Volk, – was nun davon übrig ist -, wieder “in Form kommen”. Das giebt dann die deutsche Revolution ohne Anführungsstriche. Und dann ist Zeit für Eugen. Aber bis dahin darf er dann sich nicht verschleudert haben, sondern muss bei der Stange seiner besten und innersten Überzeugung geblieben sein. Was dann kommt, kann ebenso deutsch sein, wie die russische Revolution russisch war, also ohne Anführungsstriche. Dann können auch erst die wirklichen Einflüsse Russlands in Kraft treten. Aber erst muss die Erfahrung gemacht werden. Es handelt sich gar nicht um lange, vielleicht um 2-3 Jahre, wenn es hochkommt. Meinst du wirklich, ich wüsste nicht, was Russland ist? Ich habe die Gleichung Bolschewiki = Dostojewski von Anfang an geglaubt. Aber Dostojewski ist der Schöpfungsgrund, auf dem eine echte Revolution sich offenbaren kann; der deutsche Krieg ist keine solche “Weissagung”; wenigstens keine auf die jetzt zunächst einmal durchzumachende, die Dienstboten = Revolution; die ist bloss eine Folge des Kriegs. Die eigentliche Revolution muss erst kommen, und auf die ist dann der Krieg und das was dem Krieg vorausging, “Weissagung”. Es heisst jetzt warten, und nicht das Himmelreich mit Gewalt einnehmen wollen. Der Tag wird kommen.

Deshalb, deshalb, deshalb – München, Karl Muth, Hochland. Die Entscheidung: nicht Berlin sondern München – ich schrieb dir ja schon – gilt mir ganz symbolisch. Er hat also schon gewählt, wie er wählen musste. Ich bin ganz sicher, wie der Besuch bei Muth verlaufen ist und auf ihn gewirkt hat. Wenn mein Brief damals wirklich so wüst war – denk doch bitte: ich sitze doch auch im Trauerhaus und da sehe ich wie einer kommt und Eugen herausholen will und ihm sagt: aber den Flor dürfen sie nicht tragen, wenn Sie mit mir auf die Strasse gehn wollen. Das Gleichnis ist dumm, aber die Sache musst du verstehn. Und du musst nun Eugen meinen Brief von damals vorlesen, grade die Stellen, die so wüst gewesen sein müssen. Wir müssen so offen miteinander leben können. Es muss gehen, und ich bin nun nicht mehr bedrückt unter deinem Brief von heut morgen und über das “Bleibe” das so anders klang wie sonst. Ich kann gar nicht anders als dir bleiben. Das ist über alle Imperative. Das ist eine “Tatsache”, ein Sein auf dem Grunde meines Seins, eine Wirklichkeit im Herzen meiner Wirklichkeit, ein ganz stehendes “Ich bin”.

Ich bin Dein.

19.XI.[18]

Liebes Gritli, vorweg eine Frage, auch, und vor allem, an Eugen: Soll es heissen:

Die Elemente                                                                      Die Bahn

oder                                                                    oder

die immerwährende Vorwelt                                    die allzeiterneuerte Welt

Die Gestalt

oder

die ewige Überwelt

Mir kommt es vor, als ob durch diese Einfügung der drei Welten (die mittlere müsste eigentlich Mit= und Umwelt heissen; weil das aber zu schwerfällig ist, darum einfach Welt) man sich mehr dabei denken kann als bei den blossen Zeitbestimmungen “immerwähr.” “allz.ern.” “ew.” – Ich war doch froh, dass Mutter heute am Telefon wieder vernünftig war; mich hatte gestern wirklich vor Kassel gegruselt. Eigentlich ist es ja doch komisch, sich so ins Bockshorn jagen zu lassen. – Ich schrieb dir noch nicht, dass ich neulich bei und nach J.Cohn mit Elly Husserl wieder zusammen war, die ich auf Hedis Hochzeit zu Tisch hatte. In der grossen geistigen Aufregung, in der ich damals infolge des wenige Wochen vorhergewesenen Nachtgesprächs mit Eugen war, hatte sie mir einen unverhältnismässigen Eindruck gemacht. Diesmal kam sie mir doch etwas verbildet vor, übrigens aber doch eine feine Person. Und dann tat es gut, sich vor ihr auf dem Heimweg ausschütten zu können; bei J.Cohn stiess das natürlich auf lauter kleine Widerstände, so dass schliesslich alles nur in kleinen Bröcklein kam; da habe ich ihr nachher erzählt, wie die Welt nun aussieht oder vielmehr nicht aussieht. Frauen sind doch viel besser als Männer. Aber niemand, niemand weiss wirklich was geschieht. Ist denn das eine Einsicht, die man nur in unserm Alter haben kann? Kähler Picht Rudi Eugen Hans wohl sicher auch – wer denn eigentlich noch? Es sind wirklich so wenige, die “die Grösse unsres Unglücks” kennen, dass eigentlich schon deshalb keiner von ihnen so tuen dürfte, als wäre es keins. Meinst du, die Juden hätten gewusst, dass es ins “babylonische Exil” ging, wenn sich Jeremias nicht auf die Trümmer gesetzt und geklagt hätte? Und sie wären je zurückgekommen, wenn sie nicht schon beim Auszug gewusst hätten: jetzt gehts ins babylonische Exil? Unheilsprofeten sind den Menschen nötiger als die Helfer. Helfer finden sich immer, weil jeder sich selbst helfen will und dadurch auch andern hilft. Unheilsprofeten sind selten, weil das – wie jetzt alle Welt sagt – “nichts hilft”. Grade deshalb muss man es sein. Der Leichtsinn, das Auf die leichte Achsel nehmen des Geschehenen ist – und ganz gleich beim Volk wie bei den “Gebildeten” – ungeheuerlich . Eugen musste einmal 4ter Klasse fahren, um zu merken, dass es eine “Dienstbotenrevolution” ist. So muss er erst einmal wieder ein paar Tage auram academicam einsaugen, um zu merken, dass die Verständnislosigkeit für die “Grösse unsres Unglücks” das grösste Unglück ist. Aber nun genug von der Politik. Mein erstes Gefühl: “nun kommen die Hermann Michels ans Regiment” bestätigt sich: alle Menschen verhermannmicheln. Ist nicht übrigens “Hermann” “Michel” ein grossartiger Name für alles was nun geschieht? – Was sagt Eugen zur Flucht des Bürgertums in die Paulskirche? Vor einem Vierteljahr wäre es noch gegangen. Jetzt lässt sich wohl noch nichtmal der Notbau auf den Trümmern von 1849 errichten.

Deutschland muss ganz hindurch; wir sind trotz der angsttraumhaften Schmach, von der jetzt jede Zeitungsnummer überläuft, noch nicht auf der tiefsten Tiefe angelangt. Und eher lernt das Volk (einschliesslich der Professoren) nicht “de profundis” schreien. Und eher kann es nicht gut werden.

Aber nun wirklich genug. Ich wollte, ich hätte schon deinen nächsten Brief. Vom letzten kann ich nicht zehren. Bis morgen also?

Bis Morgen! Dein Franz

20.XI.[18]

Liebes Gritli, heut Abend will ich also zu Kantorowicz – schweig stille mein Herze. Thea hat mir am Telefon aber wieder gefallen. Und heut früh kam dein Brief und war ganz so, wie der erwartete nächste Brief sein musste – liebes Gritli. Ja du hast ganz recht, ich müsste mich einmal jetzt bei Mutter durchsetzen; aber diese jetzige Arbeit ist mir ein zu kostbares Objekt, als das ich sie zum Kriegsschauplatz dieses Existenzkrieges machen möchte. Hätte ich sie nur erst unter Dach; obwohl ich eigentlich nicht im mindesten daran zweifle dass sie darunter kommt. Ich schreibe sie fast ohne Überblick und doch hängt jede Einzelstelle so fest im Ganzen, dass fast keine für sich völlig verständlich ist. II 3 wird ja wieder näher an konkurrierende Gedanken andrer stossen – II 2 war ganz ohne Polemik oder Auseinandersetzung, weil es so etwas in der Wissenschaft noch nicht gab -, in II 3 konkurriert der Fortschrittsgedanke, die wissenschaftliche Ethik und andre schöne Dinge. Er wird glaube ich wieder schön. Heut Morgen habe ich das “Fac quod jubes et jube quod vis” erst richtig verstanden, wenigstens theoretisch. Und solche Lichter gehen eins nach dem andern auf. Dabei könnte ich das Ganze, obwohl es so einheitlich ist, dass die Einheit sich im Schreiben ganz von selber herstellt ohne dass ich darauf ausgehe, – also ich könnte das Ganze doch nicht in kurze Worte fassen; alles was ich sagen könnte, zeigt es immer nur von einer Seite.

Mir ist es ja früher auch immer so gegangen, mit dem Aufatmen, sowie ich wieder fort von “hause” nach meiner Universitätsstadt und  =bude fuhr. Sowie ich erst in der Bahn sass, hatte ich wieder das zum Leben nötige Phlegma und fühlte mich wieder wohl. Es ist auch richtig was du sagst, dass Mutter auf alles eifersüchtig ist – denk an die Geschichte meines Schreibtischs (der aus dem grünen Zimmer), die ich dir mal erzählte.

Kähler hat Eugens Aufsatz nochmal gelesen und – exzerpiert. Dabei ist er (mit Recht) über die “Grossmächte” gestolpert. Ich glaube, ich schrieb es Eugen schon im August, dass die kurze Anspielung eigentlich die Kenntnis von “Europas Darstellung” voraussetze. Ich habe ihm dann diese Lücke etwas ausgefüllt.

Ich fahre vielleicht Sonntag nach Säckingen. II 3 kriege ich hier wohl kaum mehr fertig, zumal mir die Nachmittage durch Kähler ziemlich ganz verloren gehen für die Arbeit. Aber auf jeden Fall warte ich noch, bis Herr M. II 2 abgeschrieben hat, auch wenn das noch bis Montag oder Dienstag dauert. Es kommt ja auf ein paar Tage nicht an. Ich will es auf jeden Fall mitbringen.

Schrieb ich dir schon dass Einl. III heissen wird: “Über die Möglichkeit, das Reich zu erbeten”. Also I – II – III erkennen – erleben – erbeten. (in philosophos – in theologos – in – – ja in??? in doctores geht nicht, weil man es erst erklären müsste. in fideles??)

Nun war ich bei H.U. – o weh, er ist wirklich kein “Mensch geworden”, er ist unverändert furchtbar. Das Schlimme ist, dass er ansteckt; ich habe mich zunehmend schlechter werden gefühlt im Lauf des Abends. Man kann doch in seiner Gegenwart kein wahres Wort sprechen, ich war den ganzen Abend geistreich, bloss um mich vor seiner Ausstrahlung zu schützen. Aber Thea war mir wieder so sehr sympatisch; sie allein würde ich gern nochmal aufsuchen und Frau Radbruch dürfte meinethalben dabei sein – es bleibt dabei: Frauen sind besser als Männer. Aber H.U. ist ja übrigens wirklich kein Mann. Ich kann mir doch noch nicht die mindeste Vorstellung von Greda machen. Denn die Vorstellung die ich aus Bild, Handschrift, Brief und der Tatsache du = sie  habe, lässt sich gar nicht zusammenbringen mit H.U. – Übrigens bleiben seine persönlichen Vorzüge oder eigentlich sein einziger persönlicher Vorzug und allerdings ein sehr grosser: die Selbstlosigkeit. Er hat mir auch heute gut geraten in der Hegel = Angelegenheit. Ich soll es mit Beihülfe einer Akademie machen. Ich werde es so versuchen. Die innere Schwierigkeit, dass das Buch veraltet ist, bleibt natürlich. Ich muss wohl ein Vorwort schreiben, oder einen Zusatz zur Vorrede, wo ich die Veraltetheit selber zugestehe und die persönliche und sachliche Unmöglichkeit einer Umarbeitung erklären. – Aber diese objektive Hilfsbereitschaft ist auch wirklich das einzige und selbst das ist – ich spreche aus Selbstbeobachtung – eigentlich ein schwächlicher Zug (ich habe sie ja auch, und auch aus Schwäche, oder in schwachen Zeiten; augenblicklich z.B. habe ich sie nicht). Aber weisst du, ich war den ganzen Abend mit dir zusammen; immer wenn ich hier in Situationen und Orten bin, die nicht unmittelbar Erinnerung an mein früheres Freiburg erwecken, bist du dabei. So heute, in der neuen Kantorow. Wohnung den ganzen Abend. Und das war noch das beste. Du amüsiertest dich sogar noch über meine fortwährenden Witzigkeiten, mit denen ich ihm auswich. Aber sonst — schweig stille mein Herze

Schweig stille mein Herze

—Dein.

21.XI.[18]

Liebes Gritli, ich bin noch nicht fertig mit gestern Abend. Denk, ich habe ihn, weil er doch allwissend ist, gefragt was eigentlich das “Hexagramm” (*) bedeutet. Er meinte zwar erst, das müsste doch ich wissen, ich wäre doch der Kabbalist (!) (überhaupt war er gross in solchen taktvollen Anrempeleien, fragte mich da das ja “meine Spezialität” sei, was nun wohl jetzt aus Palästina würde u.s.w.), dann sah er aber nach, hatte aber nur den Brockhaus: da stand “Pytagoreisches Symbol, auch Wirtshausschild” (das erklärt ja nun die hiesigen Wunder und Zeichen). Aber wie mögen es die Pytagoreer aufgefasst haben? Ich könnte ja jetzt hier auf der Bibliothek allerlei nachsehen, aber – ich habe einfach keine Zeit dazu, weil ich ja selber “auffassen” muss, damit im Brockhaus von 2018 mal steht: vgl. Rosenzweigs “Stern der Erlösung”. – Ich schreibe so in dieser halben Besin-nungslosigkeit weiter, so dass ich mich hinterher kaum entsinne was ich geschrieben habe, und doch wächst immer alles ganz gut zusammen. Aber ich sehne mich jetzt mehr nach dir als bei II 2 . Da war es eigentlich, als ob du immer dabei warst, wenn ich schrieb; das war immer sehr schön. Jetzt bist du beim Schreiben nicht dabei und so sehe ich dich sonst am Tag. Ich traktiere jetzt die Hegel = Angelegenheit so heftig vor Mutter, denn das giebt gute und harmlose Vorwände, wieder von Kassel fortzugehen, wenn ich es nicht aushalte. Aber schliesslich – warum soll es eigentlich in Kassel nicht gehen. Hier erbeite ich auch kaum auf meinem Zimmer, da ist es zu kalt, sondern in der Wirtsstube, mitten unter dem – sehr merkwürdigen – badischen Volk. (Ich bin in Verdacht, “ein Buch über den Krieg” zu schreiben!) Und nachmittags komme ich, durch Kähler, fast gar nicht zum Arbeiten. Herr Mündel ist so bequem, dass ich vielleicht auch den Rest des Buchs nachher zu ihm bringe. So kann es sein, dass ich im Januar oder Februar nochmal hier bin, ev. in Kombination mit einer Archivreise (Hegel) nach Stuttgart. Dann würde ich also sicher nach Säckingen kommen. Jetzt – ists nicht eigenlich gescheiter ich komme etwas früher nach Kassel? Zum errötend deinen Säckinger Spuren folgen und mir den Fels ansehn, aus dem du gehauen (kennst du das zweite Zitat? – es wäre in deinem Fall eigentlich Karl d. Gr.) – ists ja dann noch immer Zeit; und jetzt möchte ich lieber zu dir selbst. Aber alles hängt auch von Herrn Mündel ab, wann der mit II 2 fertig ist; ich möchte es dir so gern mitbringen. – Kantorow. sprach auch über Eugens Amerika. Es sei zum ersten Mal, dass er eine seiner neuen Arbeiten (also nach Königshaus u. Stämme) verstünde, wenn er natürlich auch viel einzuwenden hätte. Der Einwand war ganz stumpf, wie ich heute merkte, als ich den Kähler wiedererzählte, aber gestern konnte ich ihm einfach nichts darauf erwidern, einfach weil ich mich instinktiv fürchtete mit ihm in eine “Diskussion” zu geraten. Auch über den Kaiser warfen wir uns nur Grobheiten an den Kopf. Es ist eben ein Geist, den man anzufassen sich fürchtet, – weil er abfärbt. Übrigens hält er sich für einen Philosophen und “teilt” alle Dinge “ein” (das ist Philosophie, das Einteilen!); er fragte mich nach seinem Mitsünder in Rechtsphilosophicis, Holldack aus Leipzig (den ich in dem Kurs als Lehrer ein paar Tage genossen hatte), und als ich sagte, er wäre dumm, und er darüber strahlte, korrigierte ich mich und sagte dass heisse übrigens nicht viel bei mir, denn ich hielte die meisten Menschen für dumm und die Pholosophen insbesondere. Da war er glaube ich etwas pikiert.

Dann kam Kähler und blieb bis spät. Es gab noch eine Ohrfeigenszene zwischen zwei Offizieren; überhaupt ist ja alles was man jetzt sieht (und in der Zeitung liest) symbolisch, alles Abschluss und Auflösung.

Der Brief will fort und ich zum Frühstück. Heut kommt ein Stück, vor dem ich mich fürchtete. Jetzt bin ich schon mehr bloss neugierig.

Auf Wiedersehen heute Abend – oder nein: auf Wiedersehen heute den ganzen Tag, immer so zwischendurch ein kleines: ach da bist du ja.

Ja —-

Dein.

[22.? XI.18]

Liebes Gritli, ich bin sehr müde und wenn ich mich nicht mit Kähler verabredet hätte, ginge ich zu Bett.

Über die schwere Stelle bin ich so ziemlich hinweg. II 3 wird ein Mittelding zwischen II 1 und II 2 , nicht bloss inhaltlich, sondern auch in der Behandlung, und wahrscheinlich das längste Buch des Ganzen. Vielleicht werde ich aber doch noch hier damit fertig. Ob ich nach Säckingen gehe, weiss ich noch nicht. Wenn ich so im Schreiben bleibe wie jetzt, wohl nicht.

Wilson reist mit seiner Frau nach Europa! Der Konsul ausserhalb der Stadtmauern nimmt monarchische Allüren an. Man möchte die Zeitung jetzt immer zerreissen. So zensiert war sie übrigens während des ganzen Krieges nicht wie jetzt. Und die Berliner Professoren spüren “z.T.” die Verwandschaft des neuen Regimes mit dem freien Geist der Wissenschaft.

Ich will mich noch etwas aufs Sopha legen. Bist du bei mir, wenn ich einschlafe?

– Dein

24.XI.[18]

Liebes Gritli, du warst ja ganz traurig anzuhören am Telefon, aber dass du mich auch so lange ohne “Direktion” gelassen hattest! Mutter muss neulich am Montag ganz falsch verstanden haben. Ich hatte ausdrücklich gesagt, ich bleibe noch die Woche

hier. Ich bin nun grad gut im Schreiben, jetzt beim 10 Maschinenseiten = Pensum angelangt. Aber nun bin ich auch wie ausgepumpt. Und das Komischste ist: ich weiss hinterher nicht mehr, worüber ich geschrieben habe; und was, natürlich erstrecht nicht.

Bei Cohn gestern war es interessant und beinahe schön. Er ist eben doch ein feiner Mann. Man kann über alles mit ihm sprechen, wenn auch über alles nur beinahe die Wahrheit. Unter seiner Ruhe und Feinheit sitzt – Gott sei Dank – ein Eckkopf, kein sehr dicker, aber immerhin ein Eckkopf. Da ich ihn unwillkürlich noch immer als meinen Lehrer empfinde, so wundre ich mich kurioserweise noch immer über mich selbst, wenn ich mit ihm so auf gleich und gleich verkehre. Er will nun (“auch”, denke ich natürlich) sein System schreiben und rechnet sich 5 Jahre dafür. Ich musste an mein – wahrscheinlich – 5 Monatskind denken. Ich verkniff mir aber, ihm davon zu erzählen; ich hätte es doch nicht gekonnt. Dennoch reizt es mich zu wissen, wie ein gelernter Philosoph es ansähe, aber ich habe ja Hans, der ja nebenher und gewesenermassen auch ein “gelernter” ist. Dagegen hätte ich wirklich Lust, ihm jetzt, nachdem ja an Veröffentlichung nicht mehr zu denken ist, ihm das blonde Putzianum zu schicken, ich werde am Dienstag davon anfangen. Durch den * und den Zusammenbruch (das Wort Revolution ist blauer Dunst um die Wahrheit) ist mir ja alles Vergangene wirklich vergangen gewordenl Selbst auf Marxens Brief mag ich nicht antworten; bitte treib mich in Kassel dazu.

– In Kassel! Ist es nicht verrückt? ich sitze hier unten und komme nicht ab. Dabei bin ich nachgrade sicher: das Arbeiten wird auch in Kassel gehen; ich fürchte mich jetzt eigentlich nur vor der Unterbrechung in II 3, denn danach wäre es wieder ein von vorn Anfangen. – Mit nach Kassel Cohn hatte – ich weiss nicht mehr was ich hatte, denn da kam Kähler, und als wir schon länger zusammen waren kam ein mir früher flüchtig bekannter Philosophieprivatdozent Marck[?] aus Breslau, den J.Cohn auf mich gehetzt hatte, weil er grade auf dem Durchmarsch hier war. Und Kähler misshandelte ihn so unglaublich, schnitzte sich statt ihn zu hören mit ein paar groben Schnitten das “typische” Bild aus ihm zusammen und hieb dann auf dies Bild ein, – dass mir wieder angst wurde. Und es war immer besser zwischen uns geworden. Und dennoch steht dies zwischen uns, mehr zwischen ihm und mir, als zwischen mir und ihm. Er war selbst erschrocken hinterher.

Es ist nun ganz spät, und dieser lange Brief ist wieder nur ein kurzer geworden. Aber heute schreibst du mir ja wieder. Ich werde es ja sicher noch hier kriegen. Würdest du mich hier aushungern, – es wäre das sicherste Mittel dass ich schleunigst nach Kassel führe. Aber du schreibst ja – –

Dein Franz.

25.XI.[18]

Liebes Gritli, ich bin wirklich “müde und ausgeleert”, wie ich eben an Mutter schon schrieb, und fange deshalb auch an dich gleich nur auf diesem kleinen Format an. Eigentlich ist Schreiben eine mörderische Tätigkeit; es bleibt nicht viel von einem übrig. Darum freue ich mich auch auf den Augenblick wo ichs fertig habe, und schreibe, was an mir liegt, so bald kein Buch wieder, – wüsste auch nicht was. Höchstens den grossen Aufsatz über Cohens Buch, aber das ist ja nur ein Aufsatz. Den Hegel gedruckt zu sehen, lockt mich jetzt doch ein bischen. Es ist doch ganz hübsch, der “Verfasser von …” zu sein. – J.Cohn hat mich übrigens neulich des längeren über die Schwierigkeiten einer “Religionsphilosophie” unterhalten. Er leugnete natürlich die Notwendigkeit oder auch nur Wünschbarkeit eines positiven Standorts für den Verfasser; und ich behauptete sie natürlich, (weil Erkennen ohne Wiedererkennen – “ach das ist ja das und das!” – gar kein gewisses Erkennen sein könne). Und dann sagte er, die grösste Schwierigkeit dabei sei “die Wertfremdheit der Natur” (das ist hiesiger Jargon; er verdeutschte es dann auf mein Gesicht hin selbst: die Grausamkeit der Natur); ich meinte: ja, also theologisch gesprochen, dass Gott erst die Welt geschaffen hat und nicht gleich mit der Offenbarung angefangen. – Ich bin also wirklich klüger als vor 3 Monaten (solang schreibe ich nun schon!), aber besser eigentlich nicht.

Zum Ausgleich sei du mir wenigstens –            – gut!

Dein Franz.

26.XI.[18]

Liebes Gritli, heut kam dein Eilbrief (ein Telegramm ist nicht angekommen). (Und eben ist es doch angekommen; ich komme grad von Cohn; ich habe plötzlich einen Schnupfen gekriegt und war deshalb ein paar Mal verdutzt und konnte nicht antworten wie ich wollte; aber er ist ein reizender Mensch – und würde diese Bezeichnung glaube ich noch nicht einmal sehr übel nehmen. Es war sehr schön heut Morgen wie dein Brief kam ; ich dampfte grade vor Arbeit. Ich bin jetzt schön in II 3 drin. Die Schwierigkeit ist ja dabei, dass Einl.III noch nicht geschrieben ist, und da kommt einiges erst deutlich heraus; es ist das umgekehrte Verhältnis wie zwischen Einl.II und II 1. (Was ja Eugen schon sah, als er bloss das Programm kannte). Was drin vorkommt? Nun: – der Heilige, das Reich, Danken, Bitten, Nächstenliebe, Gericht – nicht in dieser Reihenfolge und ohne Garantie für Vollständigkeit. Die Grammatik ist in Form einer Chorkantate (in II 2 eines Dialogs, in II 1 einer Erzählung). Morgen kommt die Kunstlehre des Teils, übermorgen die Grammatik des Schrifttextes, wahrscheinlich doch Ps.73, obwohl der an der Grenze steht. Eine Unterbrechung jetzt, das wäre schade gewesen, es wäre wie ein Vonvornanfangen. So werde ich ev. ganz gut ein paar Tage in Kassel erst pausieren können. Und ausserdem ist Mündel heute mit der Abschrift von II 2 erst bei Seite 20, und muss also noch ca 50-60 Seiten schreiben. Ich möchte es dir auf jeden Fall mitbringen und scheue mich fast es mit der Post gehen zu lassen. – Der Übergang wird wieder kurz, etwa 15 Seiten; den schreibe ich vielleicht wirklich auf dem Übergang von hier nach Kassel. Und wenn ihr zu Weihnachten nach Säckingen geht, 14 Tage vom Dezember sind wir doch mindestens zusammen oder 3 Wochen. Nachher würde ich dann wieder nach Freiburg fahren um mit Mündel den Rest zu lesen und den Schluss zu schreiben; wenigstens wenn bis dahin Freiburg noch nicht okkupiert ist; und dann käme ich nach Säckingen herüber, wenn ihr noch da seid, und auch so. Weisst du dass es mir wirklich leid tut, nicht jetzt hinzukommen? Ich wäre gern ohne euch oder speziell ohne dich das erste Mal da gewesen. Die Vergangenheit sieht man nicht wenn die Gegenwart da ist. Sieh, zu Kantorowicz muss ich nun doch noch einmal gehen, vielleicht schon morgen, wegen deines Bildes. Heut morgen dachte ich ich müsste gleich fahren, aber kaum schrieb ich wieder da war es auch schon wieder vorüber. Und vor Sonnabend werde ich nun kaum auf der Bahn sitzen, ja vor Sonntag. Dein Telegramm war aufgenommen am 26.11. 630 nachmitt.! da muss irgend ein Kobold dazwischen gekommen sein. – Auch Kähler hat mich ja hier gehalten und die Vergangenheit. Du musst dich nicht sehnen, du sollst dich nur freuen.

Liebes Gritli – die Pfarrer? und ich soll mich entsetzen? ich kann ja im Augenblick überhaupt nicht hingehen. Der * hält mich draussen, ich hätte das Gefühl, “Stoff zu sammeln” und da wage ich mich gar nicht herein.

Meinst du, ich hätte wohl ein klares Wort über den Tod geschrieben. Ich weiss es selbst nicht; er kommt immer wieder vor, immer wieder anders, aber nirgends mit endgültiger Klarheit.

In clericos – ich glaube das geht.

Gute Nacht — ich schreibe dir ruhig weiter bis ich komme, es sind ja noch fünf Tage sicher.

Gute Nacht — Dein.

27.XI.[18]

Liebes Gritli, mit der Ästhetik bin ich glücklicherweise fertig; diese Stücke habe ich in allen drei Büchern von II nicht gern geschrieben, obwohl sie wohl ganz nett geworden sind. Morgen also noch der Schluss, übrigens wohl doch nicht der 73.Ps., sondern der 115.(Non nobis). Nämlich der 73. hatte mich wegen des Begriffs der Versuchung gereizt, aber der kommt nun überhaupt erst in Einl. III. Während der 115. alles enthält, was in II 3 vorkommt. Ausserdem spielt der 73. keine Rolle bei uns im Kult, der 115. dagegen an allen frohen Festen. Heut fiel mir auf, dass ich in II 3 zwar den Staat u.s.w. aber nicht – die Kirche bringe, die doch, als äussere Organisation, das Erlöstwerden ebenso nötig hätte. Es hat aber seinen guten Grund. Das ist eben meine “Orthodoxie” dass ich sie nur in III bringe.

Aber so kurz kannst du daraus ja nichts machen. – Im Januar werde ich ja nun wohl sicher fertig. Die Bücher des III.Teils werden jedes nur eine Woche dauern. Danach müsste ich meine Notizen mal durchsieben, ob ich alles verwendet habe. Und dann ist es fertig. Gestern bei Cohn – er setzte mir seine Theorie des Judentums auseinander, seine persönliche Geschichte hatte er mir schon das vorige Mal erzählt. Und dann verglich ers mit Parsismus und Brahmaismus, “andern unvollkommenen Weltreligionen”. Der Plural “Religionen” ist eigentlich noch unmöglicher als der Singular. Man kann ja schon mit einem Menschen, der von “Religion” spricht, eigentlich nicht davon sprechen. Aber bei so etwas kommt er mir vor, als schriebe ich den * gar nicht; es ist alles so ganz anders. Das neue Buch ist im Inhalt so zwischen II 1 und II 2, aber mehr von II 2. Die schwierige Auseinandersetzung mit dem Idealismus war eben nur beim Schöpfungsbegriff nötig. Von der Erlösung weiss der Idealismus ja einfach nichts, und wo er was davon sieht, nennt ers – Anarchie, Bolschewismus, russische Zustände und dergl. (Es sind mir aber keine aktuellen Anspielungen hineingeraten, das bleibt alles ganz wie von selber draussen, obwohl ich es doch unter lauter aktuellem Gespräch schreibe; ich bin ja fast nie allein in der Weinstube). Dabei erkläre ich die Erlösung übrigens durchaus nicht bloss vom Bolschewismus der Nächstenliebe her, sondern genau so von der ihr entgegewachsenden (“ganz von selber” wachsenden) Welt. Ich sage so: die Liebe will alles beseelen; aber nur des Lebendige (Gegliederte, Wachsende, “Organische”) ist fähig beseelt zu werden, nicht das Tote, nicht das Chaos. Die Liebe er=löst die Welt, aber nicht das Chaos, sondern den Kosmos. (Das Reich des Kaisers Augustus musste dasein, das Reich der Welt, damit das Reich Gottes in die Welt treten konnte). Die Liebe macht das Leben, indem sie ihm Seele giebt, zum ewigen Leben. Aber umgekehrt giebt auch erst das Leben (das von selber wächst) der Liebe die Gewähr, dass das “Nächste” was sie, fernblind wie sie ist, allein lieben kann und soll, wirklich das Richtige ist, das für diese Liebe reif ist. Der Baum des Lebens streckt der beseelenden Liebe immer seine reifsten Früchte entgegen. So kommt es dass sich die Liebe nicht vergreifen kann, obwohl sie nicht weiss was sie tut, sondern immer nur das Nächste tut. – Das ist die Ergänzung die von der Schöpfung her der Liebe kommt, die selber aus der Offenbarung her kommt. So wirken Schöpf. u. Offenb. zusammen in der Erlösung. Das ist doch schön? ich habe es erst während des Schreibens gelernt.

Es ist wieder nach Mitternacht. Es war viel schöner bei Loofs als ich erwartete. Älterwerden, Erfolg und wohl vor allem die Heirat haben ihn viel besser und grader gezogen als damals zu erwarten war. Es war ein hübscher Abend; die Frau war zwar nicht mehr auf. Aber wenn ich im Januar nochmal herkomme, gehe ich wieder hin.

Gute Nacht – ich sage dir jetzt immer gute Nacht – es ist eigentlich beinahe das Schönste was man sich sagen kann, – Guten Morgen ist ja beinahe ein Abschied, aber Gute Nacht ist ganz ohne Schmerz –

gute gute Nacht, Liebes

– Dein

[28.od.29.XI.18]

Liebes Gritli,  ich bin so mitten drin im Schluss, ich muss dir danken, so dumm es ist, dir zu danken, aber es sind ja deine Worte, die ich schreibe – liebe liebe

Und inzwischen bin ich fertig geworden und du warst am Telefon (und doch recht trübselig), und Mutter musste eigentlich zufrieden mit dir sein, so brav hast du gedrängt, ich sollte nicht von Tag zu Tag verschieben. Ich bin aber doch froh dass ich es getan habe. Es ist eine grosse Erleichterung in mir, denn das Hauptstück habe ich ja nun eigentlich doch hinter mir, diese drei Bücher. Eine Pause würde ich zwar leichter nach Einl.III machen, denn erst was dann kommt, wenigstens III 1 und III 2, ist bloss eine Darstellungsfrage und macht mich inhaltlich nicht neugierig. Und vor allem – es sind doch auch in II 3 wunderbare Sachen. Dass ich auf den 115.Psalm kam ist auch fast ein Wunder. Die ganze Grammatik in der Mitte des Buchs hatte ich mit dem besorgten Gefühl geschrieben, sie an Ps.73 rektifizieren zu müssen. Und plötzlich merke ich beim Nachsehen von 118 (“Danket…”), vorgestern oder gestern, dass 115 ganz vollkommene Illustration der Grammatik ist, die ich doch ohne jeden Hinblick darauf geschrieben hatte. – Und in 10 Tagen hätte ich es in Kassel nach einer Unterbrechung auch nicht geschrieben. Überhaupt was wird das für ein Durcheinander geben! Aber im Januar werde ich trotzdem spätestens fertig. Ich denke ziemlich sicher, dass ich dann wieder etwas hierher gehe und mit Mündel den Rest lese. Es ist übrigens zweifelhaft, ob er morgen mit II 2 fertig wird!

Ich war heute so ganz weg; jetzt gucke ich schon wieder verwundert auf mich zurück. Wie ich die letzten Seiten schrieb, wachte es in mir auf, dass ich es trotz und trotz allem noch bei lebendigem Leib veröffentlichen müsste, selbst wenn ich dadurch mir selber den Weg ins Öffentliche abschneiden würde. (Denn das ist ja der Grund, weshalb ich es nicht veröffentlichen kann; weil es mir eben wichtiger ist, zu leben als berühmt zu sein. Die Berühmtheit schiebe ich kaltblütig aufs Posthume ab. Es lebe meine Leiche! Vorläufig lebe ich lieber selber). Aus der Klammer siehst du ja schon, dass der Floh schon wieder aus dem Ohr herausgesprungen ist. Weisst du weshalb ich so gern jetzt nach Säckingen gegangen wäre. Ich wäre gern ohne dich hingegangen das erste Mal. Es frisst auch in mir, doch noch mal zu Kantorowicz zu gehen und unter irgend einem gelehrten Vorwand ins Studierzimmer. Es lebe die Gelehrsamkeit! Übrigens sind meine schlimmsten Lücken Indien und China, besonders Indien. Indisch werde ich vielleicht doch noch etwas lernen, nicht weil ich Übersetzungen nicht traue, aber weil nur die Ursprache mich hier noch zu dem naiven vorurteilslosen Lesen bringen kann was man schliesslich allem schuldig ist. Lese ichs deutsch, so suche ich Bestätigungen meiner vorgefassten Meinungen, das habe ich jetzt grade bei Indien jetzt öfters gemerkt. Nur die eigene Sprache reisst mich in die Sache selbst. Wo ich keine Vorurteile habe, schaden mir Übersetzungen gar nicht.   Was schwätze ich denn? Ich möchte immerzu nur “liebes Gritli” schreiben. Ist es denn wirklich nur einen Monat her? Aber der Monat kommt mir unendlich lang vor (und doch das heute vor einem Monat so nah als wär es – nicht gestern, nein heute). Aber der Monat selbst: erst Doris, dann Kähler, dann der Kaiser (es ist keine Revolution freilich! – es ist nur eine Schmach!!!) und währenddem die zwei langen Bücher 2 u. 3 – es war sehr viel, Tod und Leben, Erinnerung und Gegenwart, und Erkenntnis.

Ich hoffe nun selbst, dass Kähler am Sonnabend schon kann; ich möchte die lange Reise gern mit ihm machen, – schriebe freilich andrerseits auch das kleine Übergangskapitel gern, das ja nur etwa 15 Seiten lang wird.

Ach Gritli – was für dummes Zeug, und das dumme Telefon, aber es dauert jetzt wirklich nicht mehr lange. Ich hätte heut das Telefon schlagen mögen, es war mir als ob es mich von dir trennte. Ein Telefon kann das! — das Leben nicht.

Dein.

 

Dezember 1918

1.XII.[18]

Liebes Gritli, – liebe Tochter deiner Mutter – denn das bist du ja doch. Ich schwimme noch ganz in diesen 24 (nicht ganz 24, haben die Zwillinge ausgerechnet) Stunden Säckingen. Es war noch viel schöner als ich erwartet hatte. Nachher ist mir eingefallen, du hattest mir einmal vorausgesagt, dass ich deine Mutter lieben würde, so ist es auch gekommen. Ich habe ihr infolgedessen ein schweres Unterhalten gemacht, indem ich sie manchmal einfach gross anguckte und vergass zu antworten wenn ich “dran” war. So ist es ihr mit mir (noch) nicht so gut gegangen wie mir mit ihr. Ich meine ich hätte noch nie eine Frau gesehn, die bei so viel innerem Pflichtgefühl so viel innere Anmut behalten hätte. Und dann das Haus. Es ist eben doch ein wirkliches “Haus” und wenn es für dich früher keins war, für Eugen muss es doch jetzt wie ein Adoptiv = Elternhaus werden, wo sein eignes auseinandergefallen ist. Ich war in allen Zimmern herum, habe ein paar Stunden oben in Eurem Zimmer bei dir geschmökert – alle meine masslos indiskreten Widmungen vom Februar stehen da herum – es ist beruhigend zu wissen, dass du die wenigsten von den vielen Büchern gelesen hast, wie könnte man sonst noch den Mut finden, neue für dich zu schreiben. Und zahllose Bilder von dir und den andern gesehn, unter allen aber nur eins, das ich kriegen muss, das 14 jährige mit einer Schwester zusammen, ein richtiges Fotografenbild, ein Kreuzchen das die Schwester trägt ist dir vor die Schulter gerückt, du selbst trägst ein Herzchen. Du bist grade aufgewacht darauf und aushäusig geworden – gehe heraus aus deinem Hause und deiner Verwandschaft… – und draussen sind wir uns ja begegnet. Und die Zwillinge sind herrlich, beide. Hedi ist ja schon so wie sie bleiben wird – und sie kann so bleiben, aber Marthali ist noch unaufgeschlossen. Man ist gleich zu dreien mit ihnen, und möchte Ihnen am liebsten gleich du sagen. Der Vater hat mir gefallen, aber ich konnte nichts mit ihm anfangen, suchte auch immer nach irgend was von dir in ihm und fand gar nichts. Von den Zwillingen hat Marthali etwas von dir. Aber vor allem doch die Mutter. Ich habe immerfort an dich denken müssen, und als ich fortfuhr war ich so voll Sehnsucht, dass ich am liebsten mit einem Sprung auf der Terrasse in Kassel gestanden hätte und heute morgen über die abermalige Verzögerung wirklich selber wütend war; es ist ja, wo ich das Übergangskapitel noch nicht angefangen habe, nichts was mich etwas hier beschwert, dass ich sitze, – ich bin nur ein einziges Auffliegen und Händeausstrecken – und bis dieser Brief ankommt, sind es wohl nur noch wenige Stunden und die ausgestreckten Hände fassen zwei andre Hände und mein Mund küsst deinen ——–

liebes liebes Geliebtes

23.XII.18.

Liebes Gritli, nun muss ich dir wieder schreiben. – Gestern als ich von der Bahn kam, ging ich zuerst herauf ins grüne Zimmer und als ich an der Tür stand, hatte ich die unabweisliche Vorstellung, wenn ich aufmachte, müsstest du auf dem Sofa sitzen. Ich war wirklich enttäuscht, als dann alles leer war. Rudi blieb bis heute früh. Nachmittags rief sein Vater aus Leipzig an und zwar – wegen Eugen. Er wollte wissen, ob Eugen die Rechtsgeschichte lesen wollte, da er (Viktor) es gleich dem Dekan mitteilen müsste. Ich gab Eugens Jawort in seiner Stellvertretung; es war eine gewisse Frechheit, denn aus Onkels Frage ging hervor, dass es sich nicht, wie wir meinten, um eine zweistündige, sondern um eine täglich zweistündige Vorlesung (ich nehme an: 1 Stunde Vorlesung, 1 Stunde Repetitorium) handeln würde. Also Eugens Besorgnis, den Stoff zusehr fressen zu müssen, ist unnötig. Und Geld kann er da mit Leichtigkeit mehrere Tausende verdienen, denke ich. Und ein Vertrauensvotum der Fakultät ist es auch. Aber natürlich – es wird ihn ziemlich in Anspruch nehmen. Nun musst du also nur dafür sorgen, dass er auf jeden Fall hingeht und nicht etwa noch zurückzuckt. Ob du ihm gleich mit den 12 Wochenstunden ins Gesicht springst oder ihn noch eine Weile damit verschonst, musst du selber wissen. Ich glaube immerhin, es ist besser, er gewöhnt sich bald an den Gedanken, damit sein innerliches Darandenken gleich in die richtige Bahn kommt; denn für eine grosse Vorlesung kommen einem unwillkürlich andre Einfälle als für eine kleine.

Hans war den Nachmittag und wieder Abends da; aber ich verkroch mich eine Zeitlang mit Beckerath ins grüne Zimmer; er wird mir immer lieber. Ihr werdet einen bösen Umweg machen müssen, wenn auch Höchst nun gesperrt ist. Aber schliesslich werdet ihr doch grade zurecht kommen. – Liese Alsberg hat ihren Jungen (“Reinhard Georg”); er soll übermässig fertig sein, so als ob er die letzten Wochen nur noch Wärme hätte schinden wollen.

Ich bin noch immer verwundert, dass ihr nicht mehr hier seid. Aber es ist beinahe gleich. Ich spüre euch noch ganz körperlich hier.

Euer und Dein – Dein –

24.XII.[18]

Liebes Gritli, die röm. El. für Greda kamen, nicht in der guten Ausgabe die du bestellt hattest, weil die vergriffen war, sondern nur in der gewöhnlichen. Wir haben sie als Eilbrief abgeschickt, so dass sie sie vielleicht morgen schon hat. – Ich habe die neuen Anfangsseiten zur Einl.I fertig geschrieben; es sind wohl 6 Seiten Maschinenschrift und glaube ich grade richtig, präludiernd, aufregend und nichts vorwegnehmend. Sie handeln von der Todesangst und nebenher auch vom Selbstmord; ob sich die bisherige Einl. dann glatt anschliesst, kann ich nicht wissen, weil ich sie ja nicht hier habe. Dann werde ich morgen hoffentlich III 1 anfangen, das heisst die Überschrift und die ersten Sätze habe ich zur Sicherheit heute schon geschrieben. Voriges Jahr um diese Zeit vom 23.-27. schrieb ich Thalatta. Mutter hat übrigens Beckerath gefragt, ob denn irgend etwas dran gewesen wäre an dem, was ich neulich vorgelesen hätte! – Ich sehe grade dein …[MH] auf dem Löschblatt, mit dem ich eben löschte. Heut nachmittag kommt Hans und liest uns weiter aus seinem System vor. Ich fragte ihn übrigens gestern, wie er denn dazu käme, nach Leben – Tod – Anfang – Ende plötzlich “Gott” einzuführen. Da kam heraus, dass wir ihm neulich, Eugen besonders, Unrecht getan hatten. Denn er sagte, dies, dass er da für den Herrn von Leben und Tod, die Einheit von Anfang und Ende, den Namen Gott brächte, sei nicht Philosophie; sondern das komme von anderswoher in seine Philosophie hinein. Er redet sich also gar nicht ein, ihn philosophisch aus sich herauszuspinnen. Es war überhaupt ein wichtiges Gespräch. Denn er war vollkommen d’accord, als ich ihm sagte, wenn auch die Wahrheit heute “überkirchlich” wäre, so müsse doch das Leben kirchlich sein, in einer der wirklichen alten Kirchen geschehen. Er erklärte, er suche auch wirklich den Anschluss dorthin, daher sein (als Protestant) Interesse für die Sekten. Und er erzählte, als er 1913 sich nicht kirchlich trauen lassen wollte, also auf dem Höhepunkt seiner Unkirchlichkeit, habe er gleichwohl in einem Brief an den Heidelberger (ihm befreundeten) Pfarrer Frommel, worin er das zu begründen suchte, schon gesagt, er glaube, in einigen Jahren vielleicht anders in diesem Punkte zu denken; er halte seinen jetzigen (1913er) Standpunkt nicht für endgültig. Und vor allem: er will übermorgen nach Göttingen, um – Rudi zu sagen, er dürfe nicht katholisch werden, die Predigten hätten ihn davon überzeugt. Aus diesem letzten seht ihr doch, dass er nicht mehr in einem Jenseits aller Kirchen lebt. Es kommt gewiss alles blutleer bei ihm heraus, oder genauer: nicht blutleer, aber zusammenhangslos, traditionslos, er hat eben wirklich keinen Grund und Boden unter sich und muss ihn sich deshalb immerzu selber erst mauern. Aber trotzdem – ich hatte das Gefühl, dass er uns doch viel näher steht als wir wussten und wahrhaben wollten.

Jetzt seid ihr sicher schon zuhause. Ein Telegramm und eine Karte von euch kamen. – Das Th.Mannsche Buch ist wirklich sehr lesenswert. Aber Heinrich, der Bruder, ist doch ein ganz andrer Kerl als dieser Skeptiker, der in seiner bewussten Formenstrenge schliesslich viel willkürlicher, viel alleskönnender ist und viel ungeplagter von sich selbst als der Bruder, der wirklich ein geplagter Mensch ist und also – ein Mensch.

Eigentlich freue ich mich diesmal auf meinen Geburtstag; ich weiss selber nicht, warum. Vielleicht weil ich das schönste Geschenk schon vorweg habe. Übrigens hat unsre Konkordanz grad für uns einen grossen Fehler: sie ist nach dem “revidierten” Text gearbeitet, sodass mann sich für Luthers Sprachgebrauch nicht darauf verlassen kann. Denn die Änderungen dieser “evangelischen Kirchenkonferenz” sind recht erheblich.

Grüss alle Säckinger, die ich kenne, und gieb deiner Mutter einmal gelegentlich einen anonymen Kuss (ohne Angabe des Absenders)

von Deinem Franz.

25.XII.18.

Liebes Gritli, nun ist der 25te und ich bin eigentlich den ganzen Tag sehr vergnügt, so über einem dunkeln Grund und doch vergnügt. Schon das Geschenktkriegen en masse war ich ja seit 1915 nicht mehr gewöhnt und nun macht mir der Tisch mit den vielen Büchern deshalb solche Freude. Die Konkordanz, die 4 Sprachen Bibel und das schöne griechische Lexikon (aber ich gebe den Eigennamen = Teil und den deutsch = griechischen zurück, wenn es geht, und nehme mir vielleicht statt dessen die Mandelkernsche hebräische Konkordanz). Die dreie haben wir, Emil und ich dann viele Stunden lang hin und hergewälzt, sodass sie sich schon ganz gebraucht anfühlen. Und zuletzt holte ich das kleine Büchelchen, wo ich Notkers 103ten drin hatte und las ihn responsenhaft mit Emil zusammen, er den Vulgatatext und ich den Notkerschen; und dabei hatte ich deinen Brief noch nicht, der mir den ganzen Notker ankündigt; der wird nun also wirklich als ein Abschluss kommen, hoffentlich noch nicht so bald, damit ich mich länger darauf vorfreuen kann. Das Freuen ist doch überhaupt eine Kunst, zu der wir, alle viel Talent haben. Mir ist, dir müsste auch sehr froh zu mute sein. Vielleicht ist es mir nur so, weil es dir so ist – – ist es, liebes Gritli?

Des Nachmittags bat ich Mutter, dass das Mignon spielen dürfte. Die Appassionata war noch aufgespannt! Mir war als könnte es gar nicht so lange her sein, dass es zum letzten Mal gespielt hätte. Nach der Apassionata spielten wir noch die Kleeberg = Variationen. Vor dem Satz der 109ten bangt es mich noch selber.

Von Emil habe ich den Don Quichote gekriegt. Statt am Stern zu schreiben habe ich heut früh bis 8 geschlafen. Dann war der erste richtige Schneetag draussen. Ich hätte heute auch nicht schreiben können. Ich weiss noch nicht wie ich es anfangen soll. Es kann sein, dass es eine richtige Unterbrechung giebt; etwas ballt es sich aber schon zusammen, sodass es vielleicht doch schon morgen früh weitergeht. Von Hans hörten wir gestern den zweiten und den Anfang des dritten Kapitels. Die Verwandschaft mit dem was ich mache, war mir doch sehr deutlich. Wir haben das Ganze genannt: “Das Leben. Eine Exegese”. Nämlich er setzt seine Vorstellung von Leben (das Leben als das zwischen Anfang und Ende), die ja auch meine Vorstellung ist (daher alles Verwandschaft) voraus und giebt eigentlich vom ersten Wort an nur “Exegese” dieses wie ein Text Vorausgesetzten. Daher ist es auch nicht spannend . Weil er nämlich das Ganze voraussetzt und fortwährend vom Ganzen handelt (während ich erst vom Anfang spreche, dann von der Mitte, dann vom Ende, was natürlich spannend wirkt). Ich las die neuen Anfangsseiten der Einl.I vor, wo dann Hans selber auch die Verwandschaft merkte. (Im Styl freilich gar nicht; sie sind ganz hanebüchen, und durchaus “kriegsteilnehmerhaft”).

Nun noch etwas: Onkel Viktors Brief. Er ist doch sehr gut. Von ihm alles, was Eugen und wir alle nur erwarten können, und mehr. Aber Eugen darf ihm nicht auf Einzelnes daraus antworten. Das eine Missverständnis, wegen der “wissenschaftlichen Ehrlichkeit” werde ich selber bei O.Viktor richtigstellen: dass Eugen das nur subjektiv meinte, nicht etwa solchen Arbeiten an sich die “wissensch. Ehrlichkeit” abstreiten wollte. Aber im Ganzen muss er sich doch wirklich über den Brief freuen. Es steckt doch soviel Verständnis drin, wie ein bloss gebildeter Mensch überhaupt aufbringen kann. Dass er mich ein paar Mal à la Kantorowicz als gelehrten Musterknaben ihm entgegenstellt, dafür kann ich ja nichts oder wenigstens nicht viel; es war wohl auch etwas, um Mutter einen Spass zu machen.

Ich grüsse und küsse euch beide.

Euer Franz.

26.XII.[18]

Liebes Gritli, es ist doch nichts geworden mit der “Unterbrechung”, heute früh kamen die Massen schon wieder in Fluss. Danach las ich, seit wieviel Tagen zum ersten Mal, wieder Zeitungen und entsetzte mich. – Emil bleibt bis Neujahr hier. Wenn ich dann nach Berlin fahre, so fahren wir ein Stück zusammen. Gestern Abend fand ich ihn über dem Polyglott – ein scheusslicher Name – über der Johannesstelle “hast du mich lieb” (die übrigens auf griechisch in den drei Fragen und Antworten eine Steigerung hat, von der das Deutsche nichts ahnen lässt); er sagte, das wäre doch die Hauptsache, ja eigentlich das Ganze, und dann meinte er: er würde gern eimal Eugen nach diesem Punkt gefragt haben. Es war wieder das gleiche, wie damals in der Geschichte vom “Erlebnis”, die ich dir erzählte, wieder die merkwürdige Unfähigkeit, von sich selbst her zu wissen, dass der andre ist “wie du”. Aber ausserdem spürte ich doch auch wieder, wie sehr wir uns alle mit unserm Denkenkönnen und =müssen selber im Licht stehn. Dabei begriff er doch, als ich es ihm dann sagte, die Notwenigkeit des Dogmatischen, des Gedankenmässigen, des Sehenmüssens, vollkommen. Es ist ja die notwendige Ergänzung. Aber weil uns das Eigentliche selbstverständlich ist, so machen wir soviel Lärm um die Ergänzung, dass es wirklich so aussehen kann als wüssten wir nur von ihr. Es ist das auch die Gefahr des Kampfs gegen den “Liberalismus”. Denn von diesem Eigentlichen weiss und spricht Harnack und seinesgleichen, gewiss als ob es das Einzige wäre; es ist freilich nicht das Einzige, aber doch immer das Eigentliche. Beckerath selber sagte mir auch, dass ihm das neulich, als so über den Liberalismus hergezogen wurde (an dem Abend der “Bibelkritik”) immer auf der Zunge gelegen habe. Aber also: es ist wirklich so, dass wir immer in der Gefahr sind, mit dem “Athnetischen” das “Thnetische” zu übertönen. Die Arbeit des Erkennens muss ja wohl getan werden, aber dann auch ab=getan. In einem Monat bin ich fertig, quant à moi. Und ich glaube, erst dann bin ich wieder ganz

— und ganz Dein.

27.XII.[18]

Liebes Gritli, von Rudi bekam ich eben einen langen Brief von Hedi an ihn (und gleichzeitig auch zur Weitergabe an mich und Hans!), worin sie – 18 Seiten lang – ihm wegen seines “Mystizismus” die Leviten, oder muss man hier wohl sagen: die Monisten liest und alle drei Zeilen einmal ein “Max ist gross” einstreut. Es ist schade, wie absichtlich und krampfhaft sie geworden ist. Auf dem Grunde ihrer Ehe liegt ein schlechtes Gewissen. Wenn sie wirklich an ihren Mann glaubte, würde sie es nicht fortwährend ausrufen. Dabei könnte sie so ruhig sich auf ihn zurückziehn und Bruder Bruder sein lassen. Das würde der Bruder viel mehr respektieren als diese Baalstänze vor dem in Wahrheit doch ganz bescheidenen und sich dieser Aufplusterung zum Gott gar nicht recht fügenden Maxbild. Rudi hat ihr mit einem ca 12 zeiligen Gedicht an – den lieben Gott geantwortet, wo er diesen bittet, ihr Herz aus der Erstarrung zu lösen. Darüber wird sie sich nun schön ärgern, denn auf all die z.T. gar nicht dummen politischen Einzelheiten ihres Briefmonstrums kriegt sie nun gar keine Antwort. Auch Hans soll sie geschrieben haben, Hans behauptet: noch gröber. – Ich bin schon wieder etwas im Tempo. Vielleicht wird das Ganze doch veröffentlichbar. Heute musste ich es so denken. Über das Untheologische in III bin ich noch immer dunkel. Ein ziemlich langes Stück über Völker kommt schon zu Anfang von III 1 Volksland, Volkssprache, Volkssitte, Volksgesetz. Aber das nimmt ja wohl kaum etwas vorweg von dem andern.

Auch den 2ten Satz der 109 habe ich nun wieder gehört-

Dass du nicht mehr da bist, wird am sichtbarsten an den Bücherhaufen, die zu wahren Türmen ansteigen unten im Zimmer: niemand trägt sie weg! Was soll das noch werden?

? — Dein Franz.

28.XII.[18]

Liebes Gritli, heut früh kam das ganze Säckinger Weihnachten, dein Brief, der sechsstrahlige Stern, das Bild, und die Karte von den Zwillingen. Ich habe dafür fleissig an III 1 geschrieben, einen langen Auftakt; morgen kommt nun wieder der Stern hinein: seit heute steht die Disposition fest; wie lang die Bücher werden weiss ich noch nicht; doch, hoffentlich nicht länger wie die Einleitung. – Mit Rudi telefonierte ich gestern noch über Hedis Brief, und an O.Viktor schrieb ich einen Brief wegen Eugen und behob den einen Punkt, den er missverstanden hatte (mit der Wissensch. Ehrlichkeit, die Eugen verböte, ein “gutes” Buch zu schreiben).

Es war also wirklich so wie ich es am 25ten spürte; es war wirklich als ob wir uns im gleichen Zimmer freuten – nein mehr als im gleichen Zimmer, es war wirklich Herz an Herz. Sieh aber, es war doch gut, dass ich lieber ein paar Tage später nach Kassel kam und vorher dein Milieu und den Fels u.s.w. besuchte; es ist nun wirklich so: ich kann dich jeden Augenblick sehn, ich habe auf deinem Stuhl gesessen und in deinem Zimmer geschmökert und aus deinem Fenster gekuckt. Ich habe beinahe keine Sehnsucht nach dir, so sehr sehe ich dich, und was geht über das Sehen!

Mit Beckerath ist es weiter gut. Übermorgen abend kommt Rudi auf eine Nacht, um nach Leipzig zu fahren. Über den Predigtamtskandidaten habe ich mich gefreut oder vielmehr über den Gott der Juden, der ihn zur Strafe für sein Schimpfen gleich das Vaterunser vergessen liess.

Wir machen jetzt viel Musik; gestern Abend war Hanna da. Hans war wohl alle Tage da. Aber er ist Beckerath etwas unheimlich. Aber nun ein Kuriosum: Mutter hat Hedis Brief bei Ehrenbergs vorgelesen, und heut Nachmittag rückt Putzi an mit einem Brief an Hedi, und gar nicht übel, wenigstens die ersten Seiten. Hans schreibt ihr auch; kurzum wenn sie, wie ich vermute, nur etwas Unterhaltung auf ihrem Krankenbett haben will, so hat sie welche. Allerdings Rudis Brief wird sie als eine Ohrfeige empfinden, eine etwas sonderbare Wirkung für ein Gebet.

Ich denke, die Aussicht mit Beckerath zusammenzufahren, wird Rudi noch einen Tag hierhalten. Ich bin schon froh, dass Beckerath zu Sylvester hier bleibt und Mutter über den Abend weghilft. Mutter mag ihn ja sehr, empfindet ihn auch ein klein bischen als Bundesgenossen; er hat auch über Hedis Brief eigentlich sehr freundlich geurteilt, während Rudi ihn nur “unglaublich” fand und schrieb: sie gründe von ihrem Krankenlager ihre deutsche Republik und wir seien “am dransten”. Aber ich erzähle dir mehr davon als es wert ist. Quisque patimur suos manes – jeder hat seine eignen Pazifisten in der Familie, ihr ja auch; es ist ein wilde Sekte.

Es ist mir so egal, was ich dir schreibe. Es ist doch beinahe nur, als ob ich bei dir sässe oder du bei mir – ich sehe doch immer nur deine Augen. Das Bild ist mir lieber als neue Bilder; auf den ersten Blick bist du es ja gar nicht, aber dann guckt man hinein und plötzlich fängst du an, daraus zu sprechen, gar nicht wie aus einem Bild, sondern ganz leibhaftig; das kann bei einem neuen Bild nie sein; da sieht man alles gleich beim ersten Blick und deshalb tut es seinen Mund dann überhaupt nicht erst noch auf, es fühlt sich schon gleich so durch und durch gesehen.

Liebes Gritli, sprich und sieh und

– hab mich lieb

Dein Franz.

29.XII.[18]

Liebes Gritli, es wird ein schönes Stück, und während ich es schreibe, geht es mir genau wie ich es dir vorhersagte: ich begreife gar nicht, wie ich III 2 schreiben können werde. Umgekehrt wird es mir freilich bei III 2 nicht gehen; das ist nun schon dadurch sicher, dass ich als Eckzitate dafür die Maimonidesstelle von den “Wegen” nehmen werde, die ich dir zeigte, und vielleicht auch die Kusaristelle, die ich dir auch zeigen wollte (vom Samen – Baum – und Frucht). An die Liturgie komme ich erst morgen. Bisher ein langes Stück über das Volk und über Völker überhaupt (Land, Sprache, Sitte, Gesetz) und ein kürzeres, das erst morgen vor dem Frühstück fertig wird über Gott Welt Mensch je auf jüdisch. III 2 wird natürlich genaue Parallele dazu, nur natürlich nicht über Volk u.s.w., sondern über die Εκκλησια und über εκκλησιαι überhaupt (oder über die Contio der Missa und über contiones überhaupt).

Ich bin nun sehr darin. Ich habe mir noch Kluges etymolog. Wörterbuch geschenkt, ich hatte es in guter Erinnerung von der Bibliothek, wenn auch nicht sehr genauer. Hoffentlich ist Eugen einverstanden. Ausserdem die kleine Mandelkernsche Konkordanz. – Seit gestern lesen wir in Cohens Ethik und Ästhetik und finden eine Herrlichkeit nach der andern. Er ist doch seit Schopenhauer und Nietzsche der erste, und mir steht er so nah, oder vielmehr ich ihm, das ich ihn jetzt kaum lesen kann. Aber im Februar, wenn ich fertig bin, lese ich ihn und werde dann dabei am besten sehen, was ich noch vergessen habe und sonst ändern muss. Von mir selber aus würde ich die nötigen Verbesserungen doch nicht machen, weil ich vor meinem Geschriebenen immer zu viel Respekt habe. Was für ein Mensch! Ich wundre mich immer wieder, dass ich noch zu ihm gekommen bin, wirklich doch in zwölfter Stunde. Und zu ihm gekommen, als ich schon von mir aus reif für ihn war, nicht mehr als Schüler und Umzuschweissender. Das Leben (um nichts Deutlicheres zu sagen) ist gut. Und ich

bin Dein.

30.XII.[18]

Liebes Gritli,

es ist wohl immer besser, sich nichts “verbieten” zu lassen, wenigstens nichts aus guten Absichten, denn es kommt doch immer verkehrt: gestern kam gar kein Brief und heute der an Mutter und der an mich mit der gleichen Post. Mutter ist ja übrigens fast unberechenbar. Solange Beckerath da ist, ist sie nett, (und abends orakelt sie mir über ihn, meistens Nonsense), sie empfindet ihn als ihre Partei gegen uns tyrannos; ich habe sie gestern Abend mal geärgert und ihr gesagt, er wäre unproduktiv und sähe daher immer nur was er sähe, nicht die Teile der Welt, die noch im Dunkeln liegen; so ist er ja abhängiger als wir andern von der Stoffzufuhr.

Heut nachmittag ist zum ersten Mal wieder seit 1913 der Klassentag auf dem Herkules, und abends kommt Rudi. So schreibe ich dir vormittags und lasse III 1; es geht jetzt unmittlebar in den Hauptteil, die Liturgie, hinein.

Inzwischen habt ihr ja Onkel Viktors grossen und schönen Brief über Eugen. Es ist doch ganz selbstverständlich, dass du im Februar nach Leipzig mitgehst. Viel eher könnt ihr dann im März nochmal nach Säckingen zurück, und braucht ja im Februar noch nicht das Giebelzimmer auszuräumen. Ich will nun doch wirklich sehen, das ich Mitte Januar von hier fortkomme. Gehe ich nicht nach Berlin, so wird mindestens I 1 und I 2 bis dahin fertig. Und ich möchte so gern einmal in Säckingen sein, wenn du da bist, ich meine: noch wirklich da, mit dem eigenen Zimmer.

Denk, ich habe dich eigentlich um die lange volle Bank mit Eltern und Geschwistern am Weihnachtsmorgen nur beneidet. Das ist doch viel mehr als was ein Pfarramtskandidat sagt, ja selbst mehr als was Eltern und Geschwister etwa sagen können – eine ganze Bank voll! Kennst du den Schluss der Kellerschen Legende von der Jungfrau als Nonne? Die Massenhaftigkeit imponiert mir immer.

Das “Bald, in unsern Tagen” – ja wir werden es ja wohl irgendwie gleichzeitig erleben; ich habe auch noch nie ein Jahr mit so tiefer, so jahrelang angewachsener Erwartung begonnen wie jetzt dieses “Jahr nach dem Kriege” 1919. Und es ist echte Erwartung – ich weiss nichts, gar nichts. Es fällt mir ein, dass so ja auch die Marschallin bei Hofmannsthal = Strauss spricht.

Es ist nicht bloss das Natürliche, nach dem Erwerbsinteresse zu gehn; es ist auch das Beste. Ich kann Picht gar nicht bemitleiden deswegen, wenn ich ihm auch mehr das Kultusministerium wünsche als die Industrie. Aber ich will doch auch nichts andres. Erwerb oder Litterat – es giebt kein drittes. Wobei ich den Erwerbslitteraten, den Journalisten, durchaus noch auf die gute Seite, zum “Erwerb”, stelle.

An Kähler denke ich auch nicht gern. Von Hans ein langer pädagogischer Brief an Hedi, der an mir und Rudi vorbeigeleitet wird. Ich werde aber nicht mitschreiben. Ich wünsche, dass sie mal mit den Kindern Mutter auf ein paar Wochen besucht. Und das Briefschreiben muss ja doch zuletzt auf Grobheiten herauskommen. Der entscheidende Punkt bleibt ja doch ihr mangelndes Gefühl für die Taktlosigkeit, als Frau eines ohne Not bloss aus Bequemlichkeit im Krieg zum Massenmörder grossen Styls gewordenen “Pazifisten” nicht den Mund zu halten. Wenn Max seiner Dienstpflicht genügt hätte, als Landsturmmann oder so, dann dürften sie sprechen. Und grade diesen entscheidenden Punkt darf man ihr nicht sagen.

Vor dem Klassenzusammensein ist mir etwas bange. Gefallen sind von den Abiturienten von 1905 nur 4, also der vierte Teil. Nur einer stand mir nah.

Habt ihr die englische Nachricht gelesen: der Papst habe eine Sondermission an Wilson nach London geschickt, um “seine Neutralität” zu rechtfertigen.!! Wenn es wahr ist, so geht es noch über Eugen hinaus. – Den Ostermontagsbrief an den Lieben Büchermann habe ich heute in einer alten Rocktasche wiedergefunden. Ich schicke ihn euch zurück, wenn ich ihn nochmal gelesen habe.

Diesen Brief kriegt ihr schon 1919! – Euer.